Warum musste ich gehen?
Ich gebe ja zu, dass mein Ordnungssinn nicht besonders brillant ist. Freilich ist es kein schöner Anblick, wenn Fremde die vielen dreckigen Töpfe und Teller in meiner Spüle sehen, und natürlich kann ich mir vorstellen, dass es nicht gerade angenehm ist ein Wohnzimmer zu betreten, in dem sich Papierstapel und leere Verpackungen mit Essensresten aus Fertigmahlzeiten auf dem Boden angesammelt haben. Auch kann ich mir vorstellen, dass zwanzig Bierkästen, noch dazu etwa dreißig leere Bierflaschen, in einer Wohnung nicht als Sammlung durchgehen. Ein übervoller Aschenbecher in einer Wohnung, in der mir Rauchen ausdrücklich verboten wurde, ist wohl auch nicht gerade optimal.
Aber bedenke man meinen psychischen Zustand; da ist ein Mensch, der seine Finger permanent nicht von mir lassen kann. Ein Mann, Namens Tino, aber ich nenne ihn inzwischen Gerabuti, den ich in der Disko kennenlernte. Wir haben uns anfangs gut verstanden, wurden richtige Kumpels. Seither fuhren wir wöchentlich gemeinsam zur Disko, und er brachte mich immer wieder heil nach Hause, denn ich hatte kein Auto mehr. Mein Auto fiel einem Unfall zum Opfer und Tino wurde zu meinem persönlichen Chauffeur.
Bald darauf fing es an, die erste unvergessliche Nacht mit ihm. Es war ein Abend wie jede Woche Samstags. Ich fuhr mit Tino zu unserer gewohnten Disko.
„Meine Freundin hat heute Geburtstag.“
„Ach ja. Trefft ihr euch heute? Ich würd’ sie gern mal kennenlernen.“
„Sie muss arbeiten.“
„Das ist aber blöd, gerade an ihren Geburtstag.“
„Ich glaub, sie hat mit Absicht nicht freigenommen, will nicht mit mir zusammen feiern.“
„Warum denn das?“
„Sie hat einen anderen. Denke ich jedenfalls.“
„Sei nicht so misstrauisch!“
„Doch, bestimmt. Sie will mich immer weniger sehen und sie benimmt sich auch immer so seltsam.“
„Das bildest du dir bestimmt nur ein.“
„Bestimmt nicht!“, Tinos Stimme wurde ein bisschen wütender. „Aber egal. Prost Jeanette, auf meine Freundin.“ Er hob seine Hand und trank aus der Flasche, die er damit hielt. Er trank Bier. Tino trank noch nie Alkohol wenn er anschließend mit dem Auto fuhr.
Natürlich es ist ein besonderer Tag, der Geburtstag seiner Freundin, aber Bitte;
„Tino, du musst doch noch fahren!“
„In ein paar Stunden. Bis dahin ist das doch wieder raus.“
Wir gingen getrennte Wege. Nichts Ungewöhnliches, denn in der Disko saßen wir wenig zusammen, schließlich hatte jeder sein eigenes Leben.
Doch später saß er plötzlich neben mir, wie aus dem nichts kam er an und hatte mittlerweile seine vierte Flasche in der Hand. Und dann fing er an mich zu begrabschen. Ich wollte es nicht, ich hatte doch einen Freund; und Tino war nicht mein Typ, ganz und gar nicht. Ich sagte ihm, dass er es lassen sollte. Zwar hatte ich auch schon etwas getrunken, aber meine Stimme klang trotzdem selbstsicher, wirklich. Trotzdem ließ er sich davon nicht beirren und machte einfach weiter. Mir blieb nichts anderes übrig als aufzustehen und mich zu einer Gruppe Jungs zu stellen, die zufällig in der Nähe standen. Ich kannte sie zwar nicht, aber ich tat einfach so, als wären es Kumpels von mir. Was hätte ich sonst in dieser Situation tun sollen?
Möglichst unauffällig beobachtete ich ihn weiter, er ging wieder zu seiner Clique. Gut, ich konnte meinen Stammplatz wieder einnehmen und den süßen Jungen auf der Tanzfläche weiter zusehen. Ich meine, ich hatte zwar einen festen Freund, aber gucken schadet ja nicht, und der Junge würde sich für mich wohl eh nicht interessieren. Ich glaube, er war selbst vergeben und außerdem war er jünger als ich, aber er tanzte einfach so schön. Nach einigen Minuten kam Tino wieder, und die Prozedur wiederholte sich. Warum verstand er mich einfach nicht? Der Abend hätte doch viel schöner verlaufen können. Ich musste meinen Platz erneut verlassen, und ging dieses Mal auf die Toilette, um vor diesem Mann zu fliehen. Ich weiß noch genau wie ich mich im Spiegel ansah und überrascht eine Träne unter meinem Auge entdeckte. Eine Träne? Warum ist dieser Mensch es wert, dass ich wegen ihm eine Träne verliere? Ist das möglich? Ich glaubte, ich hätte zuviel getrunken.
Die Disko ging dem Ende zu und ich musste Tino finden um nach Hause zu fahren. Freilich ist es kein guter Tag, um ausgerechnet mit Tino nach Hause zu fahren, aber ich hatte keine andere Möglichkeit. Er war mein einziges Mittel, um noch um diese Zeit in mein eigenes Bett zu kommen.
„Wieviel hast du getrunken, Tino?“
„Fünf, aber...“
„Fünf, Mensch Junge, wir müssen doch noch heim, oder willst du hier penn?“ Er schien wieder normal zu sein, so wie ich ihm kenne, wenn ich sein Verhalten richtig einschätzte.
„Nein, nein sicher nicht. Ich hab auch die letzte Stunde nichts mehr getrunken. Das Verhalten von mir vorhin tut mir leid, wirklich. Verzeihst du mir, kommt nicht wieder vor. Ich hab mich einfach blöd benommen, hätte doch nichts trinken sollen.“
Ich hatte ihm verziehen. Ich konnte nicht anders, wie gesagt, er war die einzige Möglichkeit um nach Hause zu kommen. Auch konnte er wie gewöhnlich das Auto über die Straßen führen und mich wohl zurück in meine Wohnung bringen. Ich glaubte ihm nach der Fahrt sogar, dass er wirklich nichts mehr getrunken hat.
In der nächsten Woche verzichtete ich auf Disko. Ich rief ihm nachmittags an, dass er sich den Umweg über mein Kuh-Dörfchen ersparen konnte. Doch abends etwa 20 Uhr klingelte es an meiner Tür.
„Tino?!“
„Hy.“
„Was machst du denn hier.“
„Ich dachte, ich besuch dich mal. Wollt mir deine Wohnung mal ansehen.“
„Ach. Und da kommst du ausgerechnet um diese Zeit auf die Idee..“
„Naja, warum denn nicht?“
Ich weiß nicht, warum ich damals so blöd war, aber ich ließ ihn herein. Am Liebsten würde ich diesen Tag aus meinem Kalender streichen, aber die Vergangenheit kann man eben nicht rückgängig machen; wie oft habe ich mir das schon gewünscht.
„Weißt du schon das Neueste?“
„Nein. Was?“
„Meine Freundin hat heute mit mir Schluss gemacht.“
„Echt? Tut mir wirklich leid. Aber warum?“
„Sie denkt ich betrüge sie.“
Das war’s. Tino war in meiner Wohnung und er war single; und ich bekam ihn nicht mehr aus meinen vier Wänden heraus. Der wohl schlimmste Fehler meines Lebens. Sie können wahrscheinlich verstehen, warum ich nicht genauer auf dieses Thema eingehen möchte, es ist einfach zu schrecklich, sich an diese Momente zu erinnern.
Seither habe ich diesen Namen für ihn: Gerabuti, denn es fällt mir schwer seinen echten Namen auszusprechen. Gerabuti ist aus dem lateinischem und setzt sich aus den Worten ausüben und Missbrauch zusammen; und genau dieser Name passt zu ihm.
Gerabuti blieb die ganze Nacht bei mir. Erst am nächsten Morgen um 6 verließ er mein Bett und ging aus der Wohnung. Er müsse auf Arbeit hat er mir gesagt. Aber ich glaube, dass es ein paar Leute gibt, vor denen er etwas geheim halten möchte; diese Nacht geheim halten möchte.
Wenige Tage später trennte sich mein Freund von mir. Warum? Er meinte, ich würde mich so seltsam verhalten. Ich würde in seiner Gegenwart so abwesend sein, sagte er.
„Hast du einen Neuen?“, fragte Basti mich.
„Nein, natürlich nicht! Wie kommst du denn darauf?“
Ich wollte nicht mehr mit ihm schlafen, natürlich konnte er nicht verstehen warum, und ich konnte es ihm nicht sagen. Mir fehlte einfach die Kraft dazu, ich war total fertig.
„Warum siehst du mich nicht mehr an?“, fragte Basti.
Er bekam keine Antwort.
Wenn ich alleine in meiner Wohnung saß, dann stierte ich nur in den Fernseher. Ich aß kaum mehr etwas und trank immer häufiger Bier. Wie die Wohnung aussah registrierte ich kaum, ich dachte nur an meine Vergangenheit, an meine Kindheit im Hause meiner Eltern; und an diese schreckliche Nacht mit Gerabuti.
Ja, ich verstand, warum meine Vermieterin lange Gespräche mit mir führte;
Ja, ich verstand, warum sie mich in Therapie schickte;
Ja, ich verstand es auch, dass ich nur mit dieser Therapie meine Wohnung behalten konnte;
Aber warum, warum nur schmiss sie mich dennoch aus meinem Heim und
Warum hatte sie als Nachmieter ausgerechnet Gerabuti ausgesucht??