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Was bleibt, sind Erinnerungen
Es war Liebe auf den ersten Blick. Das zweistöckige, sonnendurchflutete Einfamilienhaus mit dem massiven Parkett und der schmiedeeisernen Treppe im Eingangsbereich gewann unsere Herzen im Sturm. Barbara strahlte wie ein kleines Mädchen, das gerade dem Nikolaus begegnet war, und Jans Augen waren bei der Erkundung seines geräumigen Kinderzimmers beinahe so groß wie meine, als der überbezahlte Immobilienmakler mir mit einem zuckersüßen Lächeln und Dollar-Zeichen in den Pupillen den Kaufpreis für das Haus wie Honig um die Lippen schmierte. Ich schluckte zunächst, aber der geduldige Beamte der Hypothekenbank zeigte sich am nächsten Morgen großzügig, mein Job als Lehrer und die Eins, die sein Sohn vergangene Woche in Geschichte mit nach Hause gebracht hatte, überzeugten ihn wohl. Jedenfalls kauften wir die Immobilie. In dem großen Garten, dessen Fläche allein schon die unserer Zwei-Zimmer-Wohnung überschritt, die wir übergangsweise bezogen hatten, konnte Barbara in den langen Gemüsebeeten ihrem Hobby nachgehen, und Jan erweiterte im Haus die Gleisstrecke der Modellbahn, über deren Waggons ich mehrmals die Woche stolperte und mit der man bald weiter fahren konnte als mit der Transsibirischen Eisenbahn.
»Ich kann es noch immer kaum glauben«, schwärmte Barbara. »Es gehört uns. Alles uns.« Sie lachte. Wir waren glücklich.
Eine Zeit lang waren wir in der neuen Stadt glücklich.
Finster waren die Korridore im muffeligen, schlecht belüfteten Altbau, durch die mich mein Kollege seit einigen Minuten wie ein Drill-Instruktor seine Gruppe hetzte, und finster war die Vorahnung, die mich beschlich, seit Herr Ullmann mich so aufgeregt aus dem Lehrerzimmer geholt hatte, dass einige der anderen Kollegen stirnrunzelnd in ihrer Arbeit innegehalten und zu uns hinüber geblickt hatten. Ich setzte an, ihn nach dem Grund der Besorgnis zu fragen, doch ich brachte, während wir liefen, eher ein Japsen als einen vernünftigen Satz zustande. Herr Ullmann hatte ein so zügiges Tempo vorgelegt, dass ich Mühe hatte, überhaupt mit ihm Schritt zu halten ohne vollkommen außer Puste zu geraten. Er war Mathe-, kein Sportlehrer. Doch meines Erachtens hatte er eindeutig den falschen Beruf gewählt.
Wir kämpften uns durch die Schlange in der Aula vor den Getränkeautomaten wie durch dichtes Buschwerk im tropischen Regenwald, hinaus in den Pausenhof, den wir beinahe zeitgleich mit den um die Ecke stürmenden Krankenwagen erreichten, und eilten auf den Schauplatz zu. Je näher ich kam, desto mehr erkannte ich. Desto weniger wollte ich erkennen.
Eine junge Lehrerin, die neulich versucht hatte, mir schöne Augen zu machen, redete sofort beruhigend auf mich ein, ich hörte ihre Worte kaum. Sie flossen an mir vorbei wie die Klassik-Soundtracks, die ich in meinem Arbeitszimmer oft in der Endlos-Wiederholung laufen ließ. Meine Aufmerksamkeit galt dem Jungen, der reglos am Boden kauerte. Und dem Blut, das sich von Stein zu Stein vorarbeitete und das das Kopfsteinpflaster mehr und mehr in Dunkelrot tauchte.
Der alte Priester machte ein betretenes Gesicht und warf mit einer schwungvollen Handbewegung eine Schaufel Erde in das frisch gesetzte Grab auf dem städtischen Friedhof. Daraufhin stimmte die versammelte Gemeinde ein Lied an.
Graue Wolken zogen an diesem Nachmittag vorüber, deren farblichen Nuancen perfekt auf die Kleidung der Trauernden abgestimmt waren, Nieselregen prasselte auf die Schirme und Grabsteine. Barbara und ich ließen zahlreiche Beileidsbekundungen über uns ergehen. Meine Wangen wurden feucht, ich kämpfte dagegen an, doch vergeblich. Meine salzigen Tränen vermischten sich mit den Regentropfen. Barbara reichte mir ein Taschentuch. Ich kam mir jedes Mal vor wie ein Roboter, wenn ich jemandem motorisch die Hand schüttelte. Erst jetzt begriff ich wirklich, was geschehen war. Ich wünschte, ich könnte im Erdboden versinken. Fragen quälten mich, ich suchte ebenso verzweifelt wie vergeblich nach Antworten. Und auch dem Priester gelang es mit seinen frommen Worten nicht, mir Trost zu spenden. Der Wind wehte leise, als wolle auch er uns sein Mitgefühl aussprechen. Die Blaskapelle spielte ein melancholisches Trauerlied.
Jans Beerdigung war das Schlimmste, was mir bisher in meinem sonst erfolgreichen Leben widerfahren ist. Ich dachte an die erfüllte Zeit, die ich mit meinem Sohn erlebt hatte. An die Dinge, die wir unternahmen. Wie wir herumalberten. Wie wir lachten. Es gab viele Witze, die nur wir verstanden und über die Barbara regelmäßig den Kopf geschüttelt hatte. Nun waren es nur noch Erinnerungen.
Niemand sollte sein eigenes Kind zu Grabe tragen müssen.
Niemand.
Die Kriminalpolizei ermittelte mit Hochdruck ebenso bemüht wie vergeblich in dem Fall und fahndete im großen Umkreis nach dem Täter und der Mordwaffe. Sie nahm jede einzelne Klasse aufs Korn und zog sämtliche Möglichkeiten in Betracht, doch es geriet weder ein Schüler oder Lehrer in engen Verdacht, noch deutete etwas darauf hin, dass womöglich Drogendealer oder Kriminelle an diesem Tag in der Nähe der Bildungseinrichtung eine Auseinandersetzung gehabt hatten und Jan womöglich versehentlich in die Schussbahn geraten war. Die Hinweise, die bei der Kripo eingingen, ließen sich an einer Hand abzählen.
Die Beamten bestürmten uns mit zahlreichen Fragen, ehe sie uns ihr Mitleid bekundeten. Unsere Antworten waren ebenso nach gutem Gewissen wie wenig hilfreich. Wir hatten keine Feinde, keine Ahnung, keine Geheimnisse.
»Wir stehen das durch, Schatz. Es wird nicht einfach, aber glaub mir, wir schaffen das!«, versicherte ich meiner Frau wieder und immer wieder. So lange, bis ich mir allmählich selbst einredete, es zu glauben.
Wir schafften es nicht.
Barbara wurde von Tag zu Tag schweigsamer. Sie veränderte sich, wir veränderten uns beide. Jans Tod hinterließ tiefe, schmerzhafte Wunden. Wir wurden einander fremd. Manövrierten zwei unterschiedliche, weit voneinander gelegene Planeten an. Kontaktaufnahme gab es beinahe nur noch zu den Mahlzeiten.
Ich machte mir Gedanken. Viele Gedanken. Viel zu viele Gedanken.
Ich wollte etwas tun. Vergeltung. Antworten.
Vergeblich.
Meine Knie wurden ebenso weich wie die Worte hart waren, die mich wie ein Faustschlag trafen. Ich musste ich erst einmal setzen. Fest presste ich das Telefon an mein Ohr. »Wer sind Sie? Was wollen Sie?«, brachte ich hervor.
»Das wissen Sie doch längst.« Der Mann am anderen Ende der Leitung lachte. »Ich hab mich doch nicht missverständlich ausgedrückt, oder? Ich hoffe, Ihnen geht’s nur halb so beschissen wie mir damals, Sie verdammtes Arschloch.«
»Ich ... Wovon reden Sie?«
»Tun Sie nicht so unschuldig! Sie wissen genau, wovon ich spreche! Es ist Ihre Schuld! Sie sind an allem schuld!«
»Ich –«
»Wie du mir, so ich dir. So einfach ist das!«
Ein Klicken.
Lange Zeit saß ich schweigend da, brütete vor mich hin, innerlich aufgewühlt. Meine Hände zitterten. Immer wieder ließ ich mir die Worte durch den Kopf gehen. Aber egal, wie lange ich darüber nachdachte, sie ergaben keinen Sinn für mich. Ich war ratlos. Mein Herz pochte so laut, dass ich den Eindruck hatte, selbst die Nachbarn müssten es hören. Ich versuchte mich zu beruhigen, aber ich konnte es nicht.
Es gelang mir erst wieder, einen klaren Gedanken zu fassen, als die Tür sich öffnete und Barbara nach Hause kam.
Ich erzählte ihr alles.
Dann endlich rückte sie mit der Sprache heraus.
Ich war entsetzt. Ich versuchte, mir einzureden, alles sei eine Lüge und Barbara hätte die Geschichte soeben erfunden.
Ich wusste es besser.
Wie eine Lawine schmetterten mich die Erinnerungen nieder.
Mir wurde übel. Schwarz vor Augen.
Endlich kannte ich die Wahrheit. Aber sie gefiel mir nicht.
Sie gefiel mir ganz und gar nicht.
Die Kriminalpolizei machte die Telefonzelle in der Nähe des Hauptbahnhofs ausfindig, nicht jedoch den Aufenthaltsort des Manns. Die Kameras brachten ein Täterprofil, das Stürmen seiner Wohnung führte die Beamten jedoch in leere Zimmer. Kommissar Höfner vermutet, er hat sich ins Ausland abgesetzt.
Lange Zeit hatte ich mich mit Händen und Füßen dagegen gesträubt. So lange, bis es Barbara gelungen war, mich zu überzeugen. Ich wünschte, ich hätte niemals auf sie gehört. Viele quälende, verwirrende Gedanken wären mir erspart geblieben.
»Du bist einfach nicht damit fertig geworden«, verteidigte sich Barbara. »Es hat dich innerlich aufgefressen. Deshalb hab ich so gedrängelt und dir keine Ruhe gelassen. Bis du's schließlich getan hast!« Sie kam näher und nahm mich in den Arm. Ich ließ sie gewähren, aber ich reagierte nicht. Lange Zeit hatte sie geschwiegen, aus Angst vor den Konsequenzen, die es haben würde, käme die Wahrheit ans Licht.
Schemenhaft drängten sich Bilder auf einmal wie Erinnerungsfetzen in mein Bewusstsein. Der Elternabend. Die Heimfahrt. Das Auto.
Die Straße. Das Mädchen.
Oh Gott, nein!
Doch nachts sind alle Katzen grau. Ehe ich mich versah, den Fuß auf die Bremse pressen und die Geschwindigkeit in der Kurve radikal drosseln konnte, war es bereits geschehen und das Mädchen lag unter den Rädern des Ford begraben.
Es war ein Unfall gewesen. Ein gottverdammter Unfall!
Die Anklage der verzweifelten Eltern traf mich in den darauf folgenden Wochen härter als das Urteil am Zivilgericht. Nie mehr vergesse ich ihre Augen, mit denen sie mich anstarrten, als wäre ich der Teufel persönlich, dem sie gegenüberstanden. Schon damals sannen sie auf Rache und warfen mir obszöne Beleidigungen an den Kopf.
Monatelang wurden, nach meinem zunächst widerwilligen Einverständnis, in der Klinik die erforderlichen Daten über eine speziell entwickelte Software auf den High Tech-Gedächtnischip programmiert. Jede einzelne Erinnerung lässt sich beliebig verändern. Die komplizierte OP erfolgte dann eines nachts illegal durch ein interdisziplinäres, speziell geschultes Ärzteteam binnen Stunden.
Der weltweit umstrittene Gedächtnischip erscheint so viel versprechend. So hoffnungsvoll. Die Erfindung des neuen Jahrhunderts. Die alles verändert, und die einem Möglichkeiten erschließt, die man sonst nur aus der Science Fiction kennt.
Ein Allheilmittel.
Vielleicht ist er das sogar. Doch nur so lange, bis die reale Vergangenheit einem einholt.
Copyright by Michael Elflein 2008