Walpurgistag
Ich sitze seit einer ganzen Stunde in dieser bescheuerten Bahnhofswartehalle. Du hast gesagt wir treffen uns. Irgendwann Mittags hast du gesagt, irgendwann Mittags, und ich bin darauf hereingefallen und warte hier auf dich, weil ich dich mehr liebe als alles andere. Ich habe an dich geglaubt. Ich bin die Verlassenheit. Draußen regnet es. Die Tropfen fallen lärmend auf das Glasdach des Bahnhofs. Ich frage mich, ob es das Leben wert ist. Meine Eltern sind zerstritten, mein Vater weigert sich Unterhalt zu zahlen, er weigert sich mich zu finanzieren. Mein Studium erscheint mir sinnlos. Was will ich mit Denkansätzen und Methoden, wenn mein eigenes Leben ein einziges Chaos ist. Ich weiß nicht was ich mit meinem Leben anfangen soll, ich fürchte mich vor der Zukunft. Ich lebe meine Träume nicht. Ich habe wenig Freunde, die meisten von ihnen leben in anderen Orten. Ich gehe in keine Vereine, ich meide Gruppen, jemand Fremdes anzusprechen erscheint mir so unmöglich wie die Zeit einfach zurück zudrehen. Ich verstecke mich in meiner dunklen Wohnung. Ich verstecke mich vorm Leben. Ich bin die Angst. Auf den Sitzen neben mir sehe ich die Menschen. Alkoholiker, Geschäftsmänner, Hausfrauen. Sie alle machen mich traurig. Ihre ausdruckslosen Gesichter künden vom endgültigen Scheitern. Leben sie ihren Traum? Sturzbäche fließen die Glasscheiben herunter wie die Tränen von meinen Wangen. Ich bin die Verzweiflung.
Hinter den Geräuschen des Regens höre ich ein leises Summen. Erst noch verdeckt, dann immer klarer. Ja, der Alkoholiker vor mir bewegt seine Lippen. "Que sera, sera, Whatever will be will be, will be" murmelt er, die Bierflasche rhythmisch vor- und zurück bewegend. Die Hausfrau neben ihm beginnt schrill mitzusingen, der Geschäftsmann schaut kurz hinter seiner Zeitung hervor, er lächelt, dann hebt er sie wieder vors Gesicht, singt aber lauter als die beiden anderen zusammen. "The future's not ours to see" entfährt es mir, und unser Gesang verlässt die kleine Bahnhofswartehalle und schallt hinaus. Alle Menschen im Bahnhof beginnen plötzlich mitzusingen. Es singt die die Frau am Ticketschalter, es singt der Japaner am Ticketautomat, es singt der Punk mit seinem Hund, es singt sogar der halb taube Zeitungsverkäufer und wirft vor Freude das Kleingeld in die Luft. "Que sera, sera" prasselt der Regen im Takt auf das Dach, "Que sera, sera" singen die Menschen und die Tiere. Die Luft ist voll von Melodie und Freude, alle werfen ihre liebsten Dinge in die Höhe. Es regnet Luftschlangen und Konfetti, eine Kapelle von 50 Leuten marschiert in den Bahnhof hinein und spielt und paukt und trompetet so herzzerreißend, dass nun selbst die Senioren und die Armen und die Kranken und die Gebrechlichen anfangen wild zu tanzen. "Whatever will bee will bee" und der Bahnhof ist ein Gewirr aus Farben und Melodie, und der Regen endet und die Sonne funkelt so hell wie noch nie durch die Glasfenster und bescheint alle Menschen wie zur Belohnung, so als wolle sie selbst mittanzen und ihr all ihr Licht für die Freude verschwenden.
Und in diesem freudigen Chaos öffne ich langsam die Tür der Wartehalle. Alle scheinen sich zu umarmen und zu tanzen. Vom Eingang bis zu mir gehen plötzlich alle Menschen ein wenig zur Seite. Es bildet sich plötzlich ein kleiner, gerader Gang. Wie von tausend Spiegeln zurückgeworfen bündelt sich das Licht am Eingang des Bahnhofs. Und aus diesem Meer aus Licht trittst du. Du trägst ein Kleid wie eine Prinzessin und dein langes Haar ist wunderschön. Du lächelst mich an und ich lächle zurück, und langsam schreiten wir aufeinander zu und umarmen uns tief genau in der Mitte es Bahnhofs. Alle jubeln und jauchzen. Doch wir beide schauen uns nur gegenseitig in die Augen, die Hände hinter dem Hals des anderen verbindet. "The future's not ours to see" flüsterst du und schaust ein wenig verlegen, dann küssen wir uns, so warm und tief wie noch nie. Und alles wird auf einmal still.