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Waldrand
In Ordnung kürzte Mutter mit „iO“ ab, ohne Punkt nach i und O. An vielen Abenden trug Mutter iO in den Familienplaner ein. Ein Familienplaner aus fünf langen Spalten, ganz links – unter einer Zwiebel – Johannes, ihr Sohn, Mitte links – unter einem Kürbis – die Mutter. Die anderen Spalten blieben leer.
Mutter hatte eine merkwürdige Schrift. Ihre Form änderte sich tageweise. Manchmal sparte sie an Größe, als sei Kalenderpapier ein flaches, weißes Gold, sie schrieb millimeterfein. Dann wechselte die Schrift zu großen, bauschigen Formen und die Tagesgrenzen schnitten Haarlinien durch das iO. Im August füllte der Junge leere Tage aus; am Monatsende rief sie begeistert, wie gut die Therapie und die Medizin wirken, hüpfte durch die Wohnung, schrie und lud ihren Sohn zu irgendeiner Mutter-Sohn-Aktivität ein, die man halt so machte und meist ging es zu McDonalds, ins Spielzeuggeschäft oder in den Zoo am anderen Ende der Stadt.
Im September begann Mutter, Selbstgespräche zu führen. Sie stand auf dem Balkon, erste Etage, schaute abwechselnd zur Sonne, zum Waldrand und in den Gemeinschaftsgarten und redete. Eine Vogeltränke lag seit Monaten trocken; der Sommer dehnte sich weit in den September aus und Mutter fügte dem Spätsommer ein „Äußerst-Spät-Sommer“ hinzu, manchmal, wenn ihre Gespräche von dem handelten, was sie sah.
Mitte September fragte der Nachbar, ob alles in Ordnung sei. Ein dicker Mann. Er stand im Türrahmen, ein bisschen besorgt und verängstigt. Vielleicht fürchtete er Konsequenzen, warum auch immer. Aber der Junge führte ihn an den Familienplaner der zwanzig Schriften Mutters und sagte, alles in Ordnung, Mutter gehe es gut. Das beruhigte ihn: Die iOs in einer Spalte, aufgezogen als lange Kette von Monatsanfang zu Monatsende. Er freue sich, dass es ihnen gut gehe, sagte er. Der Junge lächelte. Es war wie in der ersten Klasse, die Lehrerin Frau Schmidt teilte einen Bogen Linienpapier aus und man schrieb ein i nach dem anderen, ein O nach dem anderen, jedes O las er als O, aber keines glich dem anderen.
Der Junge schrieb die nächsten Tage iO in den Kalender, denn Mutter stand auf dem Balkon und redete. Oder sie setzte sich an den Küchentisch und erzählte.
An einem Dienstagmorgen, in den letzten Tages des Sommers, saßen Mutter und Sohn am Küchentisch. Sein Tornister schulfertig gepackt; die Mutter schien zu einem Entschluss gekommen zu sein.
„Wir müssen uns schützen, Johannes.“
Sie rührte in einem Glas.
„Denn die Strahlen kommen aus dem Wald.“
Sie zog das Rührstäbchen aus dem Glas.
„Ich habe den Wald beobachtet. Die Sonne und die Vogeltränke. Die Strahlen kommen aus dem Wald. Ich habe sie gesehen. Die Strahlen.“
Der Junge hörte zu. Ein Schleimtropfen fiel vom Rührstäbchen ins Glas, verschwand in der dickflüssigen Masse. Ein Tropfen weniger.
Sie legte das Stäbchen beiseite, schob das Glas über den Küchentisch.
„Aber wir haben Hilfe, Johannes.
Trinke das hier.“
Ein großes Glas. Der Junge umschloss es von beiden Seiten. Innen rotierte eine orange Masse ganz langsam, zäh wie Eierkuchenteig oder eine süße Suppe aus Mehl.
„In Ordnung. Mama.“
Er hob das Glas an, sein schneller Atem beschlug die Innenseite des Glases, schloss die Augen und schluckte vorsichtig, das war Ei, rohes, schmieriges Ei. Es kroch in das Innere seines Körpers. Er wusste, nach dem Trinken kam eine Wirkung, entlud sich eine unbekannte Kraft, die ihn tanzen und wackeln ließ, manchmal zittern. Aber es half gegen die Strahlen. Er setzte das Glas ab. Der Atem schmeckte sauer.
„Schmeckt es?“
„Ja. Mama“, keuchte er.
Mutter lächelte.
„Es hilft gegen die Strahlen. Es hilft sehr gut.“
„Danke. Mama.“
„Ich nehme es auch.
Jetzt kannst du zur Schule gehen.“
Auf dem Weg zur Schule tänzelte er. Seine Schrift kippte. Die Tinte klebte wie blauer Sirup. Seine Lehrerin, Frau Schmidt fragte: Bist du vielleicht krank? Eine Allergie? Heuschnupfen? Aber der Junge sagte, nein, schlecht gegessen. Echt jetzt. Am Abend notierte niemand iO in den Kalender, Mutter wanderte im Wald und der Sohn schlief auf der Sofacouch.
Zum Oktoberbeginn beendete Mutter ihre Balkongespräche. Nicht, weil der Sommer geendet hätte, die neue Wärme zur Kürbisernte bildete eine ganz neue Jahreszeit, für die es noch keinen Namen gab. Nein, Mutter schwieg die Tage. Sie trug InOrdnung in den Planer ein. Ausgeschrieben InOrdnung, ohne Leerstelle, das war selten. Der Junge beobachtete sie: Sie trug das InOrdnung sehr langsam ein, als übe sie ein neues Wort in neuer Gestalt, so langsam wie beim Erlernen der vereinfachten Ausgangsschrift. Dann drehte sie sich zur Seite, sah plötzlich in die ruhigen Augen ihres Sohnes, der auf dem Sofa lümmelte, überrascht, fing sich und sagte:
„Ich habe eine Überraschung für dich, Johannes.
Morgen.
Du darfst dich freuen.“
Bei großer Freude ihrerseits lag immer ein kleiner Wasserfilm unter dem Lidschatten.
Am nächsten Tag fuhren sie in die Stadt. Der Bus kurvte, obwohl das Land flach und die Straße trocken lagen. Sie entfernten sich vom Wald. Fuhr der Bus, roch es nach verbranntem Diesel. Stand der Bus, nach Mutters Vanille-Parfüm.
Mutter sagte: „Es ist eine sehr große Überraschung für dich, Johannes. Wirklich.“ Und flüsterte:
"Tschuldige.
Nie wieder Ei. Und Cognac.
Das mit den Strahlen ist Quatsch.
Echt jetzt.
Kein Plan. Bin manchmal …
… seltsam, Johannes.
Verzeih‘ mir, ja?"
"Ja, Mama."
Dann staunte der Junge über den schnellen Bus. In der Mitte des Busses gab es ein Element aus Graugummi, das sich in den Kurven stauchte und streckte. Ein Mann versuchte, Gleichgewicht zu halten. Eine merkwürdige Kraft hatte der Mann, eine Fähigkeit, der Junge formulierte das Wort mit stummen Lippen, drückte die Schneidezähne auf die Unterlippe: Fähigkeit.
Das hatte er in der Schule gelernt.
"Freust du dich?"
"Ja, Mama."
„Alles in Ordnung?“
„Alles in Ordnung. Mama.“
Der Bus fuhr sie ins Stadtzentrum. Hier das Zentrum West, linkerhand ein Spielzeugfachgeschäft. Hoher Stahl in Rot. Türen, die eine komische Kraft zur Seite schob. Glas und bunt. Seine Hand in Mutters Hand. Ein Maschinenäffchen pustete Seifenblasen, arbeitete elektrisch gut, sie platzten an alter und neuer Kundschaft, manche Brille musste geputzt werden. Die Halle, ein riesiges Zelt aus rotem Stahl und Piratenholz! Bällchen und Katapult, Papagei und Raumfahrt! Und die Mama grinste, bis jeder ihrer Zähne im Spielwarenlicht gefunkelt hatte. Und der Junge schwieg, schwieg einfach, als breche ein Schweigen etwas, eine Flüssigkeit, die dünn gefriert, bis sie in tausend Teile bricht.
"Such' dir doch was aus.
Etwas Schönes.
Und Besonderes.
Ganz viel Spielzeug.
Alles für dich."
Sie lächelte.
"Alles für mich", sagte der Junge leise.
Regale, zu riesig für ihn. Eigentlich bunt und belichtet, sah er den Fall ihrer Schatten, sie schnitten sich und färbten den Boden matt. Kurzer Blick zur Mutter, Mutter lächelte, lächelte reglos. So musste er laufen, setzte seine Schritte zum Rand des Regals, dort, wo kein Schlagschatten den anderen überschnitt.
Vor einem Flugzeug-Shuttle blieb er stehen. Man konnte ein kleines, weißes Shuttle auf das riesige, blaue Flugzeug stecken. Ein Shuttle-Transport-Flugzeug. Es gab Flugzeuge für die Erde und Shuttles für das Weltall. Gab ja auch Flughäfen und Raumstationen. Erde und Himmel. Oben und unten. Durch das blau lackierte Flugzeug führten schmale Streifen in Weiß und Rot, schau wie stark ich bin, hier ist die NASA, ich führe dich ins All. Er konzentrierte sich auf das kleine Shuttle.
Das Shuttle zündete. Durchstieß die schmale Grenze von Erde und All, beschleunigte im Orbit, bremste ab, stand still über den Kontinenten und Ozeanen und entfaltete einen kleinen glitzernden Satelliten. Zündete ein zweites Mal, reiste zu Spiralen aus tausenden Sternen und entkam schwarzen Löchern, die Materie und Licht einsaugten.
Ein Mädchen rempelte ihn an, rief ‚Dummkopf‘ und rannte davon.
Plötzlich spürte er Tränen aufsteigen. Wischte sie weg. Er lief weiter, bog um eine Ecke, noch eine. Eine Mitarbeiterin fragte, alles okay? Du? Alles okay? Er nickte nur, das konnte er gut.
Wo denn die Mutter sei?
Und sonst alles okay?
Kann ich dir helfen?
Und geht es dir gut?
„Alles in Ordnung“, sagte der Junge. „Ich möchte das da bitte.“
„Das?“ Die Mitarbeiterin strich über die Augenbraue. Sie zögerte. Dann fasste sie in das Regal, bat um das Öffnen seiner Hand und legte die kleine flache Box auf die offene Handfläche.
„In Grün? Ist es jetzt besser? Wo ist denn deine Mutter?“ Sie wartete am Eingang. Die Verkäuferin führte ihn zur Mutter.
„Nur das?“ Mutter lächelte nicht: „Du darfst dir doch alles aussuchen!“
„Ja.“
Er sah sie nicht an.
Kinder riefen, Eltern mit riesigen Playmobil-Packungen in Himmelblau, Geschenkpapier knisterte von fetten Rollen. Sie standen an der Kasse. Die Mama zahlte, zehn Euro, zehn für Ligretto, das schnellste Kartenspiel der Welt. Am Abend notierte sie iO in den Kalender, schon wieder, iO, das letzte für die nächste Zeit.
Denn am 16. Oktober begann der Herbst. Sofort. Keine Widersprüche. Jetzt war Herbst. Eine lange Front vom Nordpol bis Italien, ein ganzer Längengrad fusseliger Nieselregen.
„Ich muss einkaufen!“, rief Mutter plötzlich, zog ihre Sommersandalen an und stapfte aus der Wohnung. „Ich versorge uns!“, rief sie im Treppenhaus schrill. „Ich versorge uns!“
Auf dem Küchentisch lag Mutters Tablettenbox. Er mochte das bunte Plexiglas. Eine Woche hat sieben Farben und ein Tag fünf Teile. Sonntag in Brombeere, Montag in Tanngrün. Heute war ein königsblauer Tag, ein Freitag. Hielt die Box gegen die Fenstersonne. Er schüttelte sie: Sonntag klapperten alle, vom Mittwoch die kleine rosafarbene, montags alle weißen. Der Blick vom Balkon: Der Gemeinschaftsgarten, Waldrand, Vogeltränke.
„Johannes!“, rief der Nachbar.
„Mutter ist einkaufen!“
Er ging in die Wohnung, glättete den Klettverschluss seiner Sportschuhe, zupfte an ihnen, zog sie an, öffnete die Haustür, schloss sie. Duckte sich unter dem Türspäher des Nachbarn. Trat auf die Seitenstraße der Siedlung. Stehst du am Straßenrand, kannst du in zwei Richtungen gehen, stehst du an der Kreuzung, in vier.
Siedlungsgrenze. Seine Eichen und Buchen über einer dichten Schicht aus krautigem Wuchs, Strauchschlingen und verflochtenen Himbeerranken. Waldrand. Waldgrenze. Der Junge zögerte. Dann betrat er den Wald.
Der Wald ruhte auf seinen Bäumen, seinen Kräutern, den Himbeerschlingen, dem Laub und der Streu. Die Augen des Jungen formten einen Weg. Ein Weg, der von der Kiesstrecke wegführte, zwischen den Baumstämmen kurvte. An sumpfigen Gräben. An neuer Lichtung, am Totholz und verletzten Fichten. Schattenfarben zwischen den Stämmen. Dunkel und still. Nur die Schritte knisterten, der junge, frische Körper winzig klein unter der Krone des Waldes.
Ich heiße Johannes, dachte er, ich kann das. Die Fäden von Schwarz, Blau und Finster webten ein enges Geflecht um den hellen Körper. Etwas presste an seinem Atem: Er atmete gegen etwas, das er nicht benennen konnte.
Er gelangte an einen Hain Fichten. An einer Fichte hat ein dichter, weißer Pilz ein Stück Rinde zersetzt. Das Innere des Stammes leuchtete orange und schmeckte süß. Der Sirup der Wundheilung. Er berührte die klebrige Masse, beobachtet den Dampf, schmeckte Fichtennadelstreu und roch Nadelwaldholz. Im Harz erkannte er zwei winzige glänzende Flächen. In ihnen schimmerte ein noch winzigerer Regenbogen, wie das Öltröpfchen in einer Pfütze. Erst wich seine Hand zurück. Dann merkte er: Ein schwarzer Punkt verband zwei Flügelchen.
Der Junge ging in die Hocke. Er wischte das Laub fort, legte die Erde frei. Er formte eine Kuhle, die Erde durchdrang Pilz und Mooswurzel. Mit einem Ast streifte er das tote Insekt aus dem Harz. Ist gut, flüstert er leise. Ist gut so. Dann brach er den Ast, legte den Ast in die Kuhle, wischte Erde über den Körper und sprach:
Ruhe.
Ruhe einfach hier, okay?
Er stand wieder auf, als ihn eine Hand berührte.
Kann ich dir helfen?, fragte die Verkäuferin. Kann ich dir helfen, kann ich dir helfen. Alles in Ordnung?
Der Junge antwortete, ja, alles in Ordnung.
Sie schüttelte mit ihrem Kopf. Haarsträhnen fielen ins Gesicht.
Ich führe dich aus dem Wald. Du bist verirrt. Folge mir.
Sie liefen einen anderen Weg. Er wirkte merkwürdig geradeaus, nie bogen sie in die eine oder andere Richtung. Obwohl er dachte, man müsste einen Bogen laufen, nein, die Verkäuferin wusste den Weg. Die Sträucher bogen sich vor ihnen zu einem freien Pfad. Die Haken und Dornen mancher Schlinge wurden stumpf und schmerzten nicht. Sie erreichten den Waldrand und das Mehrfamilienhaus.
In der Küche räumte Mutter große Einkaufstüten aus. Sie hatte sich abgekämpft, ihre Stirn glitzerte vor Schweiß, der Herbstwind hatte sie nicht kühlen können. Es waren Tüten voller Mehl, Eier und Schokolade: Vorbereitung, Johannes, Vorbereitung ist das A und O. Am Abend notierte niemand ein Wort in den Familienplaner. Mutter rauchte trotz Regen auf dem Balkon, ihr Sohn schlief. Die Vogeltränke füllte sich endlich mit Wasser.