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Waldrand

Monster-WG
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10.07.2019
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Waldrand

In Ordnung kürzte Mutter mit „iO“ ab, ohne Punkt nach i und O. An vielen Abenden trug Mutter iO in den Familienplaner ein. Ein Familienplaner aus fünf langen Spalten, ganz links – unter einer Zwiebel – Johannes, ihr Sohn, Mitte links – unter einem Kürbis – die Mutter. Die anderen Spalten blieben leer.
Mutter hatte eine merkwürdige Schrift. Ihre Form änderte sich tageweise. Manchmal sparte sie an Größe, als sei Kalenderpapier ein flaches, weißes Gold, sie schrieb millimeterfein. Dann wechselte die Schrift zu großen, bauschigen Formen und die Tagesgrenzen schnitten Haarlinien durch das iO. Im August füllte der Junge leere Tage aus; am Monatsende rief sie begeistert, wie gut die Therapie und die Medizin wirken, hüpfte durch die Wohnung, schrie und lud ihren Sohn zu irgendeiner Mutter-Sohn-Aktivität ein, die man halt so machte und meist ging es zu McDonalds, ins Spielzeuggeschäft oder in den Zoo am anderen Ende der Stadt.

Im September begann Mutter, Selbstgespräche zu führen. Sie stand auf dem Balkon, erste Etage, schaute abwechselnd zur Sonne, zum Waldrand und in den Gemeinschaftsgarten und redete. Eine Vogeltränke lag seit Monaten trocken; der Sommer dehnte sich weit in den September aus und Mutter fügte dem Spätsommer ein „Äußerst-Spät-Sommer“ hinzu, manchmal, wenn ihre Gespräche von dem handelten, was sie sah.

Mitte September fragte der Nachbar, ob alles in Ordnung sei. Ein dicker Mann. Er stand im Türrahmen, ein bisschen besorgt und verängstigt. Vielleicht fürchtete er Konsequenzen, warum auch immer. Aber der Junge führte ihn an den Familienplaner der zwanzig Schriften Mutters und sagte, alles in Ordnung, Mutter gehe es gut. Das beruhigte ihn: Die iOs in einer Spalte, aufgezogen als lange Kette von Monatsanfang zu Monatsende. Er freue sich, dass es ihnen gut gehe, sagte er. Der Junge lächelte. Es war wie in der ersten Klasse, die Lehrerin Frau Schmidt teilte einen Bogen Linienpapier aus und man schrieb ein i nach dem anderen, ein O nach dem anderen, jedes O las er als O, aber keines glich dem anderen.

Der Junge schrieb die nächsten Tage iO in den Kalender, denn Mutter stand auf dem Balkon und redete. Oder sie setzte sich an den Küchentisch und erzählte.
An einem Dienstagmorgen, in den letzten Tages des Sommers, saßen Mutter und Sohn am Küchentisch. Sein Tornister schulfertig gepackt; die Mutter schien zu einem Entschluss gekommen zu sein.
„Wir müssen uns schützen, Johannes.“
Sie rührte in einem Glas.
„Denn die Strahlen kommen aus dem Wald.“
Sie zog das Rührstäbchen aus dem Glas.
„Ich habe den Wald beobachtet. Die Sonne und die Vogeltränke. Die Strahlen kommen aus dem Wald. Ich habe sie gesehen. Die Strahlen.“
Der Junge hörte zu. Ein Schleimtropfen fiel vom Rührstäbchen ins Glas, verschwand in der dickflüssigen Masse. Ein Tropfen weniger.
Sie legte das Stäbchen beiseite, schob das Glas über den Küchentisch.
„Aber wir haben Hilfe, Johannes.
Trinke das hier.“
Ein großes Glas. Der Junge umschloss es von beiden Seiten. Innen rotierte eine orange Masse ganz langsam, zäh wie Eierkuchenteig oder eine süße Suppe aus Mehl.
„In Ordnung. Mama.“
Er hob das Glas an, sein schneller Atem beschlug die Innenseite des Glases, schloss die Augen und schluckte vorsichtig, das war Ei, rohes, schmieriges Ei. Es kroch in das Innere seines Körpers. Er wusste, nach dem Trinken kam eine Wirkung, entlud sich eine unbekannte Kraft, die ihn tanzen und wackeln ließ, manchmal zittern. Aber es half gegen die Strahlen. Er setzte das Glas ab. Der Atem schmeckte sauer.
„Schmeckt es?“
„Ja. Mama“, keuchte er.
Mutter lächelte.
„Es hilft gegen die Strahlen. Es hilft sehr gut.“
„Danke. Mama.“
„Ich nehme es auch.
Jetzt kannst du zur Schule gehen.“
Auf dem Weg zur Schule tänzelte er. Seine Schrift kippte. Die Tinte klebte wie blauer Sirup. Seine Lehrerin, Frau Schmidt fragte: Bist du vielleicht krank? Eine Allergie? Heuschnupfen? Aber der Junge sagte, nein, schlecht gegessen. Echt jetzt. Am Abend notierte niemand iO in den Kalender, Mutter wanderte im Wald und der Sohn schlief auf der Sofacouch.

Zum Oktoberbeginn beendete Mutter ihre Balkongespräche. Nicht, weil der Sommer geendet hätte, die neue Wärme zur Kürbisernte bildete eine ganz neue Jahreszeit, für die es noch keinen Namen gab. Nein, Mutter schwieg die Tage. Sie trug InOrdnung in den Planer ein. Ausgeschrieben InOrdnung, ohne Leerstelle, das war selten. Der Junge beobachtete sie: Sie trug das InOrdnung sehr langsam ein, als übe sie ein neues Wort in neuer Gestalt, so langsam wie beim Erlernen der vereinfachten Ausgangsschrift. Dann drehte sie sich zur Seite, sah plötzlich in die ruhigen Augen ihres Sohnes, der auf dem Sofa lümmelte, überrascht, fing sich und sagte:
„Ich habe eine Überraschung für dich, Johannes.
Morgen.
Du darfst dich freuen.“
Bei großer Freude ihrerseits lag immer ein kleiner Wasserfilm unter dem Lidschatten.

Am nächsten Tag fuhren sie in die Stadt. Der Bus kurvte, obwohl das Land flach und die Straße trocken lagen. Sie entfernten sich vom Wald. Fuhr der Bus, roch es nach verbranntem Diesel. Stand der Bus, nach Mutters Vanille-Parfüm.
Mutter sagte: „Es ist eine sehr große Überraschung für dich, Johannes. Wirklich.“ Und flüsterte:
"Tschuldige.
Nie wieder Ei. Und Cognac.
Das mit den Strahlen ist Quatsch.
Echt jetzt.
Kein Plan. Bin manchmal …
… seltsam, Johannes.
Verzeih‘ mir, ja?"
"Ja, Mama."
Dann staunte der Junge über den schnellen Bus. In der Mitte des Busses gab es ein Element aus Graugummi, das sich in den Kurven stauchte und streckte. Ein Mann versuchte, Gleichgewicht zu halten. Eine merkwürdige Kraft hatte der Mann, eine Fähigkeit, der Junge formulierte das Wort mit stummen Lippen, drückte die Schneidezähne auf die Unterlippe: Fähigkeit.
Das hatte er in der Schule gelernt.
"Freust du dich?"
"Ja, Mama."
„Alles in Ordnung?“
„Alles in Ordnung. Mama.“

Der Bus fuhr sie ins Stadtzentrum. Hier das Zentrum West, linkerhand ein Spielzeugfachgeschäft. Hoher Stahl in Rot. Türen, die eine komische Kraft zur Seite schob. Glas und bunt. Seine Hand in Mutters Hand. Ein Maschinenäffchen pustete Seifenblasen, arbeitete elektrisch gut, sie platzten an alter und neuer Kundschaft, manche Brille musste geputzt werden. Die Halle, ein riesiges Zelt aus rotem Stahl und Piratenholz! Bällchen und Katapult, Papagei und Raumfahrt! Und die Mama grinste, bis jeder ihrer Zähne im Spielwarenlicht gefunkelt hatte. Und der Junge schwieg, schwieg einfach, als breche ein Schweigen etwas, eine Flüssigkeit, die dünn gefriert, bis sie in tausend Teile bricht.
"Such' dir doch was aus.
Etwas Schönes.
Und Besonderes.
Ganz viel Spielzeug.
Alles für dich."
Sie lächelte.
"Alles für mich", sagte der Junge leise.
Regale, zu riesig für ihn. Eigentlich bunt und belichtet, sah er den Fall ihrer Schatten, sie schnitten sich und färbten den Boden matt. Kurzer Blick zur Mutter, Mutter lächelte, lächelte reglos. So musste er laufen, setzte seine Schritte zum Rand des Regals, dort, wo kein Schlagschatten den anderen überschnitt.
Vor einem Flugzeug-Shuttle blieb er stehen. Man konnte ein kleines, weißes Shuttle auf das riesige, blaue Flugzeug stecken. Ein Shuttle-Transport-Flugzeug. Es gab Flugzeuge für die Erde und Shuttles für das Weltall. Gab ja auch Flughäfen und Raumstationen. Erde und Himmel. Oben und unten. Durch das blau lackierte Flugzeug führten schmale Streifen in Weiß und Rot, schau wie stark ich bin, hier ist die NASA, ich führe dich ins All. Er konzentrierte sich auf das kleine Shuttle.
Das Shuttle zündete. Durchstieß die schmale Grenze von Erde und All, beschleunigte im Orbit, bremste ab, stand still über den Kontinenten und Ozeanen und entfaltete einen kleinen glitzernden Satelliten. Zündete ein zweites Mal, reiste zu Spiralen aus tausenden Sternen und entkam schwarzen Löchern, die Materie und Licht einsaugten.

Ein Mädchen rempelte ihn an, rief ‚Dummkopf‘ und rannte davon.
Plötzlich spürte er Tränen aufsteigen. Wischte sie weg. Er lief weiter, bog um eine Ecke, noch eine. Eine Mitarbeiterin fragte, alles okay? Du? Alles okay? Er nickte nur, das konnte er gut.
Wo denn die Mutter sei?
Und sonst alles okay?
Kann ich dir helfen?
Und geht es dir gut?
„Alles in Ordnung“, sagte der Junge. „Ich möchte das da bitte.“
„Das?“ Die Mitarbeiterin strich über die Augenbraue. Sie zögerte. Dann fasste sie in das Regal, bat um das Öffnen seiner Hand und legte die kleine flache Box auf die offene Handfläche.
„In Grün? Ist es jetzt besser? Wo ist denn deine Mutter?“ Sie wartete am Eingang. Die Verkäuferin führte ihn zur Mutter.
„Nur das?“ Mutter lächelte nicht: „Du darfst dir doch alles aussuchen!“
„Ja.“
Er sah sie nicht an.
Kinder riefen, Eltern mit riesigen Playmobil-Packungen in Himmelblau, Geschenkpapier knisterte von fetten Rollen. Sie standen an der Kasse. Die Mama zahlte, zehn Euro, zehn für Ligretto, das schnellste Kartenspiel der Welt. Am Abend notierte sie iO in den Kalender, schon wieder, iO, das letzte für die nächste Zeit.

Denn am 16. Oktober begann der Herbst. Sofort. Keine Widersprüche. Jetzt war Herbst. Eine lange Front vom Nordpol bis Italien, ein ganzer Längengrad fusseliger Nieselregen.
„Ich muss einkaufen!“, rief Mutter plötzlich, zog ihre Sommersandalen an und stapfte aus der Wohnung. „Ich versorge uns!“, rief sie im Treppenhaus schrill. „Ich versorge uns!“
Auf dem Küchentisch lag Mutters Tablettenbox. Er mochte das bunte Plexiglas. Eine Woche hat sieben Farben und ein Tag fünf Teile. Sonntag in Brombeere, Montag in Tanngrün. Heute war ein königsblauer Tag, ein Freitag. Hielt die Box gegen die Fenstersonne. Er schüttelte sie: Sonntag klapperten alle, vom Mittwoch die kleine rosafarbene, montags alle weißen. Der Blick vom Balkon: Der Gemeinschaftsgarten, Waldrand, Vogeltränke.
„Johannes!“, rief der Nachbar.
„Mutter ist einkaufen!“
Er ging in die Wohnung, glättete den Klettverschluss seiner Sportschuhe, zupfte an ihnen, zog sie an, öffnete die Haustür, schloss sie. Duckte sich unter dem Türspäher des Nachbarn. Trat auf die Seitenstraße der Siedlung. Stehst du am Straßenrand, kannst du in zwei Richtungen gehen, stehst du an der Kreuzung, in vier.
Siedlungsgrenze. Seine Eichen und Buchen über einer dichten Schicht aus krautigem Wuchs, Strauchschlingen und verflochtenen Himbeerranken. Waldrand. Waldgrenze. Der Junge zögerte. Dann betrat er den Wald.

Der Wald ruhte auf seinen Bäumen, seinen Kräutern, den Himbeerschlingen, dem Laub und der Streu. Die Augen des Jungen formten einen Weg. Ein Weg, der von der Kiesstrecke wegführte, zwischen den Baumstämmen kurvte. An sumpfigen Gräben. An neuer Lichtung, am Totholz und verletzten Fichten. Schattenfarben zwischen den Stämmen. Dunkel und still. Nur die Schritte knisterten, der junge, frische Körper winzig klein unter der Krone des Waldes.
Ich heiße Johannes, dachte er, ich kann das. Die Fäden von Schwarz, Blau und Finster webten ein enges Geflecht um den hellen Körper. Etwas presste an seinem Atem: Er atmete gegen etwas, das er nicht benennen konnte.
Er gelangte an einen Hain Fichten. An einer Fichte hat ein dichter, weißer Pilz ein Stück Rinde zersetzt. Das Innere des Stammes leuchtete orange und schmeckte süß. Der Sirup der Wundheilung. Er berührte die klebrige Masse, beobachtet den Dampf, schmeckte Fichtennadelstreu und roch Nadelwaldholz. Im Harz erkannte er zwei winzige glänzende Flächen. In ihnen schimmerte ein noch winzigerer Regenbogen, wie das Öltröpfchen in einer Pfütze. Erst wich seine Hand zurück. Dann merkte er: Ein schwarzer Punkt verband zwei Flügelchen.

Der Junge ging in die Hocke. Er wischte das Laub fort, legte die Erde frei. Er formte eine Kuhle, die Erde durchdrang Pilz und Mooswurzel. Mit einem Ast streifte er das tote Insekt aus dem Harz. Ist gut, flüstert er leise. Ist gut so. Dann brach er den Ast, legte den Ast in die Kuhle, wischte Erde über den Körper und sprach:
Ruhe.
Ruhe einfach hier, okay?
Er stand wieder auf, als ihn eine Hand berührte.
Kann ich dir helfen?, fragte die Verkäuferin. Kann ich dir helfen, kann ich dir helfen. Alles in Ordnung?
Der Junge antwortete, ja, alles in Ordnung.
Sie schüttelte mit ihrem Kopf. Haarsträhnen fielen ins Gesicht.
Ich führe dich aus dem Wald. Du bist verirrt. Folge mir.
Sie liefen einen anderen Weg. Er wirkte merkwürdig geradeaus, nie bogen sie in die eine oder andere Richtung. Obwohl er dachte, man müsste einen Bogen laufen, nein, die Verkäuferin wusste den Weg. Die Sträucher bogen sich vor ihnen zu einem freien Pfad. Die Haken und Dornen mancher Schlinge wurden stumpf und schmerzten nicht. Sie erreichten den Waldrand und das Mehrfamilienhaus.

In der Küche räumte Mutter große Einkaufstüten aus. Sie hatte sich abgekämpft, ihre Stirn glitzerte vor Schweiß, der Herbstwind hatte sie nicht kühlen können. Es waren Tüten voller Mehl, Eier und Schokolade: Vorbereitung, Johannes, Vorbereitung ist das A und O. Am Abend notierte niemand ein Wort in den Familienplaner. Mutter rauchte trotz Regen auf dem Balkon, ihr Sohn schlief. Die Vogeltränke füllte sich endlich mit Wasser.

 

Hallo @kiroly,

beide Texte sind sehr ungewöhnlich. Die Stimmung würde ich mit sonambul versuchen zu beschreiben; fast wie ein Traum, jedenfalls immer mit einer Lücke zur Realität, aus der dann alles Mögliche ausbrechen kann. Das ist gut gemacht. Beide Texte sind unterschiedlich, beim zweiten Text hast du auf andere Sachen geachtet, hast auch den Wald bzw das Leben im Wald eher in den Vordergrund gestellt.

Das Innere des Stammes leuchtete orange und schmeckte süß. Der Sirup der Wundheilung. Er berührte die klebrige Masse, beobachtet den Dampf, schmeckte Fichtennadelstreu und roch Nadelwaldholz. Im Harz erkannte er zwei winzige glänzende Flächen. In ihnen schimmerte ein noch winzigerer Regenbogen, wie das Öltröpfchen in einer Pfütze.

Hat mich manchmal an Emerson und seinen Essay Natur erinnert. Das klingt aber auch etwas sehr Deutsches mit, und das finde ich gerade gut; nicht falsch verstehen, aber in einem Hain Fichten, das hat etwas Archaisches, die Deutschen haben ein besonderes Verhältnis zum Wald, und das glitzert so zwischen den Zeilen, etwas Sublimes, Erhabenes, der Wald als ein Ort der Metaphysik, in dem alles passieren kann, in dem alles endet und beginnt. Das fernab von Kitsch oder Schwulst, was ja wirklich sehr schnell passieren kann, wirklich eine absolut grandiose Leistung.

Du hast die Szene mit der Lehrerin rausgenommen. Die hat mich damals, in der ersten Version, etwas gestört, weil man sie vielleicht als plakativ empfinden könnte, im Sinne einer Beschreibung der Tatsachen, aber so eine Bedienungsanleitung hat der Text gar nicht nötig. Deswegen freue ich mich, dass du das rausgenommen hast; der Text ist in sich viel runder geworden, er ist jetzt als Ganzes eine Aussage, verfolgt eine Prämisse.

Ja, ich bin immer gespannt auf neue Texte von dir, und auch, wie sich das weiterentwickeln wird.

Gruss, Jimmy

 

Guten Morgen @brudervomweber!

Vielen Dank für Deinen Kommentar

der Text ist vermutlich weit entfernt von der Erstausgabe, weshalb ich ihn mehr oder minder barrierefrei verschlungen habe. Sehr angenehm zu lesen, mehr noch, laut zu lesen (ich fand ihn rhythmisch ganz famos), und das, obwohl er im positiven Sinne eigenartig und schwer zu fassen ist (AWM schreibt ja sehr passend "fein entrückt" dazu).

Das freut mich. Ja, die erste Version war doch ganz schön "durchwirbelt", jetzt verlaufen rote Fäden im Text.


Ich habe die Geschichte nicht weiter befragt, ich habe mich in ihr treiben lassen und glaube nicht, dass sie zu sehr erklärt werden kann oder will. Oder muss. Ich habe aus diesem Grund auch nur ein paar Winzigkeiten anzumerken:

in den letzten Tagen

Habe ich umgeändert.

Ich habe es gesehen. Die Strahlen.

Auch hier, "es" bezog sich auf die Strahlen, seltsam, dass ich auf "es" und nicht auf "sie" gekommen bin ...

Ein Tropfen weniger.

Der Tropfen bezog sich auf die Ei-Masse, er entsteht am Rührstäbchen, fällt und verschwindet in der Masse, das kurze Leben eines Tropfens. Aber - so viele Gedanken habe ich mir nicht dazu gemacht, ich habe es herausgenommen.

„Aber wir haben Hilfe, Johannes.
Trinke das hier.“

Ja, schon, auch wenn ich mir selber nicht sagen will, dass es nur eine formale Spielerei ist - es ist eine. Ich fand die Absätze vom Rhythmus her angenehm. Andererseits funktioniert das, sehe ich jetzt, weniger gut bei zwei kurzen Sätzen - da braucht es schon drei, vier, fünf. Mit den Absätzen entstehen Pausen, sie könnten zeigen, wie lange die Mutter braucht, die Sätze zu bilden, wie viel Zeit sie benötigt, dieses ganze Chaos im Kopf in einen Satz zu packen. Das gelingt nicht. So greift sie nur zu kurzen, wenigen, einfachen Sätzen zurück.

Er hob das Glas an, sein schneller Atem beschlug die Innenseite des Glases, er schloss die Augen und schluckte vorsichtig

Das hatte er in der Schule gelernt.

Er konzentrierte sich auf das kleine Shuttle.

Das habe ich abgeändert, merci :-)

Sehr anregende Lektüre, viele Assoziationen, spannende Bilder, klare Sprache, schöne Einfälle.

Klare Sprache, danke :-) Freut mich, dass es dir gefallen hat.

Lg, wünsche einen guten Start in den Tag,
kiroly

 
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„Aber wir haben Hilfe, Johannes.
Trinke das hier.“
[...]
Er hob das Glas an, sein schneller Atem beschlug die Innenseite des Glases, schloss die Augen und schluckte vorsichtig, das war Ei, rohes, schmieriges Ei.
[…]
Das Shuttle zündete. Durchstieß die schmale Grenze von Erde und All, beschleunigte im Orbit, bremste ab, stand still über den Kontinenten und Ozeanen und entfaltete einen kleinen glitzernden Satelliten.
[…]
Vorbereitung, Johannes, Vorbereitung ist das A und O.
[…]
Der Bus kurvte, obwohl das Land flach und die Straße trocken lag*.

Der einleitende Satz
In Ordnung kürzte Mutter mit „iO“ ab, ohne Punkt nach i und O.

und die Serie an einleitenden Zitaten (mit der Besonderheit, am Ende nicht die Reihenfolge einzuhalten), lassen mich – weg von Schizophrenie weit zurückgreifen in den Mythos, wenn für mich das Kürzel „iO“ auf den Kopf, oder besser grammatisch korrekt gestellt wird zur „Io“, der Name einer Geliebten des Zeus und der Seitensprung von Hera entdeckt wird und das eigentliche „Opfer“ unter „Argos“ Augen bewacht wird und – die Altvorderen waren da ganz sinnig – nun als Mond um den Jupiter kreist.

Und weil wir ja fortschrittlich und alles andere als Abergläubisch sind, erscheint uns Io als einer der hellsten Objekte am Sternenhimmel. Und wer den Stern zur Weihnachtszeit verehrt, lebt nahe bei Babylon (die das goldgelben lichterne Objekt am Sternenhimmel als „Königsstern“ verehrten und der tatsächlich im Monotheismus wieder aufersteht: Nach einem anderen Mythos ist „Io“ immer noch die Tochter eines griechischen Flussgottes, war aber Priesterin der Hera. Zeus, da kommt der ältere Mythos noch mal durch, lockerer Geselle, der er ist, nahm die Priesterin zur Geliebten, was wiederum Eifersucht bei der olympischen Chefin erregte.

So weit die älteste Schicht des Mythos. Doch nun flieht die Priesterin nach Ägypten! Nach griechischer Auffassung wird dort Io als „Isis“ verehrt. Die jedoch personifiziert den Thron Ägyptens – was schon die historischen Verdrehungen offenbart - wird also einiges älter sein, als die Hellenen sich träumen lassen. Als Gemahl des Osiris (der durch Brudermord umkommt, ein Moiv, dass man bis in den hohen Norden - Baldr und Loki, Hageno und der Drachentöter- kennt) wird sie Mutter des Horus und kommt mit den römischen Legionären als Madonna mit Kind auch nach Mitteleuropa.
Naja, den Zusammenhang von Zweig, Baum und Wald lass ich mal außen vor, aber komme zum „Ei“, das wohl durch die Mutter „angereichert“ wird, und damit nicht mehr das allereinfachste oder natürlichste von der Welt ist als Ursprung und Ende des Lebens.
Irgendwo hab ich mal gelesen, dass es selbst als Grabbeigabe verwendet wurde, was natürlich eine ähnliche Wirkung wie ein angereichertes „rohe“ Ei hat. Zerfall. Das Ei als „A und O“, Anfang und Ende, nicht nur des griechischen Alfabets. Und ich schließe mit einem Wort, dass ich mal gelesen hab (fällt mir wieder nicht ein, bei wem, und deshalb formulier ichs Original ein bisschen um zu der Frage
Hat nicht jeder sein Kreuz zu tragen?
Ich noch nicht "so sehr", aber ab km 20 Dauerlauf meldet sich das linke Knie ..., womit ich fast beim Kniefall vor Dir bin, tatsächlich sitz ich aber ... was nix überraschendes sein wird.

Nicht zu vergessen, die Namenswahl für den Jungen: Griechisch Ἰωάννης Iōannēs, dem hebräischen Jochanan nachgebildet, bedeutet “Gott ist gnädig”!

* Flusenlese, die sinnigerweise nicht der Reihenfolge des Textes, sondern der Zitate folgt, denn

Der Bus kurvte, obwohl das Land flach und die Straße trocken lag
sollt vllt. im Plural enden, denn Land + Straße allein verlangen danach, selbst wenn eines von ihnen „flach“ + das andere „trocken“ liegt, das andere aber Teil des einen ist und aller Wahrscheinlichkeit nach so flach und trocken wie eines ums andere ...
Ich denk da mal weiter drüber nach ... Aber nicht mehr vorm Mittag ...
Und gleich der umgekehrte Fall
Er wusste, nach dem Trinken kam eine Wirkung, entlud sich eine unbekannte Kraft, die ihn tanzen und wackeln ließen, manchmal zittern.
Besser „eine Kraft, die ihn tanzen und wackeln ließ, ...

„Ja. Mama.“, keuchte er.
Entweder abschließender Punkt weg (was ja bei wörtl. Rede mit Begleitsatz üblich ist) oder Komma weg und „Keuchte“ mit Majuskel

Und der Junge schwieg, schwieg einfach, als breche ein Schweigen etwas, eine Flüssigkeit, die dünn gefriert, bis sie in tausend Teile bricht.
Schön, dass die Stelle als „indirekte“ Rede des Jungen Bestand hat!, denn wie beim ersten Lesen der alten Fassung zuckte es auch bei mir zuerst und rief nach der irrealen „als ob“ Situation. Insofern hat die alte Begründung Bestand. Gesschieht selten genug bei Änderungen!

„Alles in Ordnung“, sagte der Junge. „Ich möchte das da[,] bitte.“
Vllt. am Ende noch ein Ausrufezeichen …?
Manchmal schreiben wir Poeten etwas, von dem wir nicht wissen, dass es uralt ist, als trüge das „Unbewusste“ die Erzählungen unserer Vorfahren weiter und würde durch - oft nur scheinbar - Neues ergänzt oder erweitert, dass das „kollektive“ Unbewusste (vor Ewigkeiten hab ich mal C. G. Jung gelesen) damit auch unsern Sprachschatz hütet. Und allemal äußert sich das Bewusstsein in der Sprache (oder grundsätzlicher: in dem, was einer tut. Kommunikation ist mehr als das Geplapper der Kommunikationsmittel. Und doch weiß man manchmal selbst nicht, was man da tut. Was übrigens für mich genauso gilt wie für jeden andern, dass ich Dich abschließend nochmals zitieren kann, „Atem“ als „Leben“ begriffen.
Etwas presste an seinem Atem: Er atmet[e] gegen etwas, das er nicht benennen konnte.

Tschüss und trotz aller Tragik hats auch "Spaß" gemacht, findet der

Friedel

 

Hallo @Carlo Zwei !

Merci für Deinen Kommentar! Und ja, was soll ich sagen/schreiben ... dieses tiefgehende, dieses Talent, die Geschichte hinter einer Geschichte zu entdecken, zu erforschen, das kannst du einfach :-)

Ich glaube, dass jeder Text eine ganz eigene Wirkung beim Leser entfalten kann. Anders gesagt, ich durchdenke einen Text nicht als Schnitzeljagd und schaue mir als Schnitzeljagd-Leiter die Irrungen und Wirrungen der Leser oder der Kommentatoren an und sage, hej, am Ahornstumpf kannst du nur links abbiegen. So sehe ich das überhaupt nicht, nee, das ist mir auch ... zu arrogant, zu sehr Oberlehrer aus der Lateinschule. Stattdessen bin ich hier im Forum immer und immer wieder überrascht zu lesen, wie unterschiedlich - natürlich nicht nur bei diesem Text - Texte wahrgenommen, gestaltet und kritisiert werden.

diese Version ist sprachlich sehr komplex. Sehr raffinierte Einfälle; sie hat einen anderen Drive. Die glüht noch richtig. So fühlt sich das beim Lesen an :D. Die sollte jetzt abkühlen. Ich sehe dich über der Tastatur brüten; mit Johannes Gedanken gehen und da Worte suchen/finden, unerbittlich kürzen, kein Teilchen, was nicht auf dieser einen Frequenz/Welle/Stimmung liegt. Dieses Radikale überträgt sich. Der Text macht mich richtig unruhig. Wie gesagt, ich würde ihn nun liegen lassen, da mit ruhiger Hand und etwas Abstand nochmal reinarbeiten, vielleicht nochmal die Versionen vergleichen; Entscheidungen für oder wider die verschiedenen Lösungen finden, die du dir zu dieser Story überlegt hast. Aber später, nicht jetzt :p

Danke dafür. Eine konkrete Arbeitsanweisung, sehr praktisch - da lassen wir mal die Geschichte ausglühen :-)

In diesem ersten fällt mir das häufige 'Mutter' auf. Das hat etwas Suggestives. Später ist es auch 'die Mama', da weicht es von der hier bezeigten Strenge ab. Dieser Erzähler ist nicht einfach ein personaler Erzähler sein, der Johannes folgt. Er wertet. Ganz subtil. Etwa durch die Auswahl der Aspekte, die er zur Charakterisierung vorschiebt. Die Nervosität, seltsame Entrücktheit der Mutter. Hier ist es etwas Besonderes, weil der Erzähler zugleich die Entrücktheit der Figuren vor allem von Johannes aufgreift, aus dieser (anschwellend) verzerrten Wahrnehmung beschreibt, in Szenen zeigt, fast vorführt. Warum denke ich, dass er nicht Johannes ist? Weil er eine Distanz hat. Ich suche mal Textstellen:

"Manchmal sparte sie an Größe, als sei Kalenderpapier ein flaches, weißes Gold, sie schrieb millimeterfein"

"... hüpfte durch die Wohnung, schrie und lud ihren Sohn zu irgendeiner Mutter-Sohn-Aktivität"

"Auf dem Weg zur Schule tänzelte er. Seine Schrift kippte. Die Tinte klebte wie blauer Sirup. Seine Lehrerin, Frau Schmidt fragte: Bist du vielleicht krank? Eine Allergie? Heuschnupfen? Aber der Junge sagte, nein, schlecht gegessen. Echt jetzt. Am Abend notierte niemand iO in den Kalender, Mutter wanderte im Wald und der Sohn schlief auf der Sofacouch."

--> der Erzähler hat keinen Zugriff auf die (vielleicht nicht existenten) Gefühle von Johannes. Johannes ist wie ein Vakuum. Tränen fließen aus seinen Augen, aber ob da Trauer ist, beantwortet der Erzähler nicht.

Trotzdem nennt der Erzähler die Mutter in Form direkter Ansprache, ohne Artikel "Mutter". Er intoniert Johannes oder er ist Johannes. Abschließend könnte ich das nicht beantworten. Trotzdem habe ich durch so Stellen wie die fett markierte das Gefühl, dass der Erzähler über die Gedankenwelt von Johannes erhaben ist. Er ist ihm einen Schritt voraus, als wäre er sein älterer Bruder, sein älteres Ich oder eben die ominöse Instanz des Autors, der Johannes in einer Weise erzählt, die klar macht, dass sie an seinen Fäden hängt wie eine Marionette.


Hui! Da war ich echt baff, das ist ... richtig, richtig gut interpretiert und geht über das hinaus, was ich mir gedacht habe. Ich schätzte eine gewisse Anonymität und Funktionalität von Figuren, Mutter, Mama, einmal Sohn ... das sind ja alles Zustandsbeschreibungen und ich frage mich manchmal, ob es hinter derartigen Zustandsbeschreibungen überhaupt einen Kern, eine Identität geben kann, wie stark Situationen und verfälschte Wahrnehmung einen Menschen überformen. Gerade das ist ja eine Besonderheit von Erkrankungen, die so stark die Wahrnehmung beeinflussen, wie die Schizophrenie, wenn Außen und Innen nicht unterscheidbar wären und die eigene Stimme sich nach einem Nachbarn anhört. Klingt jetzt schon philosophisch, aber meine es gar nicht so. Ich finde solche Grenzgebiete der Wahrnehmung einfach spannend.

Waldrand

Das ist es für mich noch nicht. Aber ja, ich würde da jetzt erstmal nicht wieder ran. Der Titel liegt für mich irgendwo in dieser orangen Substanz, in deren Bedeutung. Lass es erstmal ruhen ...

Ja, der Titel, das ist jetzt der ... moment ... dritte Titel? Ehrlich gesagt kann ich mir hier im Forum kaum etwas nervigeres vorstellen, als permanente Titeländerungen.

Die Augen des Jungen formten einen Weg, den er mit seinen Schritten bewies

das ist aus der Logik des Jungen. Also Logik geht, Gefühle nicht. Ein weiteres Puzzleteil. Das ist verworren.

Hm, so habe ich das nicht gesehen, aber du hast recht, das ist zu logisch gedacht. Ich habe die Stelle gestrichen, aber werde sie nochmal überarbeiten. Danke für den Hinweis Gefühl-Logik.

Also was schreibe ich da jetzt abschließend? Ich finde, solche heißen, versengenden Texte müssen geschrieben werden. Du verbrennst dir die Finger als Autor und wir uns als Leser. Wenn das Ding abgekühlt ist, würde ich dem einen Schliff verpassen. Und dann bleibt das so, bis jemand (du, ich, die anderen) das für gut gereiften Wein befindet.

Ein schönes Kommentarschlusswort! Ja, vielen, vielen Dank @Carlo Zwei :-)

 

Hallo @jimmysalaryman !

Vielen Dank für Deinen Kommentar.

Das Innere des Stammes leuchtete orange und schmeckte süß. Der Sirup der Wundheilung. Er berührte die klebrige Masse, beobachtet den Dampf, schmeckte Fichtennadelstreu und roch Nadelwaldholz. Im Harz erkannte er zwei winzige glänzende Flächen. In ihnen schimmerte ein noch winzigerer Regenbogen, wie das Öltröpfchen in einer Pfütze.

Hat mich manchmal an Emerson und seinen Essay Natur erinnert. Das klingt aber auch etwas sehr Deutsches mit, und das finde ich gerade gut; nicht falsch verstehen, aber in einem Hain Fichten, das hat etwas Archaisches, die Deutschen haben ein besonderes Verhältnis zum Wald, und das glitzert so zwischen den Zeilen, etwas Sublimes, Erhabenes, der Wald als ein Ort der Metaphysik, in dem alles passieren kann, in dem alles endet und beginnt. Das fernab von Kitsch oder Schwulst, was ja wirklich sehr schnell passieren kann, wirklich eine absolut grandiose Leistung.

Vielen Dank. Ja, der Wald sollte nicht kitschig und nicht bedrohlich wirken, nach Pepperkorns Kommentar merkte ich erst, wie sehr er das in der ersten Version tat ... eher als ein Raum, der einzelne Orientierungspunkte für Phantasien, für die Wahrnehmung lässt. Aber du hast das sehr, sehr gut beschrieben. Nein, ich verstehe dich nicht falsch - hier ist ja nicht die Rede von einem "deutschen Stolz auf den Wald", mit breiter Brust durch die Welt ziehen und sagen, wie perfekt ausmystifiziert der Deutsche Wald sei, sondern eher von einer "metaphysischen Hinwendung" zum Wald, fremd und vertraut zugleich. Umso seltsamer, dass die Ideen zur Forstwirtschaft, zur rationellen Nutzung von Wald, ausgerechnet im deutschen Sprachraum ihren Ausgangspunkt fanden, Forstakademie Tharandt bei Dresden oder Eberswalde bei Berlin. Aber das ist ein ganz anderes Thema.


Du hast die Szene mit der Lehrerin rausgenommen. Die hat mich damals, in der ersten Version, etwas gestört, weil man sie vielleicht als plakativ empfinden könnte, im Sinne einer Beschreibung der Tatsachen, aber so eine Bedienungsanleitung hat der Text gar nicht nötig. Deswegen freue ich mich, dass du das rausgenommen hast; der Text ist in sich viel runder geworden, er ist jetzt als Ganzes eine Aussage, verfolgt eine Prämisse.

Über diesen Hinweis habe ich mich sehr gefreut - ich habe es ähnlich empfunden. Mir gefiel zwar die Formulierung mit dem Faden, andererseits erschien mir das auch zu plakativ, zu gewollt. Da glaubt man oft, es entstehe Wirkung, aber es passiert das genaue Gegenteil.

Vielen Dank für Deine Hinweise.
kiroly

 

Hallo @Friedrichard!

Vielen Dank für Deinen Kommentar!

Ich beginne meinen Kommentar zu deinem Kommentar mit deinem letzten Absatz (kleine possessive Spielerei :-D) ...

Manchmal schreiben wir [...] etwas, von dem wir nicht wissen, dass es uralt ist, als trüge das „Unbewusste“ die Erzählungen unserer Vorfahren weiter und würde durch - oft nur scheinbar - Neues ergänzt oder erweitert, dass das „kollektive“ Unbewusste (vor Ewigkeiten hab ich mal C. G. Jung gelesen) damit auch unsern Sprachschatz hütet. Und allemal äußert sich das Bewusstsein in der Sprache (oder grundsätzlicher: in dem, was einer tut. Kommunikation ist mehr als das Geplapper der Kommunikationsmittel. Und doch weiß man manchmal selbst nicht, was man da tut.

... der sehr gut die Empfindung zusammenfasst, die ich beim Lesen vieler Kommentare habe - viele lesen und sehen etwas in einem Text, auf das ich nie gekommen wäre und vor allem, was ich mir nie gedacht habe. Da verweise ich auf das, was ich @Carlo Zwei geschrieben habe, ich bin ja nicht der Oberleiter einer Schnitzeljagd und bin gespannt, ob diese oder jene Idee vom Leser entdeckt wird! Im Gegenteil, mich freut es sehr, wenn so viele unterschiedliche Ideen, Analogien, Gedanken, Referenzen, Hinweise, Schemata berührt und entdeckt werden. Oft fühle ich mich ein bisschen überfordert, da der Hinweis auf eine bestimmten Gedanken die Frage provoziert: Hast du dir das so gedacht? ... und ich denke mir: Äh, nein, irgendwie nicht, und in das "irgendwie" packe ich den zitierten Absatz hinein. Vielen Dank somit für die mythologische Nachhilfe, bei "Io" dachte ich tatsächlich kurz an den vulkanisch aktiven Jupitermond Io, der "irgendwas" mit griechischer Mythologie zu tun hatte und das "irgendwas" löse ich mal mit Deinem Hinweis auf, danke :-). Aber - du hast mir mit Io die Verbindungen von der Madonna via Isis hin zu Zeus gezeigt, sprich eine - ganz psychologisch-experimentell ausgedrückt, ohne dass ich das in diesem Kontext gutheiße - unabhängige Variable, die auf viele andere abhängige Variablen einwirkt. Aus diesem profanen Hinweis gehe über zur Bedeutung des "in Ordnung" in der heutigen Zeit, funktioniert doch nix in der Arbeitswelt ohne das Io-Kopfnicken der Pflegedienstleistung :-D

Okay, jetzt habe ich bisschen gesponnen, aber ist ja auch Samstag!

Die Flusenlese!

Der Bus kurvte, obwohl das Land flach und die Straße trocken lag
sollt vllt. im Plural enden, denn Land + Straße allein verlangen danach, selbst wenn eines von ihnen „flach“ + das andere „trocken“ liegt, das andere aber Teil des einen ist und aller Wahrscheinlichkeit nach so flach und trocken wie eines ums andere ...
Ich denk da mal weiter drüber nach ... Aber nicht mehr vorm Mittag ...
Und gleich der umgekehrte Fall
Er wusste, nach dem Trinken kam eine Wirkung, entlud sich eine unbekannte Kraft, die ihn tanzen und wackeln ließen, manchmal zittern.
Besser „eine Kraft, die ihn tanzen und wackeln ließ, ...

Habe ich umgeändert, danke, auch:

„Ja. Mama.“, keuchte er.
Entweder abschließender Punkt weg (was ja bei wörtl. Rede mit Begleitsatz üblich ist) oder Komma weg und „Keuchte“ mit Majuskel

Etwas presste an seinem Atem: Er atmet[e] gegen etwas, das er nicht benennen konnte.

Ja, lieber @Friedrichard, vielen Dank für deine Hinweise, auch für den Spass an der Sache trotz aller Tragik ... danke :-)

lg
kiroly

 

Hallo @kiroly,

Aber der Junge führte ihn an den Familienplaner der zwanzig Schriften Mutters und sagte, alles in Ordnung

Ich war mir jetzt gar nicht sicher, ob das die gleiche Geschichte ist, die mal "Chronisch betäubt" hieß. Bei der war es besonders das Unklare, was mir so gefallen hat, da gab es wenig zu greifen, man fühlte sich wie im Kopf des Jungen, der ja "anders" war, anders wahrnahm, weil chronisch betäubt.

Jetzt habe ich anfangs den Eindruck, von einem "Normalen" zu lesen, der das Anderswerden seiner Mutter beobachtet. Spannend, gut umgesetzt, aber nicht so subtil und neblig, betäubt, wie es mal war. Das kommt erst später, wie ich sehe. Vermutlich erleichterst du dem Leser so den Einstieg, weil er den Prozess miterleben kann. Schwierig zu sagen, was mir besser gefällt.

„Aber wir haben Hilfe, Johannes.
Trinke das hier.“

Das fiel mir schon beim ersten Lesen auf, hab's aber nicht erwähnt. "Trinke das hier" - das kann ich mir nicht vorstellen. "Trink das hier" schon eher. Aber wo ich herkomm, ist Hochdeutsch auch nur Zweitsprache, vielleicht ist das Woanders ja anders.

Dann drehte sie sich zur Seite, sah plötzlich in die ruhigen Augen ihres Sohnes, der auf dem Sofa lümmelte, überrascht, fing sich und sagte:
„Ich habe eine Überraschung für dich, Johannes.

Der Zweck des "überrascht" wird mir nicht klar, das könnte man für mein Empfinden ersatzlos streichen, zumal die Dopplung dadurch vermieden würde.

Ja, die Geschichte ist jetzt eindeutig zugänglicher und die "Probleme", die ich mal mit ihr hatte, dieses Gefühl, nicht alles verstanden zu haben, das ist verschwunden. Und wenn ich die Ursprungsversion nicht kennen würde, würde ich sie jetzt einfach nur loben und für toll befinden, sprachlich ist sie super sauber und ihre Besondersheit liegt für mich unter anderem in den vielen kleinen Mosaiksteinchenbildern, den Playmobilpackungen und den wuchernden Pilzen im Wald, die sich zu einem großen Ganzen zusammenfügen. Aber leider kenne ich die Ursprungsversion noch, und der große Zauber, der mal von ihr ausging, der ist für mich persönlich ein wenig verflogen.

Da gab es mal ein Wabern, ein Schlingern, ein Stauchen und Strecken wie die Graugummimasse, ein bisschen hat es sich angefühlt wie im Spiegelkabinett, diese verzerrten Spiegel auf dem Jahrmarkt. Und alles war Nebel. Jetzt ist alles ziemlich klar und eindeutig. Ich bin nicht mehr so nah an dem "Anders"-Jungen, sitze nicht in seinem Kopf, eher auf dem Schoß des Autors, der den Jungen wie eine Marionette seine Tänze aufführen lässt, ihm knappe Sätze in den Mund legt, um seinen Zustand zu verdeutlichen. Ich fand die Ursprungsversion mutiger und habe sie lebhafter, bunter und intensiver in Erinnerung als die neue Version.

Aber das ist mein persönlicher Eindruck. Die Überarbeitung selbst und das, was du dir dabei offenbar vorgenommen hast, ist dir trotzdem ausgezeichnet geglückt. Vielleicht kannst du trotzdem etwas aus meinem Kommentar mitnehmen, wenn nicht, ist er eben nur ein Eindruck :shy:

Bis bald,

Bas

 

Hallo @Bas,

vielen, vielen Dank für deinen Kommentar. Ich bin geschockt, wie viel Zeit vergangen ist, natürlich habe ich deinen Kommentar gelesen, aber ... ist das wirklich drei Wochen her? Oder fast drei Wochen?

Ich nehme deinen Kommentar als eine perfekte Zusammenfassung für, ich sag' es mal, zum "Nebel-versus-Klarsicht-Konflikt" meiner Schreibe auf:

Da gab es mal ein Wabern, ein Schlingern, ein Stauchen und Strecken wie die Graugummimasse, ein bisschen hat es sich angefühlt wie im Spiegelkabinett, diese verzerrten Spiegel auf dem Jahrmarkt. Und alles war Nebel. Jetzt ist alles ziemlich klar und eindeutig.

Ja, das stimmt absolut, es stimmt einfach so sehr. Ich bin gespannt, ob mir mal diese Quadratur-des-Kreises gelingen kann, beide Sichten zu vereinigen. Ist ein vages Ziel, kein Fluchtpunkt. Ich glaube, ich übertreibe nicht, ich habe perfekt verstanden, um was es dir geht. Vielen Dank - ich gewinne den Eindruck, dass deinemeine Texte auf, äh, darf ich so hochtrabend sein, ähnliche Denkart entstehen? Da bleibt mir gleich die Stadt N. hängen ...

Danke,
lg
kiroly

 

Hallo @Manlio!

Vielen Dank für Deinen Kommentar - ich schätze Deine Kommentare wegen ihrer Kürze und Präzision sehr.

ich schleiche, wie mancher hier im Forum zu sagen pflegt, schon eine Weile um deine Geschichte herum, hab auch ein paar Mal angefangen zu lesen, schnell wurde mir immer aufs Neue bewusst, das ist ein "schwieriger" Text, und gab es dann erst mal wieder auf.

Die anderen Kommentare habe ich nur überflogen. (Das ist eine freche Lüge, natürlich habe ich die Kommentare genau gelesen. Schließlich will ich nicht wie ein Idiot aussehen, wenn meine Anmerkungen unter deinem Text erscheinen.)


:-D . Aber schön, dass du den Text trotz seiner Schwierigkeit gelesen hast.

Ein Familienplaner aus fünf langen Spalten, ganz links – unter einer Zwiebel – Johannes, ihr Sohn, Mitte links – unter einem Kürbis – die Mutter. Die anderen Spalten blieben leer.

Kannst du das vereinfachen? Ich merke, wie sich bei diesem Satz mein Gehirn verknotet. Können es nicht einfach zwei Spalten sein?

Um mal blöd zu fragen, sie trägt doch "iO" bei dem Sohn und sich selber ein, oder?


Seltsam, jetzt fällt mir erst auf, wie kompliziert ich einen Alltagsgegenstand beschrieben habe. Deine Anmerkung habe ich übernommen.

Ja, das iO trägt sie bei beiden ein.

Du hast eine ganz eigenartige "Melange der Perspektiven" hier drin. Ich nenne nur ein paar Beispiele:

"In Ordnung kürzte Mutter mit „iO“ ab" -> scheint Johannes-Perspektive zu sein

"Johannes, ihr Sohn, Mitte links" -> Außenperspektive

"Mutter hatte eine merkwürdige Schrift." -> wieder eher aus Sicht von Johannes

"Im August füllte der Junge leere Tage aus" -> Wechsel in die Außenperspektive

Ist das so beabsichtigt? Ich will das nicht kritisieren, aber gibt es einen Beweggrund dafür? Könnte man auch konsequent bei Johannes bleiben, oder würde der Text leiden?


Hm, hm, hm. Nein, beabsichtigt war das nicht. Ich würde jetzt gerne schreiben, was ich mir alles dabei gedacht habe, irgendwas mit "Identitäten verschmelzen sich" - habe ich nicht. Ich empfand das Perspektiven-Potpourri als passender, als diffuser, andererseits zeigst du mir, dass ich genauer auf die Perspektive achten muss. Deine Frage kann ich, Manlio, leider nicht beantworten.

Mitte September fragte der Nachbar, ob alles in Ordnung sei. Ein dicker Mann. Er stand im Türrahmen, ein bisschen besorgt und verängstigt. Vielleicht fürchtete er Konsequenzen, warum auch immer.

Gänzlich überzeugt mich die Stelle nicht. Wieso ist der Nachbar verängstigt? Das scheint mir etwas viel. Und warum wird so herausgestellt, dass er dick ist?

Die Mutter stand auf dem Balkon und führte Selbstgespräche. Würde das für einen verängstigten Nachbarn ausreichen? Das "dick" habe ich gestrichen, danke dafür. Auch die Strahlen -

Für meinen Geschmack kommt das relativ spät. Ich möchte annehmen, dass die Mutter sich schon viel länger Sorgen wegen des Waldes macht, zumindest interpretiere ich diese ganzen "iO" so. Oder ist das jetzt ein neuer Gesichtspunkt, eine neue Erkenntnis, die ihr gekommen ist?

- habe ich früher eingeführt.

Aber der Junge sagte, nein, schlecht gegessen. Echt jetzt.
Brauchst du das "Echt jetzt"?

Habe ich gestrichen.

Sie trug InOrdnung in den Planer ein. Ausgeschrieben InOrdnung, ohne Leerstelle, das war selten.

Hm, ich weiß nicht. Besser fände ich es, sie schreibt weiter konsequent "iO", oder es ist wirklich das erste Mal, dass sie "InOrdnung" schreibt.

Die Stelle lasse ich so, da sie zum ersten Mal "InOrdnung" schreibt und nicht "iO".

Dann betrat er den Wald.

Das ist eine sehr schöne Stelle. Vielleicht könnte der Text noch besser werden, wenn du dich auf diese Angst vor dem Wald fokussierst und den Wald schon von Anfang an, und dann als durchgängiges Motiv einbringst?

Deinen Text habe ich mit viel Interesse gelesen. Du schaffst es, hier eine ganz einzigartige merkwürdige Atmosphäre aufzubauen. Wichtig ist der Erzählton, dass nie so ganz klar wird, was die handelnden Personen voneinander halten und wie ihre Innenwelt aussieht, und auch der Erzähler hält sich da sehr bedeckt.


Das freut mich sehr, Manlio. Ich wollte den Text in nächster Zeit überarbeiten, nein, moment, ich werde den Text in nächster Zeit überarbeiten: Dann, wenn ich genügend Abstand gewonnen habe, schon jetzt lese ich den Text ganz anders als noch vor einem Monat.

Vielen, vielen Dank für Deine Anmerkungen :-)
kiroly

Liebe Grüße
Manlio

 

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