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- 01.09.2005
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Waidmanns Unheil
Das dunkle Farbenspiel des Herbstes würde bald in die gnadenlose Tristesse des Winters übergehen. Viele der Bäume trugen kaum noch Blätter. Der Waldboden war in die unterschiedlichen Rot- und Brauntöne des gefallenen Laubes getaucht.
Um diese Jahreszeit bestand die Aufgabe der Jäger darin, mit Futter genau die Tiere durch die kalten Monate zu bringen, die sie im Frühjahr und Sommer schießen würden. Ein zynischer Auftrag. Dirk fühlte sich dabei wie ein Wärter im Todestrakt, der Henkersmahlzeiten verteilte. Während er lustlos zwischen den Bäumen umherschlurfte und die Krippen füllte, beobachtete er ein Eichhörnchen. Manfred grinste und legte dem so viel jüngeren Waidmann eine Hand auf die Schulter.
„Jucken die Finger, Kleiner?“
„Huh?“, fragte Dirk erschrocken.
„Die Finger. Ob sie jucken. Du hast Lust auf ’ne kleine Schießübung, oder? Ist schon ’n Jammer, dass der eigentliche Spaß vielleicht zwanzig Prozent dieses Ber . . . dieser Berufung ausmacht, was?“
Schuldbewusst fixierte Dirk die Spitzen seiner jagdgrünen Gummistiefel. Schließlich gab er die Antwort, die er sich für Freunde und seine linksliberale Tante Ruth aus Berlin zurecht gelegt hatte. Leute, die immer mal wieder gerne unterstellten, er sei nur wegen der Knallerei zu diesem für einen so jungen Mann doch recht ungewöhnlichen Hobby gekommen. Tante Ruth hatte gar auf der Silberhochzeithochzeit seiner Eltern, zu fortgeschrittener Stunde und bei entsprechendem Alkoholpegel, die unverschämte Vermutung aufgestellt, Dirks Liebe zur Jagd und speziell zu seinem Gewehr könnten vielleicht nicht rein platonischer Natur sein.
„Ich töte nicht gerne. Aber Sterben ist ein Teil des Lebens, der Natur, und der greife ich als Jäger lediglich unter die Arme, damit das Gleichgewicht . . . “
„Ja, eigentlich sind wir alle aus Liebe dabei. Kleiner, ich bin achtundsechzig. Knapp dreimal so alt wie du. Dem untreuen Miststück, dass ich geheiratet habe, steht jeden Morgen die Enttäuschung ins Gesicht geschrieben, wenn ich die Augen doch noch mal aufmache. Und meine Bauchschmerzen sagen mir, dass die Chemotherapie höchstwahrscheinlich nicht halb so erfolgreich gewesen ist, wie die Quacksalber mir weismachen wollen. Meine Uhr tickt, Junge. Ich habe Ehrlichkeit verdient.“
Dirk schluckte und spürte das Blut heiß in seinen Kopf schießen. Er sah Manfred an, der ihn anlächelte, als habe er gerade vorgeschlagen, dass sie sich nach der Arbeit noch irgendwo auf einen Kaffee reinsetzen könnten.
„Dir juckt der Finger. Wer einmal über Leben und Tod entschieden hat, der dreht entweder durch oder er wird süchtig nach dem Gefühl. Da gibt’s keine goldene Mitte. Hab’ ich als Kind in den Gesichtern der Soldaten gesehen. Du willst den kleinen Nager da runterholen, oder?“ Manfred zeigte in die fast kahlen Baumkronen.
„Ich . . . “ Dirk biss sich auf die Unterlippe. „Das Schießen macht mir halt Spaß. Es geht nicht um das . . . “
„Warum gehst du dann nicht in einen Verein und schießt auf diese Scheiben mit den bunten Ringen?“
Mit der Zungenspitze fuhr Dirk seine Zahnreihen ab und starrte geradeaus, wie er es in der Schule gemacht hatte, wenn der Lehrer ihn fragte, warum er seine Hausaufgaben nicht gemacht hatte. Und wie damals verriet sein zu langes Schweigen, dass er um eine glaubwürdige Antwort verlegen war. Manfred erbarmte sich und ließ von seinem Protegé ab. Der trotz seines Alters und des Krebses rüstige alte Mann schnallte sein Gewehr von der Schulter und legte auf das Eichhörnchen an. Das Tier schien etwas lethargisch für ein Exemplar seiner Art. Statt mit den Eichhörnchen eigenen, zackigen Bewegungen umherzuflitzen, wuchtete es sich gemütlich und für die Jahreszeit ungewöhnlich fett auf einem dicken Ast voran.
„W . . . Was machst du?“, fragte Dirk. Er fühlte, dass der Zug des öden aber sicheren Alltags kurz davor stand, zu entgleisen. Sein Magen schien zwischen Blase und Kehlkopf auf und ab zu hüpfen.
„Na ja, altersgemäß steht mir der Vortritt zu, aber . . . bitte. Dein Schuss, Kleiner.“
Dirk schüttelte den Kopf: „Aber das geht nicht!“
„Wieso?“
„Es . . . Es ist Schonzeit. Jemand wird den Schuss hören. Dafür kann man seine Lizenz verlieren.“
Manfred spuckte aus und grinste wieder. „Kleiner, du hast deine Lizenz von einem Komitee, das aus einem Schwager, zwei Kegelbrüdern und einem alten Schulfreund von mir besteht.“ Er stemmte den Kolben des Gewehres in seine Hüfte. „Jemand hört den Schuss, ja und? Ein paar Halbstarke haben halt von irgendwoher eine Pistole, oder ein Gewehr. Weißt du, wie oft das schon vorgekommen ist? Bei dieser missratenen Generation? Wenn ich heutzutage im Bus Blagen anscheiße, weil sie sich prügeln, muss ich doch anschließend beten, dass keins davon eine Vollautomatik aus dem Tornister zieht.“
Dirk beobachtete das Eichhörnchen und stellte sich vor, wie es durch die Zielvorrichtung seines Gewehres aussehen würde. Ein harter Winter streckte bereits seine noch unsichtbaren Eiskrallen nach dem kleinen Kerl aus. Im Grunde würde man ihm sogar einen Gefallen tun.
„Ich weiß nicht . . . “
Manfred pustete stoßartig, so als hätte er einen Tritt in den Bauch bekommen, und verdrehte dabei genervt die Augen. „Kleiner, hast du jetzt Lust zu schießen, ja oder nein? Und jetzt sag’ nicht nein, denn ich habe. . . “
„O.k.“, flüsterte Dirk mit hauchzarter Stimme und legte mit seinem Gewehr auf das Eichhörnchen an.
„ . . . mich noch nie in einem Menschen getäuscht“, beendete Manfred hörbar zufrieden seinen Satz.
Dirk atmete leise und flach. Die Waffe in seinen Händen und der Finger am Abzug. Das nichtsahnende Tier glotzte blöde in die Gegend, unwissend, dass es nur einen Sekundenbruchteil vom Nichtmehrsein entfernt war. Dirk spürte die Macht, die das Gewehr ihm verlieh, wohltuend zwischen seinen Fingern und an seiner Schulter vibrieren. Er schämte sich einen Augenblick, weil er daran erinnert wurde, dass Tante Ruth richtiger gelegen hatte, als er jemals zugeben würde. Dann krümmte sich sein Abzugsfinger.
Die Vögel, die es noch nicht in den Süden geschafft hatten, fuhren keifend gen Himmel. Das Eichhörnchen drehte sich blitzartig um hundertachtzig Grad, dann fiel es vom Baum.
„Scheiße“, raunte Manfred.
„Was? Was ist?“ fragte Dirk und klang dabei wie jemand, den man gerade mit einem Gong aus dem Tiefschlaf geholt hatte.
„Es ist nicht tot. Du hast es nur angeschossen.“
„Was? Quatsch! Ich hab’ es voll . . . “
„Hey“, murmelte Manfred mit der Autorität dessen, der die Stimme nicht zu heben braucht, damit man ihm zuhört. Mit dem Zeigefinger stieß er leicht gegen Dirks Brust. „Dreimal, Kleiner. Dreimal so alt, vergiss das nicht. Schon mal was von Lebenserfahrung gehört? Ich sage, das Vieh lebt noch. Los, komm mit.“
Morsche Äste ächzten und brachen unter ihren Füßen. Schon bevor sie die eigentliche Stelle erreichten, sah Dirk, dass Manfred recht gehabt hatte. Kein Eichhörnchen lag zu den Wurzeln der gewaltigen Eiche. Dafür bildeten feine Blutstropfen eine Spur, auf der man den Leidensweg des kleinen Geschöpfes nachschreiten konnte.
„Na dann mal hinterher“, sagte Manfred.
„Oh, komm schon“, stöhnte Dirk. „Es ist verwundet. Da freut sich irgendein Fuchs über leichte Beute. Ich wollte in einer Stunde zu Hause . . . “
„Das ist egal. Wir müssen es finden. Falls die Kugel noch drin steckt. Wir wollen ja nicht, dass einer der Korinthenkacker unter den werten Kollegen uns blöde Fragen stellt.“
„Aber du hast doch gesagt, von wegen dein Schwager und so . . . “
„Ja, das hab’ ich gesagt, und das hab ich auch gemeint, aber man muss es ja auch nicht herausfordern, oder? Außerdem geht es hier in erster Linie um dich, mir“, Manfred wendete den Blick von Dirk ab und starrte nachdenklich ins Leere, „kann das ja sowieso bald alles egal sein.“ Plötzlich lachte Manfred. „Glaub’ mir, Kleiner, die Beseitigung der Beweise liegt voll in deinem Interesse. Außerdem, sieh dir das viele Blut an. Wie weit kann die kleine Ratte schon sein?“
Weit. Soviel war ihnen beiden nach ungefähr einer Stunde Verfolgung klar. Dirk war mittlerweile zu dem Schluss gekommen, dass das Blut selbst dann zuviel gewesen wäre, wenn das Tier aus nichts anderem bestanden hätte. Über ihnen boxte die Herbstsonne gegen die einbrechende Dunkelheit, deren Sieg durch K.O. unmittelbar bevorstand.
Verunsichert stellte Dirk fest, dass er trotz seiner zweijährigen Erfahrung als Jäger ohne die Blutspur Schwierigkeiten haben würde, alleine aus diesem Teil des Waldes zurückzufinden.
Manfred blieb stehen. Um den Abbruch ihrer Mission zu verkünden, wie Dirk hoffte. Stattdessen bekam er etwas zu hören, dass über das Potential verfügte, seine Verunsicherung in Panik zu verwandeln. Hex Hex.
„Scheiße, ist das ein zähes Miststück.“ Manfred atmete schwer durch den weit geöffneten Mund. Er drehte sich einmal um sich selbst und sah dabei in die kahlen Baumkronen. „Über vierzig Jahre bin ich diesen Wäldern unterwegs. Aber ich glaube, hier war ich noch nie.“
Dirk schluckte. „Dann lass uns umdrehen. Pfeif auf das Eichhörnchen. Wenn du als Dienstältester noch nie hier gewesen bist, wie soll einer von den anderen die Ecke hier kennen und das Vieh finden?“
„Indem er der Spur folgt?“ Manfreds Lippen verzogen sich zu einem spöttischen Schmunzeln. Wieder fühlte Dirk sich auf unangenehme Weise an seine Schulzeit erinnert. Manfred ging weiter.
Dirk blieb stehen und dachte für einen Moment über die Möglichkeit nach, alleine zurückzugehen und dem alten Mann zu sagen, er könne ihn mal er wisse schon wo.
Ein hohes Quieken unterbrach ihn in seinen Gedanken. Dirk fuhr herum und sah eine Ratte, die von einer Art rosa Gummiband, dass sich um ihren Hals gewickelt hatte, langsam aber stetig in einen stillen Bach gezerrt wurde. Als die Krallen des schreienden Nagers das Wasser berührten, schnellte etwas Grünes daraus hervor, schloss sich um den Nager und verschwand wieder unter der Oberfläche.
Dirk stand mit offenem Mund da und hatte für einen Moment alles vergessen, Manfred, das Eichhörnchen, seine Lizenz, alles. Das Drama hatte sich in einiger Entfernung abgespielt, und auch die Dämmerung hatte das Geschehen wahrscheinlich zusätzlich verfremdet. Dennoch war Dirk davon überzeugt, gerade einen Frosch gesehen zu haben, der groß genug war, um eine ausgewachsene Wasserratte zu fressen.
Plötzlich wollte er nur noch zurück in Manfreds Nähe und lief ihm hinterher, ständig über seine eigenen Füße stolpernd.
„M . . . Manfred!“, rief er, doch der drehte sich nicht um.
Jetzt erst merkte Dirk, wie fremdartig der Abschnitt des Waldes, in den es sie verschlagen hatte, wirklich war. Nicht nur, dass einige der Bäume noch einen Großteil ihrer Blätter trugen, einige waren zudem auch noch grün . . . eine Woche vor dem kalendarischen Winterbeginn.
An einer Birke krabbelte ein handtellergroßer Käfer empor. Als Dirk kurz stehen blieb, um ihn sich genauer anzusehen, hielt das Insekt inne, und es schien sich umzudrehen und zurückzustarren, und entsetzt realisierte Dirk, dass es wirklich Augen waren, die ihn ansahen. Keine toten Insektenaugen, sondern solche, hinter denen man die Seele erahnen konnte, genau wie bei einem Menschen oder auch einem Hund. Fast erwartete er, jeden Moment etwas zu hören wie ‚Ist irgendwas?’
Er lief weiter. Die ständigen Stopps, die ihm seine Neugier im Angesicht der unheimlichen Wunder dieser befremdlichen Umgebung aufbürdete, entfernten ihn immer weiter von dem älteren Jäger. „Manfred! Manfred!“
In einem Netz hatte sich eine Maus verfangen, und als ein Erzittern der Fäden den Netzbesitzer ankündigte, da war es keine Spinne, sondern eine Katze mit sechs Beinen. Sie erbrach ein weißes Sekret über ihr Opfer, und während die Maus noch lebend und quiekend in der offenbar ätzenden Flüssigkeit aufgelöst wurde, begann die Katze schon damit, den bereits verflüssigten Teil aufzuschlecken. Wenn man dabei nur den Kopf betrachtete, unterschied sich das Bild nicht im geringsten von jedem x-beliebigen Stubenkater, der sich genussvoll über vergossene Milch hermachte.
Ein pechschwarzer Schmetterling legte sich wie ein Mantel um eine Krähe. Der Vogel stürzte zu Boden, und was sich dann da auf der Erde wälzte war ein dunkles, pulsierendes Ei, aus dem man die Geräusche knackender, kleiner Knochen hören konnte, gefolgt von einem sabbernden Schlürfen.
„Manfred!“ Dirk lief, ohne nach vorne zu schauen. Als er Manfred schließlich eingeholt hatte, hätte er ihn fast umgerannt. Der alte Mann stand vor einer gigantischen Birke und atmete ruhig, als würde er meditieren. Dirk ließ seinen Blick an dem Baum empor wandern. Er fühlte sich an eine Dokumentation über den Regenwald und seine Mammutbäume erinnert.
„Manfred, wir . . . weißt du noch, wo wir sind, wir . . . alles hier ist . . . krank . . . “
„Ja, ich weiß“, sagte Manfred und würdigte Dirk dabei keines Blickes.
Der junge Jäger spürte, wie Zorn seine Furcht zu überwältigen drohte, und stellte fest, dass es sich dabei um ein überaus angenehmes Gefühl handelte.
„Du hast es auch gemerkt? Ja, und warum zum Teufel sind wir denn dann nicht schon längst umgedreht, du blöder alter Sack?“
Dirks Zorn verpuffte. Der letzte Teil seines Satzes hatte dieselbe Wirkung gehabt wie eine Explosion, die über einem Brandherd ausgelöst wird, um dem Feuer Sauerstoff zu entziehen. Er entschuldigte sich kleinlaut, was Manfred ebenso wenig wahrzunehmen schien wie den vorangegangenen Ausbruch.
„Es ist hinter dem Baum, und es ist noch nicht tot. Du musst es zu Ende bringen. Ich . . . Kann das nicht.“
Dirk umklammerte sein Gewehr so fest, dass seine Fingerkuppen schmerzten, und folgte der dünnen Blutspur um den Baum herum. Das groteske Bild, dass sich ihm auf der anderen Seite bot, provozierte ihn zu einem leisen, verunsicherten Lachen.
Das Eichhörnchen lehnte an dem Baum wie ein Soldat in einem Kriegsfilm. Mit seinen zu langen Ärmchen hielt es sich eine Stelle in der Flanke, aus der Blut zwischen kleinen Krallen emporquoll. ‚Sagt meiner Frau, dass ich sie liebe und das ich es für mein Land getan habe’, hörte Dirk das Eichhörnchen in seinem Kopf röcheln. Wieder entfuhr ihm das kränkliche, zaghafte Lachen, dass ihm dann aber verging, als das verwundete Tier tatsächlich begann, Laute von sich zu geben.
„Au“, ein Schluchzen, „Au . . . Aua.“ Wieder schluchzen.
„Was?“ Dirk sank auf die Knie. Die Welt begann sich zu vervielfachen, als Tränen in seine Augen schossen und jemand eine Faust in seinem Hals zu ballen schien.
„Aua“, ein Schniefen, „Au.“ Der Atem des Eichhörnchens ging immer schneller. Hin und wieder wurden die Luftstöße von dem grässlichen Klagelaut unterbrochen, der mit der Stimme eines kleinen Kindes gewimmert wurde.
„Au“, Atmen, „Au“, Atmen, „Aua . . .“
„Hör endlich auf!“, schrie Dirk, ließ sein Gewehr fallen und presste seine Handflächen gegen seine Ohren, so fest, dass es aussah, als würde er versuchen, seinen eigenen Schädel zu zerquetschen.
Das Atmen verstummte abrupt. Die Augen des Tieres standen noch offen, aber sie waren leer und starrten gleichgültig in die Unendlichkeit. Nur den Bruchteil einer Sekunde später ertönte ein Fauchen wie das eines Pumas, und es lieferte sich sogleich ein Akustik-Duell mit den Schreien und rauen Flüchen Manfreds.
„Scheiße, Kleiner! Scheiße, Kleiner, hilf mir, Mann!“
Dirk lief um den Baum herum, und das Erste, was er sah, war Manfred, der sich am Boden wälzte und auf sein eigenes Bein einschlug. Sein Gewehr hatte er offenbar nicht mehr rechtzeitig abschnallen können.
In Manfreds Unterschenkel hatte sich ein Eichhörnchen festgebissen, das, auf die Hinterläufe gestellt, ihm ungefähr bis zum Knie gereicht hätte, wie Dirk ohne große Verwunderung feststellte – Nichts würde ihn in diesem Wald mehr überraschen. Er wollte nur nach Hause. Das letzte Tageslicht lag im Sterben.
„Scheiße, Kleiner! Knall es ab, worauf wartest du? Knall es ab!“
Dirk legte an und schoss, ohne zu überlegen. Oder zu zielen. Der Knall und sein Echo übertönten das Geräusch, das Manfreds Kniescheibe machte, als die Kugel sie in Stücke sprengte. Manfred schrie jetzt lauter und höher. Das Eichhörnchen ließ von ihm ab und verschwand im Gebüsch. Dirk kniete sich neben Manfred.
„E . . . Es tut mir leid! Ich . . . hole Hilfe!“
Manfred griff nach Dirks Arm und zog ihn so nah heran, dass der Nachwuchsjäger die Angst des alten Mannes riechen konnte.
„Du kannst mich nicht hierlassen, du kleines Arschloch! Bist du bekloppt?“
Dirk zog Manfred in eine aufrecht sitzende Position, wobei der Verwundete einen entsetzlichen Schrei ausstieß. Er riss ihm das Gewehr vom Rücken und drückte es ihm in die Hand. Manfred sah es an, als wäre es die erste Waffe, die er je gehalten hatte.
„Falls die Mutter wiederkommt. Du bist einer der besten Schützen im Verein, du schaffst das! Ich hole einen Krankenwagen.“
„Hast du keins von diesen verdammten Minitelefonen, wie andere junge Leute auch?“
„Ich habe vor ungefähr einer halben Stunde mal auf die Uhr in meinem Handy gesehen. Ich kriege hier kein Netz.“
„Was?“
„Es funktioniert nicht. Und jetzt lass mich los, ich hole einen Krankenwagen.“
Manfred ließ von Dirks Jacke ab und sah ihm tief in die Augen.
„Junge?“
„Was ist?“
„Was ist, wenn es nur der große Bruder war? Was mach ich dann?“
Dirk lief los, ohne zu antworten. Er lief gebeugt, das Gesicht nah am Boden, um die Blutspur des Eichhörnchens in der Dunkelheit sehen zu können. In der Finsternis waren die Flecken nicht länger rot, sondern schwarz.
Der Schrei einer Eule, oder zumindest etwas, das dem sehr nahe kam, ertönte über ihm in den Baumwipfeln. Dann hörte er das Flattern von Bettwäsche im Wind, und bei genauerem Horchen wurde ihm klar, dass es sich bei dem Geräusch um den Flügelschlag riesiger Schwingen handelte. Er warf sich zu Boden und urinierte warm in seine Playboy-Unterhose, als er einen kurzen, kräftigen Luftzug in seinem Rücken spürte. Es war ein Gefühl, als würde man auf einer Autobahn stehen, wo die vorbeirasenden Autos einen nur knapp verfehlten.
Der Flügelschlag entfernte sich, wurde leiser und verstummte kurz. Erneut erklang der grässliche Schrei, diesmal in einiger Entfernung. Dann wurde das Schlagen der Schwingen wieder lauter. Fieberhaft zielte Dirk mit seinem Gewehr in die Richtung, aus der das entsetzliche Flügelschlagen kam. Es war das Schrecklichste, was er je in seinem Leben gehört hatte. Er schloss die Augen, so wie er sie als Kind bei besonders schlimmen Stellen in Horrorfilmen immer geschlossen hatte. Er schrie, und sein Schreien übertönte in seinem Kopf das Gewehr, als er schoss, durchlud, schoss, durchlud, schoss, und durchlud.
Plötzlich war es still. Dirk hörte auf zu schreien und gab einen albern klingenden Seufzer der Erleichterung von sich, mit dem ihm auch noch ein dünner Strahl Urins abging, den seine Blase offenbar bei der ersten Spontanentleerung übersehen hatte.
Er kam auf die Beine und lief los, diesmal noch gebückter als zuvor, und sein Blick war nicht einmal mehr auf die Blutspur am Boden geheftet. Seine volle Konzentration galt jetzt den Bäumen, und er stoppte seine hastige Flucht nicht für den Bruchteil einer Sekunde, als er in weiter Entfernung erst einen Schuss und dann Manfreds Kreischen hörte. Ein hohes, weibisches Kreischen, wie das eines kleinen Mädchens, das gewahr wird, dass es sich in einer Höhle verlaufen hat und alleine in der Dunkelheit verhungern muss, während Kondenswasser gleichgültig das Jahrtausende alte Gestein herabtropft.
„Im Krieg und in der Liebe ist sich jeder selbst der Nächste“, wimmerte Dirk mit zitternden Lippen, ohne dass sein Verstand die Bedeutung der Worte erfasst hätte, die seine Stimmbänder produzierten. In seinem Hirn hatte etwas die Kontrolle übernommen, das älter, einfacher und mächtiger war als Worte.
Dirk stolperte und fiel zu schnell und überrascht, als dass er den Sturz noch hätte abbremsen können. Sein Nasenbein brach an einer Baumwurzel, und er schmeckte Tränen und Blut in seinem Mund zu einem abartigen Sud zusammenlaufen. Mit dem Jackenärmel trocknete er seine brennenden Augen.
Als er wieder sehen konnte, nahm er überhaupt nicht wahr, dass er die Blutspur des Eichhörnchens verloren hatte. Das Objekt, das ihn zu Fall gebracht hatte, hatte endgültig alles Denken aus seinem Kopf verbannt. Er tastete ungläubig danach und streichelte die glatte Oberfläche. Eine Mischung aus Kichern und Schluchzen verzerrte sein Gesicht zu einer lächerlichen Fratze, ein Anblick, wie man ihn hinter den gesicherten Türen einer geschlossenen Abteilung vermuten würde.
Er war über eine Eichel von der Größe eines Autoreifens gestolpert.