Warum enden alle Geschichten mit dem Tod?
Mein Freund schreibt Geschichten, er schreibt sehr gut, ich lese viel von ihm.
Früher schrieb er von romantischen Sommer- oder Herbsttagen und von Alltagshelden, die sich zum Schluss selbst überwinden müssen, um der Bedrohung zu entrinnen oder ihre hochgesteckten Ziele zu erreichen. Heute haben es seine Helden leichter. Sie müssen nur noch sterben. Mein Freund sagt, so bekommt jede Geschichte ein überraschendes Ende. Ich glaube ihm. Es ist ganz einfach: Nachdem sich der Held zum Schluss nicht selbst überwunden hat, sondern alles beim Alten bleibt, überfährt ihn ein Lastwagen oder ein anderes Auto, oder er stirbt schließlich doch an dem Krebs, den er ja noch hatte bevor er sich selbst nicht überwand. Vielleicht ist die Geschichte auch so traurig, dass sich der Freund am Ende erhängt, erschießt, ersticht oder er springt von einem hohen Turm. Mein Freund mag hohe Türme, die benutzt er oft. Das Raffinierte an den Geschichten ist, dass man nie ahnt, dass den Held schon bald der Tod ereilen wird. Die Bäckerin stirbt genau so wie der trinkende Rechtsanwalt, der Schüler von nebenan (von dem man es ja nie gedacht hätte) genau so wie dessen Biolehrer.
Jedes Mal wenn er mir eine Geschichte gibt, denke ich "Der schafft's!" und dann wacht er am nächsten Tag doch nicht mehr auf - Herzattacke. Bevor er mir Geschichten gibt, sagt mir mein Freund immer "Die hat ein überraschendes Ende. Bin gespannt ob du es davor erahnst." Ich antworte dann "Bestimmt nicht" und bin völlig ehrlich dabei.
Einmal hat er mich ganz besonders überrascht. Da war diese Geschichte von der Frau, die sauer auf ihren Mann ist weil sie herausfindet, dass der mit ihrer Kollegin fremd gegangen ist. Wie aus dem Leben! Jedenfalls schimpfte die Frau mit ihrem Mann, doch sie kamen zu keinem Ergebnis, daher blieb erstmal alles so wie es war. Und dann kam nur noch ein letzter Satz:
"Sie ging zu Bett und starb..."
Ich musste weinen als ich das las, auch wenn mich die Frage drängte, warum sie nun gestorben war. Ich rief meinen Freund an, fragte ihn gleich: "Warum?". Er schnaufte nachdenklich, dann sagte er, wie in wundervoll poetischen Gedanken versunken ein einziges, tiefes Wort: "Tja..."
Mein Freund schrieb Geschichten, die las ich gern. Freitag ist er gestorben. Wer hätte das gedacht. Aber das ist nicht so schlimm, weil ich mir schon bei der Beerdigung überlegte, über ihn zu schreiben. Erst recht weil der Augenblick nun so perfekt ist. Ganz am Ende, dachte ich, erwähne ich in nur wenigen Sätzen seinen Tod. Dann steht sein genialer Kopf im Mittelpunkt, nicht der Tod. Der verdient das gar nicht.
Auch habe ich mir etwas ganz Geniales überlegt. Um dem Ganzen eine mysteriöse Note zu geben, sage ich nicht, wie er gestorben ist und beende die Geschichte mit einem einprägsamen, tiefen Satz. Das hätte mein Freund sehr gemocht.
Freitag ist er gestorben.