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Wartezimmer des Todes
Schweißperlen liefen ihm das ausgemergelte Gesicht hinab. Der salzige Geschmack erinnerte ihn an einen längst vergangenen Urlaub am Meer. Plötzlich wurde aus dem Krankenzimmer ein Strand an der französischen Mittelmeerküste. Die Sonne schien, Wellen umspülten seine nackten Füße und am Horizont konnte er die Segel eines Fischerbootes erkennen. Er schmeckte den herben Rotwein, den Eva und er abends getrunken hatten, er roch den gegrillten Steinbutt, den sie so gerne gegessen hatte und er spürte ihre warmen Küsse in seinem bartstoppeligen Gesicht.
„Vater?“ Ein Flüstern, leiser als der Flügelschlag eines Schmetterlings, vertrieb das Meer und die Sonne und Eva. Zurück blieb das karge, weiße Krankenhauszimmer.
Paul reagierte nicht, hielt die Augen immer noch geschlossen.
„Vater?“ Diesmal in normaler Lautstärke.
„Schrei mich nicht so an, ich bin ja nicht taub.“
„Ich dachte..., ich meine..."
Paul öffnete die Augen und sah Thomas vor seinem Bett stehen.
Der aufdringliche Geruch nach Eternity verriet, dass Christine ebenfalls da war. Später würde er das Zimmer lüften müssen. Bei seinem Glück hatte sie die beiden Blagen ebenfalls mitgebracht.
„Du dachtest, ich hätte den Löffel schon abgegeben. Tja, da muss ich dich enttäuschen. Noch röchle ich hier vor mich hin.“
Wie zum Beweis wurde er von einem hektischen Hustenanfall geschüttelt. Er hielt sich ein Taschentuch vor den Mund und inspizierte anschließend mit pathologischem Interesse die rötlich gefärbten Brocken.
„Vater, das ist widerlich.“
„Rutsch mir den Buckel runter.“
Paul knüllte das Taschentuch zusammen und legte es zurück in die Schublade.
„Hast du daran gedacht“, fragte er und schaute seinen Sohn das erste Mal direkt an.
„Schwiegervater, schau, wen wir mitgebracht haben.“
Paul schaute weiter seinen Sohn an, der sich auf seinem Stuhl wand.
„Sagt eurem Großvater Guten Tag.“
„Die Rotzlöffel sollen bleiben, wo sie sind“, schnauzte er, ohne den Blick von seinem Sohn zu nehmen.
„Aber Schwiegervater, wie kannst du...“
Mühsam drehte er sich um. Die beiden Mädchen sahen ihn mit großen Augen an. In ihrer Mitte saß Christine. Und obwohl es ihr sichtlich Mühe bereitete, schenkte sie ihm ein Lächeln, das sie sicherlich für bezaubernd hielt. Sie grinst wie eine Hyäne, dachte Paul.
„Halt dieses eine Mal die Klappe. Ich unterhalte mich mit deinem nichtsnutzigen Mann.“
„Aber Vater, so kannst du doch nicht mit Christine reden.“
Paul drehte sich wieder zu seinem Sohn. Jeder verdammte Knochen tat ihm weh.
„Hast du?“, fragte er.
„Nein, ich habe nicht“, antwortete Thomas nach kurzem Zögern
„Warum nicht?“ Pauls Stimme war jetzt nur noch ein Flüstern. Jede Kraft schien seinen ausgemergelten Körper verlassen zu haben. Wieso hatte ihm Thomas diesen Wunsch nicht erfüllt? Jeder zum Tode Verurteilte hat einen letzten Wunsch, der ihm erfüllt werden muss, dachte Paul.
„Du bist ein älterer Mann, um nicht zu sagen, ein alter Mann in einem Krankenhaus...“
„Du sollst die Schnauze halten, wenn ich mich mit meinem Sohn unterhalte.“
Christines Einwand hatte ihn wieder belebt.
„Also, warum hast du mir meinen Wunsch nicht erfüllt?“
„Eine Stereoanlage, Vater, ich bitte dich. Keiner deiner Zimmergenossen hat eine Stereoanlage.“
„Die sind doch alle schon tot.“
„Vater, sei doch bitte etwas leiser.“
„Ich werde noch früh genug leise sein.“
„Warum kannst du dich nicht einmal deinem Alter entsprechend verhalten?“ Thomas schnaufte, hob die Schultern und ließ sie langsam wieder sinken, eine Geste, die Paul nur zu gut von sich selbst kannte. Trotzdem hatte er kein Mitleid mit seinem Sohn.
„Meinem Alter entsprechend. Ha, du hast ja keine Ahnung. Alt zu werden ist die Strafe für ein langes Leben. Das Alter ist ein absolut beschissener Zustand.“
„Vater, bitte, die Kinder.“
„Die werden’s auch noch erfahren. Gib mir eine Zigarette.“
„Nein, ich werde dir keine Zigarette geben. Wir sind hier in einem Krankenhaus und du hast Lungenkrebs.“
„Erzähl mir nicht, was ich schon weiß. Gib mir eine Zigarette oder geh zum Teufel.“
„Vater, ich weiß nicht...“
„Aber ich. Gib her.“
Paul zündete sich die Zigarette an, inhalierte tief und schaute gedankenverloren dem Rauch nach, den er aus seiner Nasenhöhle entweichen ließ.
„Wenn man jung ist, ist alles wunderbar, ein einziger langer Sommer. Die Nächte sind wärmer, die Sterne strahlen heller, die Mädels sind weicher und williger. Wenn man jung ist, ist man nicht krank, man hat höchstens zu viel getrunken. Alle Freunde leben noch, und man unterhält sich nicht über Prostatabeschwerden sondern über Motorräder, Mädels und Musik.
John Lee Hooker gab mir den Blues, die Stones machten mich zum starken Mann, die Beatles entführten mich nach Liverpool und Springsteen zeigte mir die USA.“
Vorsichtig drückte Paul die Zigarette in einer leeren Puddingschüssel aus.
„Die Nächte in diesem weißen Zimmer sind kalt, die Sterne nicht zu sehen, all meine Freunde sind verkalkt, in ein Altersheim abgeschoben oder gestorben und Eva ist auch schon lange nicht mehr unter den Lebenden.“ Pauls Stimme war immer leiser geworden, doch jetzt erhob sie sich noch einmal.
„Und da gönnt mir mein verfluchter Sohn noch nicht einmal, dass ich mir in den letzten Stunden meines verdammten Lebens die Musik anhören kann, die mir gefällt. Ohne Stereoanlage brauchst du dich hier nicht mehr sehen zu lassen.“
„Thomas, wir gehen.“
Christine sprang auf, zerrte die Mädchen aus ihren Stühlen und raste aus dem Zimmer.
Paul sah seinen Sohn an. Der zuckte mit den Schultern und stand ebenfalls auf.
„Du änderst dich nie – noch nicht einmal hier“, sagte er.
Dann ging auch er hinaus.
Paul schloss die Augen.
Nach einer winzigen Ewigkeit hörte er, wie jemand die Tür öffnete und an sein Bett kam.
„Guck mal, Opa, ich habe dir meinen Diskman mitgebracht.“
Er schaute auf. Susanne stand vor ihm. Oder war es Sabine? Er konnte die beiden Gören einfach nicht auseinander halten.
„Und noch zwei CDs. Die sind von Sabine. Ob die Beatles da drauf sind, weiß ich aber nicht.“
Vorsichtig nahm er ihr den Diskman aus der Hand. Und wieder schmeckte er den salzigen Geschmack des Meeres. Doch diesmal waren es Tränen, die ihm über das Gesicht liefen.