Warum es Sinn macht, ab und an seinen Mund zu benutzen
Warum es Sinn macht, ab und an seinen Mund zu benutzen
Diagnose: Brustkrebs!
Ein niederschmetterndes Ergebnis. Man sitz da, ist zutiefst erschüttert und tausend Gedanken jagen einander in wilder Hatz. Man möchte die Zeit zurückdrehen, vergessen, was man soeben erfahren hat, oder aber zumindest die Kraft haben, es zu leugnen.
Doch zunächst einmal geschieht nichts.
Vollkommen gelähmt sitzt man da und hat noch nicht genug Eindrücke und Gefühle verarbeitet, um überhaupt an ein Morgen zu denken. Ein Augenblick, der ewig erscheint.
Irgendwann beginnt man dann Rückschlüsse zu ziehen:
Wie konnte es soweit kommen? Was habe ich falsch gemacht? Was kommt nun auf mich zu? Was muss ich tun? Wird es schmerzhaft? - Warum ich?
Es gibt niemanden auf der Welt, der auf diese Fragen befriedigende Antworten hätte.
Viele schweigen sich aus, verdrängen, geben auf, oder sich selbst in die Hände der Ärzte; wenige gewinnen.
Jeder von uns, kennt die Geschichten der Nachbarn, der Prominenten in Film und Fernsehen, manches vielleicht auch aus dem Freundeskreis. Und niemand ist darauf vorbereitet, dass es ihn selber treffen könnte, oder einen seiner Allernächsten.
Dann das Ergebnis, der Schock, die Verzweiflung.
Meine Oma ist schon alt. Sie ist fast achtundachtzig! Es gibt viele, weitaus jüngere Frauen, die mit diesem Schicksal zu kämpfen haben. Aber das Wissen darum, macht es nicht leichter, schließlich wünscht man niemandem den Tod. Es ist kaum ein Jahr her, dass sie ihren Mann zu Grabe tragen musste – ein schwerer Schlag, waren die Beiden doch fast sechzig Jahre ohne Unterbrechung beisammen. Oft habe ich versucht mir eine derartige Zeitspanne überhaupt einmal vorzustellen, ich, die ich alleine wohne seit vielen Jahren und lange Partnerschaften aus unserer Generation kaum mehr kenne. Aber es ist wie es ist, ob man es nun Menschheitsentwicklung oder Vereinsamung nennt.
Und so stehe ich irgendwann mit diesem Ergebnis da und hinter meiner Stirn spielen sich die Abläufe ab, die so manch ein Mensch schon erleben musste. Doch auf jeden noch so schweren Schock folgt irgendwann auch eine Ernüchterung und man beginnt nachzudenken.
Ab diesem Punkt, gibt es zwei Dinge, die man tun kann: sich vollkommen aufgeben, oder kämpfen!
Wir haben beschlossen zu kämpfen.
Es ist ein Montag, an dem wir uns letztendlich auf den Weg ins Krankenhaus machen. Ein kleiner Bus ist unser Gefährt; vorn': meine Oma - auf dem Beifahrersitz, neben meiner Tante -, auf der Rückbank: ich.
Das Erste, was Oma mir erzählt ist, dass sie am vergangenen Abend einen Joghurt gegessen hat, der vermutlich nicht mehr gut war. Nicht, dass Oma sich dessen nicht bewusst gewesen wäre, aber man darf doch nichts verkommen lassen! Sie habe sich dann ein homöopathisches Kissen auf den Bauch gelegt und schlecht geschlafen in der Nacht. Zwei Tage vor ihrer Operation!
Ich schütt'le lächelnd den Kopf, verkneife mir ein Grinsen. Auf ihre Bitte hin, verspreche ich, es niemandem zu sagen. Sie wird es ohnehin selber erzählen.
So fahren wir los.
Der Weg ist nicht weit, normalerweise eine halbe Stunde. Die Frauenärztin war es, die uns diese Klinik empfohlen hatte und bei einem ersten Gespräch mit dem Chefarzt Dr. Schlingerath bestätigte sich der Ratschlag. Wir waren sehr zufrieden.
An diesem Morgen allerdings, hat es – womit niemand rechnete – einmal wieder geschneit. Es bleiben zwar keine weißen Flocken liegen, aber der Dunst und die Sichtweite auf der Autobahn machen die Hinfahrt nicht gerade angenehm. Wie üblich nehmen wir dann auch noch die falsche Abfahrt und landen in der verkehrten Richtung; die Nerven der Oma liegen blank. Sie kommt von Hölzchen auf Stöckchen.
Ihre derzeit größte Sorge ist die Tatsache, dass wir das gemeinsame Grab in Unordnung bringen, sollte sie bei der Operation oder an dem Krebs versterben.
„Jetzt haben wir das gerade so schön gemacht und nun müsst ihr es für mich wieder aufmachen.“, lauten ihre Worte. Was kann man auf etwas Derartiges erwidern? Zärtliches Rügen von Seiten der gesamten Familie 'sie solle es ja nicht wagen, sich so einfach aus dem Staub zu machen', hat es mehr als genug gegeben. Ebenso wie belustigtes Schmunzeln über ihre Stärke, von der man nicht immer genau sagen kann, ob es blinder Glaube, oder tatsächliche Selbstlosigkeit ist.
Aber auch die gute Schlafzimmereinrichtung, die sie und der Opa für teuer Geld erstanden haben, und die vermutlich nach ihrem Ableben an der Strasse landen wird, ist morgendliches Gesprächsthema. Sicher wird sie das! Vielleicht erbarmt sich eine Familie ihrer, aber wir leben in modernen Zeiten, in einer Wegwerfgesellschaft, und wie lieb und teuer uns ein Bett auch sein mag, wir besitzen bereist ein eigenes.
Oma kann das nicht verstehen.
Sie hat den Krieg erfahren, die Armut, den Hunger. Jedes Hab und Gut hatte seinen Wert und von Zeit zu Zeit glaube ich sie zu verstehen, auch wenn ich es selbst nicht erlebt habe. Dann tut es mir leid um die vielen Dinge und Rohstoffe, die wir einfach so, gedankenlos verpulvern.
Bedauerlicherweise habe ich auch heute wieder einmal nicht genügend Freiraum, über solche Dinge nachzudenken. Die Zeit drängt, das Krankenhaus wartet. Aber wer weiß, vielleicht werden wir am Ende unserer Tage nicht anders reden.
Letztendlich schaffen wir es aber doch noch pünktlich zum Termin um Neun, wenn auch unter Umständen.
Angesichts des Krankenhausumfangs ist der Parkplatz viel zu klein, die einzige Parkbucht so schmal, dass wir mit dem Bully natürlich nicht hineinkommen. So packe ich mir meine Oma unter den Arm und überzeuge sie gemeinsam mit meiner Tante, dass es Sinn macht, wenn wir beide schon einmal voraus gehen. Oma ist einverstanden.
Im Eingangsbereich der Klinik jedoch, kommen ihr natürlich Bedenken: Wie soll meine Tochter uns finden?
„Deine Tochter ist klug genug, sie wird uns schon finden und ansonsten wird sie an der Rezeption nachfragen.“, sage ich ihr. Zwar ist Oma mit dieser Antwort nicht zufrieden, aber zumindest fügsam. So bringen wir die Anmeldung hinter uns, werden auf eine Station verwiesen und erreichen unter weiteren, missmutigen und skeptischen Protesten ihrerseits das Schwesternzimmer.
Ich reiche die Unterlagen ein: eine Vollmacht ihrer beiden Töchter, Befunde ihres Hausarztes, eine Patientenverfügung darüber, dass es keine lebensverlängernden Maßnahmen geben soll, im Falle, dass ...
Zum ersten Mal an diesem Tag, scheint alles glatt zu laufen. Kurzes Aufatmen.
Es dauert nicht lange und wir sitzen, zusammen mit meiner Tante, im Krankenzimmer und beantworten artig die Anfragen der Schwester: welche Medikamente sie nimmt, wann die letzte Narkose war, ob es Komplikationen gab ... Abgesehen von einem ganzen Sortiment an Pillen und Tröpfchen – Medikamente gelten ja nun grundsätzlich als heilsam und ohne Nebenwirkungen; aber es sind auch aufbauende Naturpräparate dabei - gibt es wenig zu berichten. Meine Großmutter war schon immer sehr zäh. Noch nie hatte sie mit Herz-Kreislaufproblemen zu tun, einzig ihre Osteoporose macht ihr von Zeit zu Zeit zu schaffen.
Und nach diesem ersten Gespräch und der einhergehenden Bestandsaufnahme, haben wir einen Augenblick Ruhe. Wir nutzen ihn, um ihren Schrank schon einmal einzuräumen. Natürlich entspricht die Zimmernachbarin nicht ganz den Vorstellungen der Oma. Die Frau aus Kasachstan spricht ein wenig zu gebrochen und isst auch zu wenig für ihren Geschmack. Zudem ist sie unglaublich groß gewachsen und ihre Tochter ebenso, was Oma zu einem fragwürdigen Gesichtsausdruck veranlasst, den wir getrost übergehen. Sowohl meine Tante, als auch ich, sind froh eine derart freundliche und hilfsbereite Mitbewohnerin für unsere Oma zu haben, die auch mal ein Auge auf die alte Dame wirft, wenn wir vielleicht schon auf dem Heimweg sind.
Aber bis dahin ist es noch ein langer Weg.
Zunächst einmal stehen noch ein Dutzend Untersuchungen an.
Hiervon geht das EKG am schnellsten. Kaum zehn Minuten Wartezeit, weniger als fünf bei der Untersuchung der Herzströme. Schon sind wir wieder auf dem Weg ins Zimmer, eine weitere, nicht enden wollende Pause beginnt. Auf Anfragen im Schwesternzimmer, wann denn die Lunge geröntgt würde, erhalten wir nur ein halbherzig besänftigendes Kopfschütteln:
„So etwas wird zwischendurch gemacht.“
Also: Sitzen und weiter Warten.
Wahlweise gibt es draußen auf dem Gang Tee für alle – umsonst.
Als dann gegen halb zwölf das Mittagessen herein gebracht wird, entschließen meine Tante und ich uns ebenfalls für ein knappes Mahl. Nur wenige hundert Meter vom Hospital entfernt, werden wir fündig. In einem Bistro, das erstaunlich billig für die vielen Krankenhausbesucher gehalten ist, bekommen wir eine Portion Nudeln in Lachs-Sahnesauce. Es schmeckt ausgesprochen gut. Von der Kantine des Krankenhauses wurde uns abgeraten.
Eine knappe Stunde später, zurück im Zimmer bei Oma, berichte diese uns, dass sie bereits ein ausführliches Gespräch mit dem Stationsarzt hinter sich hat.
„Der hat so viel erzählt, dass konnte ich gar nicht alles behalten!“
Meine Tante und ich wechseln einen Blick.
„Ich höre mal nach,“ sage ich und verlasse das Zimmer.
Auf dem Flur, draußen, gegenüber ihrer kleinen Welt, liegt das Schwesternzimmer. Doch noch ehe ich dazu komme, die Damen um Rat zu fragen, taucht eine weitere Person aus dem Zimmer direkt daneben auf. Ein junger Mann – kaum mein Alter, aber unverkennbar ein Arzt – sieht mich fragend und freundlich an.
„Kann ich ihnen helfen?“
„Waren sie bei meiner Oma?“, platzt es aus mir heraus. „Frau Friedrich.“
Er sieht mich etwas verdattert an, ob meiner forschen – und durchaus unbedachten Frage -, fängt sich aber schnell und erkundigt sich in leicht gebrochenem Deutscht weiter:
„Ja, haben sie noch Fragen?“
„Einen Augenblick!“, sage ich und gestikuliere mit den Händen. „Ich hole eben meine Tante dazu.“
Zwar bemerke ich aus den Augenwinkeln, wie der Stationsarzt noch versucht, mich zu bremsen, aber ich habe die halbe Körperdrehung schon hinter mir und bin nicht bereit mich abfertigen zu lassen. Innerhalb von fünf Sekunden, habe ich die Tür aufgestoßen, meiner Tante mit zwei Worten und einer knappen Geste mitgeteilt, dass sie kommen soll und bin schon wieder auf dem Weg zu dem jungen Griechen, der noch genauso perplex im Türrahmen seines Zimmers verweilt, wie ich ihn stehen gelassen habe.
Trotz dieses ungewohnten Umgangs ist er uns freundlich gesonnen, beteuert noch einmal, dass bei Oma nichts zu viel und nur sehr sparsam entfernt würde. Zudem erklärt er auch erneut, dass noch die Röntgenaufnahmen der Lunge ausstünden, bevor über den Verlauf oder die OP ein abschließendes Gespräch geführt würde. Mit anderen Worten: wir sind zwar nicht zufrieden gestellt, aber immerhin beruhigter.
Allerdings entgeht uns dank dieser überhasteten Ereignisse, das unsere Großmutter bei diesem Arzt bereits zur Blutuntersuchung war. So ist es nicht verwunderlich, dass wir uns später auch wegen dieses Themas noch einmal auf zu den Schwestern machen und Verwirrung stiften.
Doch zunächst einmal geht es zurück in Omas Zimmer, wo sie uns freudestrahlend mitteilt, dass in den wenigen Minuten, in denen wir mit dem Stationsarzt sprachen, bereits der nächste Doktor bei ihr war. Ernüchtert und mittlerweile leicht gehetzt, stellen wir fest: wir haben den Anästhesisten verpasst! Es beginnt anstrengend zu werden.
Glücklicherweise ist da die Frau aus Kasachstan, die mit Oma das Zimmer teilt, und uns versichert, dass der Narkosearzt einen erneuten Besuch im Laufe des Nachmittags machen wird. Ein wenig Erleichterung macht sich bemerkbar.
Wie auf Befehl schleicht die Zeit wieder einmal dahin.
Zwischendurch geht es zum Lunge röntgen, eine kurze Prozedur. Fünf Minuten Wartezeit, in denen uns eine andere ältere Dame ihr Leben schildert: Zwölf Kinder!
Ein Junge, ein Mädchen, ein Junge, ein Mädchen; weiter: ein Junge, ein Mädchen, wieder: ein Junge, ein Mädchen ...
„Und dann vier Schicksen!“
Wir wechseln einen erstaunt-verschwörerischen Blick. Was es nicht alles gibt ...
Zwanzig Minuten später weiteres Zeit-totschlagen auf dem Zimmer.
Mittlerweile macht sich der fehlende Mittagsschlaf bei Oma bemerkbar: sie gähnt.
Etwas auf's Bett legen? Ein Nickerchen? - Nein! Sie ist nicht müde. Diese Blöße gibt sie sich noch nicht.
Wir akzeptieren ihre Entscheidung und sind erleichtert, nachdem neuer Besuch in Form der Familie ihrer Zimmergenossin aufgewartet ist.
Es herrscht ein wenig mehr Leben in diesem kleinen Raum, der zu eng, zu schlecht belüftet und überhaupt von negativen, traurigen, oder schmerzvollen Gedanken belastet ist.
In ein leicht betretenes Schweigen gehüllt, harren wir der Dinge, die da kommen.
Irgendwann ergreift Oma wieder das Wort; sie war noch nie gut im Schweigen.
Sie sieht mich an.
„Möchtest du mit mir tauschen?“
Ich spüre förmlich, wie mir die Kinnlade herunterfällt, schaffe es aber – ob aus Verblüffung, oder Rationalität – meine Miene zu wahren. Erster Gedanke: Ja! - Menschen neigen zu Floskeln, selbst, wenn diese völlig irrational sind -; Zweiter Gedanke: Auf keinen Fall!!
Ich starre sie einen Augenblick völlig perplex an, eh mich zu einem „Die Frage war gemein, Oma!“ durchringe.
Sie lächelt mich an, hat es ohnehin nicht ernst gemeint, und bemerkt vermutlich nicht einmal, wie tief gehend eine solche Äußerung sein kann. Ein kurzer Blick zu meiner Tante, sagt mir, dass auch ihr keine passende Antwort einfällt.
Daher sind wir mehr als dankbar, als endlich wieder eine Schwester auftaucht, die uns zum nächsten Termin schickt, diesmal beim Oberarzt. Die Uhr schlägt Fünf.
Ohne lange Wartezeiten gelangen wir ins Sprechzimmer eines Dr. Grabowskis. Dieser wird jedoch, kaum dass wir im Behandlungsraums angekommen sind, mit einem Anruf zu einer Besprechung abbestellt. Hin und her gerissen, zwischen Pflicht und weiterer Pflicht, entscheidet er sich schließlich für wenige Minuten zu unseren Gunsten. Ein rasches Abtasten von Omas Brust erfolgt, eine knappe, rein schulmedizinische und wenig menschliche Äußerung wie viel man wo wegnehmen müsste. Statistische Fakten über einen Menschen, der einem am Herzen liegt.
'Was denn mit den Röntgenbildern der Lunge wäre?', erkundigen wir uns. Diese sollten doch geprüft und danach noch einmal entschieden werden. Sollte ein Ergebnis auf Lungenkrebs deuten, so wäre ein erneutes Überdenken der Situation erforderlich gewesen. Doch statt einer eindeutigen Antwort werden wir mit der knappen Erklärung abgespeist, dass der Befund erst in zwei Tagen da wäre.
Wir sind schockiert!
'Er müsse nun zu seiner Sitzung', erklärt der Oberarzt uns und eilt von dannen, ehe wir Einwände erheben können.
Vor den Bug geschlagen und mehr als nur ein wenig ernüchtert, verlassen wir seinen Raum, wanken zurück zum Zimmer, einen schweren Kloß in Hals und Magen. Eine unbedeutende Nummer sind wir. Eine Zahl auf Papier, falls überhaupt. Was können wir tun?
Einen Blick zurück werfend, sehe ich, wie der Oberarzt in einem anderen Zimmer verschwindet. Ich lasse Oma und Tante die letzten Meter alleine zurückgehen, kehre noch einmal um.
Misstrauen steht nun an erster Stelle, Unzufriedenheit und Zweifel!
Auf dem Schild zu jenem anderen Raum steht 'Kreissaal'.
Seltsam, aber es wird schon seine Gründe haben.
Ich sehe wenig Chancen, dort einfach anzuklopfen, auch wenn mir danach ist.
Zurück im Zimmer allerdings finde ich keine Ruhe. Ich muss noch einen Versuch wagen. So kann es nicht enden.
„Ich geh noch einmal auf Streifzug,“, erkläre ich meiner Tante und verschwinde wieder auf dem Gang, mit der festen Absicht den Chefarzt, jenen, der das erste Gespräch führte und einen guten Eindruck hinterließ, in seiner Praxis, im Haus, aufzusuchen.
Keine Sekunde zu früh.
In dem Moment, da ich die Tür öffne, geht am anderen Ende des Ganges eine zweite auf.
Ich sehe den Chefarzt, sehe Assistenzärzte – oder wen auch immer -, verharre eine Sekunde, zugleich sowohl gelähmt, als auch motiviert.
Jetzt oder nie!
Mit einem gelassenen, aber zügigen Schritt, komme ich Dr. Schlingerath entgegen, gerade so schnell, dass wir uns in der Mitte des Flures treffen. Ohne Zweifel ist er in Eile, sein Handy bereits zwischen den Fingern. Dennoch schenkt er mir sein, für ihn typisches, freundlichstes Lächeln, reckt mir die Hand entgegen, die ich ergreife.
„Haben sie einen Augenblick Zeit?“, frage ich und vermutlich kann man mir meine Unsicherheit ansehen.
Der Chefarzt deutet ein Nicken an und ich erkläre ihm in wenigen Worten, dass meine Tante und ich ein wenig verwirrt sind, ob der unterschiedlichen Aussagen von ihm und Oberarzt, was die Lunge meiner Großmutter betrifft. Um so mehr bin ich erstaunt, als der Ranghöchste der Station ohne Umschweife sein Telefon zückt.
„Schauen sie doch bitte mal bei den Radiologen hinter die Kulissen wegen der Bilder von Frau Friedrich. Und informieren sie dann die Enkelin darüber!“
Ich bin baff, gefangen zwischen Euphorie und einem letzten Funken Zweifel. So etwas kennt man kaum noch! Ich habe mich also nicht geirrt, es gibt auch in den schlimmsten Maschinerien noch einzelne Menschen mit Herz und Verstand. Und just in diesem Augenblick, kommt auch mein Objekt des Anstoßes um die Ecke, stutzt, geht einen Schritt, stutzt erneut, als er mich erkennt. Es ist förmlich auf den Zügen des Oberarztes abzulesen, wie seine Mauer in sich zusammenfällt, während er eins und eins zusammenzählt. Er verharrt, einige wenige Sätze werden gewechselt, dann verschwindet Dr. Grabowski, ohne ein weiteres Wort an mich, hinter seiner Tür.
Ich triumphiere! Am liebsten würde ich die Faust gen Himmel reckte. Übergeh mich ruhig! Sei sauer! Ich gebe mich nicht kampflos geschlagen!
Völlig beeindruckt, aber vor allem dankbar, verabschiede ich mich von Dr. Schlingerath und beeile mich, zurück zu Oma und Tante zu kommen.
Alleine mein kaum zu unterdrückendes Grinsen spricht Bände von meinem gerade Erlebten und veranlasst meine Verwandten zu einem neugierigen Blick.
Ich lächle sie an, nicke viel sagend, setzte mich zu ihnen, um zu berichten.
Kaum eine Viertelstunde dauert es, ehe der junge griechische Stationsarzt uns erneut aufsucht, um mitzuteilen, dass die Röntgenbildern in Ordnung seien. Er ist bereits dabei, den Raum wieder zu verlassen, aber, angefeuert von einer erfolgreich gemeisterten Situation, gebe ich mich an diesem Tag nicht mehr so leicht geschlagen.
„Gibt es denn nun noch ein abschließendes Gespräch?“, nagle ich ihn inmitten des Türrahmens fest, während deutlich zu spüren ist, wie er innerlich vor Verzweiflung aufschreit. „Und welcher Arzt ist denn an diesem Abend überhaupt noch hier?“
Der arme Kerl tut mir schon fast leid, mit seinem Hundeblick und den zweifelsfrei lesbaren Gedanken: 'Was wollt ihr von mir? Lasst mich doch in Frieden!'. Aber Gnade ist ein Wort, dass ich an diesem Abend nun auch nicht mehr kenne. Und letzten Endes lernt auch er schließlich aus dieser Situation – hoffentlich zum Guten!
'Er wäre noch hier', antwortet der Stationsarzt mir, mehr verunsichert, als routiniert und möchte vermutlich die Tür vor meiner Nase ins Schloss werfen. Wie ironisch, dass die guten Sitten es ihm verbieten.
Nachdem er mehr zu meiner, denn seiner Zufriedenheit 'entlassen' wurde, dauert es keine fünf Minuten, ehe die Stationsschwester erneut anklopft und uns auf einen Termin beim Oberarzt verweist.
Schmunzelnd machen wir uns auf den Weg.
Und eine weitere Zeit in einer Sitzgruppe folgt, in der wir erörtern, wie es zu einem zweiten Gespräch bei unserm derzeitigen Erzfeind kommen konnte. Dass der Chefarzt seine Hand über uns hält, steht außer Frage. So verwunderte es auch nicht wirklich, als die Stationsschwester wenige Minuten später erneut angeflitzt kommt, um uns darüber zu unterrichten, dass wir ja beim Chef- und nicht beim Oberarzt einen Termin hätten.
Ein viel sagender Blick zwischen meiner Tante und mir, muss an kaum erwähnt werden ...
Am Ende, nach nahezu zwölf Stunden Krankenhausaufenthalt von Morgens bis Abends, hatten wir zumindest ein beruhigenderes Gefühl in der Magengegend. Sicherlich ist eine solche Situation nichts, was man sich wünscht, aber mit ein wenig Ehrgeiz und guten Absichten, kann man einiges erreichen. Das abschließende Gespräch räumte natürlich nicht alle Sorgen und Zweifel aus, aber wir hatten es geschafft, dass man uns als Menschen und Familie wahrnahm. Und zu guter Letzt sogar ein abschließendes Gespräch beim Chefarzt bekommen, der in seiner menschlichen Art vieles an Last nehmen konnte, was sein Kollege zuvor aufgebaut hatte.
Guter Wille zahlt sich doch hin und wieder noch aus, sowohl in unserer, als auch in der Situation eines Krankenhausteams.
Als ich am kommenden Mittag meine Oma nach ihrer OP besuchen konnte, bestätigte sich unsere positive Einstellung.
In gewohnter Nörgel-Manier, lediglich etwas lallend, als habe sie einen Schnaps zu viel gehabt, konnte sie uns bereits wieder vorwerfen, dass wir ja die Brotschnitten beim Abendessen am Vortag abgelehnt hatten. Das gute Essen! Aber auch das Geständnis an meine Mutter wegen des vergammelten Joghurts, blieb nicht aus.
Und nachdem meine Tante auch noch in Erfahrung gebracht hatte, welche Ärzte die Operation ausführten, waren wir voll und ganz zufrieden gestimmt: Der Chefarzt und ein Assistent!
Man soll ja bekanntlich nie aufgeben ...
Selbst als normaler Kassenpatient, hat man noch eine Chance, mit viel Herz und festen Absichten, etwas zu erreichen. Egal, wie klein das Ergebnis auch sein mag.
Meine Oma hat eine Brust verloren. Und vielleicht stehen ihr noch weitere schwere Jahre bevor ...
Aber Eines haben wir gelernt, aus diesen zwölf Stunden: gib niemals auf! Gib dich nie, zu keiner Zeit geschlagen! Und kämpfe für das, an was du glaubst!
Wir haben unseren Mund nicht ohne Grund bekommen. Es mag eine Seltenheit sein – heutzutage –, aber es gibt Situationen, in denen es sich lohnt nachzufragen, es gibt Menschen, bei denen nicht jede Bitte, um einen Funken Hoffnung, verloren ist.
Höre niemals auf danach zu suchen!