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Was die Boten brachten

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20.01.2018
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Was die Boten brachten

Dieses Jahr kommt der Winter aus Westen.
Artjom und ich wandern einen Flusslauf entlang, als wir ihn sehen. Stück für Stück kriechen Nebelschwaden vom anderen Ufer herüber. Dort, wo ihr kalter Hauch das Wasser berührt, bildet sich Eis. Die Fläche wächst, zersplittert in mehrere Schollen. Der Strom treibt sie an uns vorbei, verteilt sie und reißt sie für kurze Zeit auseinander, aber als mein Blick dem Flusslauf folgt, sehe ich auch dort die Nebelfront. Auf der anderen Seite des Ufers klettert der Frost die Bäume hinauf, verteilt sich in den Ästen und spinnt das Holz in seinen toten Kokon ein. Das Blattwerk, noch eben farbenfroh im Sommerwind wiegend, wird steif und grau und zerspringt mit einem Knall in kleine Eisstücke. Das Weiß hat jegliche Farbe verschluckt.
Artjoms kastanienbraune Augen weiten sich vor Staunen. Sein kindliches Gesicht verblasst im Angesicht des Winters. Unter meinen Schuhen bildet sich Raureif.
„Komm, Sohn. Lass uns gehen“, murmle ich. Er nickt, den Blick weiter gebannt auf das Eis gerichtet.

Wanderfels liegt auf einem kahlgeschlagenen Hügel, umgeben von einem dichten, schattigen Kiefernwald. Noch treibt sein würziger Geruch durch die Luft, aber wenn man den Boden genauer betrachtet, kann man auf dem Nadelteppich bereits eine dünne Frostdecke entdecken. Jeden Schritt, den ich mache, wird von einem ungewohnten Knirschen begleitet.
Eine Reihe Schafe unterbricht ihr Fressen und glotzt Artjom und mir nach, während wir einen spärlichen Kiesweg emporsteigen. Wir leben in einfachen Häusern, mit Wänden aus gebrannten Tonziegeln und Baumstämmen in jeder Ecke. Auf den Dächern schützen Strohbündel vor Wind und Wetter. Wanderfels besitzt keine Tore, keine Mauern, keine Wachen. Stattdessen ziehen sich silbernen Linien einmal um das ganze Dorf. Je näher wir dem Marktplatz kommen, desto mehr tauchen auf, erscheinen aus Straßen, Gärten und Hinterhöfen, kreuzen sich mit der Linie, der wir folgen, und weben ein dichtes Netz, das immer feinmaschiger wird. Schließlich erreichen Artjom und ich das Zentrum, einen Brunnen, mitten auf dem Marktplatz. Aus allen Richtungen führen die Linien hierher, kriechen die moosbedeckten Steinwände entlang, über den Rand und in die Dunkelheit hinein.
Alle sind gekommen. Zwischen den Ständen quetschen sich hunderte Einwohner, drängeln und schubsen, um einen Blick zu erhaschen. Kaum einer ragt mir bis zur Schulter. Ich will Artjom gerade auf meine Schultern setzen, als er sich von mir löst und durch die Menge zu einem kleinen, blonden Jungen läuft. Sven, wenn ich mich richtig erinnere.
„Fresse halten!“, brüllt eine Stimme. Häuptling Harlan muss auf dem Brunnen stehen, um seinen Untertanen in die Augen blicken zu können. Sein Bart ist so rot wie das Herbstlaub, seine Haare waren das auch mal. Jetzt ist sein nackter Schädel runzeliger als ein Kürbis.
„Sperrt gefälligst eure Lauscher auf!“ Er räuspert sich und blickt mit zusammengekniffenen Augen durch die Menge. „Die Holzfäller haben Meldung gebracht. Der Winter ist wieder da.“
Seine Stimme geht im Raunen unter. Verzweifelt versucht Harlan, sich Stimme zu verschaffen, und wedelt mit den Armen in der Luft, während sein Gesicht dieselbe Farbe annimmt wie sein Bart.
„Aber wie kann das sein?“, ruft eine Stimme. Es ist Kastor, der Fischer. „Ich meine, der letzte Winter ist erst vier Monde her, oder?
„Was ist mit den Spähern? Können wir sie noch rechtzeitig warnen?“
„Vielleicht ist es ja nur ein Versehen?“
„Nein“, rufe ich. Schlagartig dreht sich die Menge zu mir um. Als Priester hat mein Wort Gewicht, wenn auch nicht viel. Sie müssen ihre Köpfe in den Nacken legen, um mir in die Augen schauen zu können, und verstummen. „Artjom und ich haben ihn auch gesehen. Der Winter kommt, aber aus Westen, nicht aus Osten.“
„Das ist unser Untergang“, jammert die hässliche Helena. Eine der ersten, die den Glauben an die Götter verloren hat. „Ich habe es euch doch gesagt. Die Vier haben uns verlassen! Wir werden alle sterben!“
„Halt die Fresse, Hure“, brüllt Harlan mit heiser Stimme. Die Menge pflichtet ihm murmelnd bei. „Warum haust du nicht ab, hm? Los, verzieh dich in deinen Hexengarten!“
Mein Bruder hatte noch nie ein Händchen für Menschen. Ich räuspere mich. „Der Winter steht bereits auf der anderen Seite des Flusses. Der Strom wird ihn eine Weile aufhalten, aber nicht lange. Wir müssen aufbrechen.“

Umgehend beginnen wir mit den Vorbereitungen für unsere Abreise.
Die Stallburschen bringen die Pferde in ihre Boxen, die Schäfer treiben ihre Herden zusammen. Ich erwische eines der Viecher dabei, wie es die Blumen auf meinem Gartenschrein anknabbert, und jage es fort. Fünf steinerne Götzen sehen ihm nach, stumm und teilnahmslos wie eh und je. Wir holen alles Korn von den Feldern, ob reif oder nicht. Der Winter wird es eh zerstören und wir können jeden Krümel Essen gebrauchen. Ein Karren nach dem anderen rollt Richtung Speicher, zum Brunnen. Sie bringen Pilze, Blumen, Heu für die Pferde, Gras für die Schafe. Kisten werden gepackt, gestapelt und vertäut, die Seile um in den Erdboden eingelassenen Ösen geschlungen. Auf dem Marktplatz errichten die Holzfäller ein Rondell aus Feuerholz. Vor ein paar Tagen ist eine Gruppe Späher nach Osten aufgebrochen. Harlan lässt Tauben nach ihnen schicken, wenn auch eher aus verzweifelter Hoffnung als aus Vernunft.

„Ich verstehe das nicht“, murmelt Harlan. Mein Bruder und ich stehen zusammen am Rand des Dorfes, die Hände hinter dem Rücken und in die weite, weite Ferne blickend. „Wie kann der Winter wieder da sein, jetzt schon? Und dann auch noch aus der falschen Richtung?“
„Vielleicht hat er umgedreht“, überlege ich.
„Aber das ergibt keinen Sinn! Jedes Jahr kommt er aus Osten und verschwindet im Westen. Er ist doch kein Tier, das man einfach in eine Richtung treiben kann, oder?“
Ich schaue nach unten. Zwei Schritte vor meinen Füßen verläuft die äußerste Linie durch das Gras. „Hab Demut, Bruder. Es ist nicht unser Recht, die Götter und ihre Werke zu verstehen. Wenn es ihnen danach steht, werden sie uns den Sinn offenbaren. Aber nicht vorher.“
Harlan spuckt auf den Boden. „Ich sag dir mal was. Ich hab es satt, ihr Idiot zu sein. Nicht nur, dass wir Hals über Kopf aufbrechen müssen. Wir lassen womöglich fünf unserer Leute zurück. Was bin ich denn für ein Anführer, wenn ich sie nicht warnen kann, hm? Wie soll ich den Willen der Götter verkünden, wenn ich ihn nicht verstehe?“
„Du vergisst, dass ich ihren Willen verkünde. Deine Aufgabe ist es, unser Volk zu leiten.“
„Ach ja? Dann sei so gut und erkläre deinem ahnungslosen Bruder mal, was der ganze Bockmist soll.“ Harlans Fuß findet einen Kieselstein und kickt ihn in hohem Bogen davon. Schweigend sehe ich zu, wie er den Hügel hinunterrollt und im Gras verschwindet. In der Ferne läuft eine Gruppe Frauen den Hügel hoch. Unter ihnen ist auch Elise, die Tochter des Metzgers. Ich kann mich noch daran erinnern, wie mein Bruder und ich um sie geworben haben. Harlan war der ältere Sohn, trat in Vaters Fußstapfen, sah besser aus und war, zumindest damals, nicht alle naselang besoffen. Nüchtern betrachtet war es nur logisch, sich für ihn zu entscheiden.
„Ich bin nur ein Mensch, Harlan, und sie Götter. Ich maße mir nicht an, ihre Entscheidungen zu verstehen. Ein bisschen mehr Vertrauen in sie würde dir gut tun.“
„Ein bisschen mehr Vertrauen in sie wäre dumm!“
Er war schon immer unerlaubt ehrlich. Manchmal vermisse ich die Zeiten, als Harlan und ich noch jünger waren. Wir hatten mal mehr Gemeinsamkeiten als nur Blut.
Er verschränkt die Arme und starrt trotzig auf die Ebene hinaus. Von irgendwoher kann ich jemanden weinen hören. „Du bist mir ein Rätsel. Erst entscheidest du dich gegen den letzten Willen Vaters und wirst Priester. Dann ziehst du raus in die Welt und willst das heilige Wort verkünden, schwängerst aber entgegen dem Kodex eine Fremde und kommst mit Frau und Kind nach Wanderfels zurück. Und tust dann so, als wäre nie etwas gewesen?“ Er flucht etwas in seinen roten Bart.
Schließlich erreicht die Gruppe das Dorf. In der Mitte läuft ein junges Mädchen, das Gesicht voller Tränen, während ihre Freundinnen sie umkreisen wie ein Schwarm Bienen. Stundenlang standen sie am Waldrand, Ausschau haltend, bangend darauf hoffend, bekannte Gesichter im Unterholz zu entdecken. In der Ferne färben sich die ersten Baumkronen schneeweiß.
Als sie weg sind, schreit Harlan wütend auf. Voller Wut tritt er gegen eine Häuserwand, immer und immer wieder, bis sich erste Risse durch das Fundament ziehen. Schweigend betrachte ich die Ankunft des Winters.
„Das ist doch alles scheiße! Scheiße ist das, verfickte Scheiße!“ Er bleibt stehen, legt den Kopf in den Nacken. Langsam beruhigt sich sein Atem. „Na gut. Wenn wir jetzt nicht gehen, gehen wir gar nicht. Wir setzen Anker. Komm.“
„Nein. Ich werde von hier aus zusehen.“
Harlan zuckt mit den Schultern und verschwindet.
Kurz darauf beginnt es. Die silbernen Linien färben sich golden, heizen auf. Dampf steigt in die Luft.
„Vater?“
Ich drehe mich um. Artjom steht hinter mir. Ich habe ganz vergessen, nach ihm zu schauen.
„Was ist, Junge?“
„Warum bist du nicht am Marktplatz, wie alle anderen auch?“
Ich zucke mit den Schultern. Ein Knacken fährt durch den Boden, Grasbüschel fliegen in die Luft. Der Boden beginnt zu zittern. „Ich wollte noch einmal die Wälder sehen.“
Er stellt sich neben mich und greift meine Hand. Gemeinsam sehen wir zu, wie die goldene Linie vor uns ein Loch in den Boden schneidet. Plötzlich stehen wir an einer Kante. Langsam, Zentimeter für Zentimeter, hebt Wanderfels ab und steigt in die Luft, hoch und immer höher. Neben mir weiten sich Artjoms Augen vor Ehrfurcht, während der Wald kleiner wird.
Ich lächle. „Hier ist es doch viel schöner als am Marktplatz, findest du nicht?“
Er nickt und greift meine Hand fester.

Wir steigen nicht sehr hoch. Man kann noch immer die Baumwipfel erkennen. Die Winterwinde sind rau, peitschen durch die Straßen und treiben Wanderfels nach Osten, aber der Anker sitzt zu tief im Boden, als dass wir forttreiben könnten. Leider kann man unser Dorf nicht steuern, es fliegt mit dem Wind. Je höher wir steigen und je tiefer die Sonne sinkt, desto flacher werden die Schatten. Über uns gleiten Wolken auf die Abendsonne zu, unter uns hat der Winter längst den Grashügel erreicht, wandert nun zurück nach Osten.
Die Luft ist dünn hier oben, aber wir haben uns daran gewöhnt. Goldene Linien leuchten unter den Füßen, bringen Licht in jeden noch so entlegenen Winkel, halten den Boden mit ihrer fremden Magie zusammen. Als Harlan und ich einen Rundgang machen und die Vorräte protokollieren, stellen wir fest, dass wir längst nicht genug Nahrung haben, um ein halbes Jahr in der Luft zu bleiben. Falls der Winter länger bleibt, müssen wir wohl oder übel Anker lichten. Dann entscheidet der Wind über unser Schicksal.
Kleine Feuerschalen lodern neben dem Brunnen. Eng sitzen die Eltern in Kreisen beieinander und unterhalten sich mit gedämpften Stimmen, während die Kinder zwischen den bunten Ständen toben. Einige von ihnen haben noch nicht verstanden, dass ihre Väter nicht mehr zurückkehren werden, aber niemand will derjenige sein, dass es ihnen erklärt. Also lassen wir sie spielen.
Ich bin gerade in einem Gespräch mit Kastor, da umringen mich Artjom und seine Freunde. „Erzählst du uns eine Geschichte?“, fragt er und setzt sich erwartungsvoll auf meinen Schoß.
„Siehst du nicht, dass ich mich unterhalte, Bursche?“
„Entschuldigung.“
Kastor wirft ihm einen missbilligenden Blick zu. Als ich mit Eva und Artjom zurückgekehrt bin, habe ich befürchtet, die Leute würden meinen Sohn behandeln wie einen Aussätzigen. Es ist Harlan zu verdanken, dass die Meisten ihn akzeptiert haben. Artjom spielt mit ihren Kindern, flitzt durch ihre Häuser, isst ihre Suppe und spricht ihre Sprache. Eva hatte es nicht so leicht.
„Na schön. Was wollt ihr denn hören?“
„Erzähl etwas über Wanderfels.“
„Na schön.“ Ich räuspere mich. „Weit, weit im Osten, wurde vor langer Zeit ein Teil der Welt zerstört. Ich weiß nicht, was dort passiert ist oder wie es dazu kam, aber eine Katastrophe hat die Erde auseinandergerissen. Die meisten Fragmente verschwanden im Abgrund oder stürzten vom Himmel, aber einige von ihnen wanderten solange durch die Welt, bis sie gefunden wurden.“
Plötzlich stolpert Harlan in den Kreis. Ein Bierkrug fällt ihm aus der Hand und fällt scheppernd zu Boden, während der weiße Schaum zwischen den Goldfäden verrinnt. Im Schein des Feuers brennt sein Bart. Als er zu fluchen beginnt, schauen einige der Kinder überrascht auf und zu ihren Eltern.
„Vater?“, fragt mich Artjom. Eine Brise fährt ihm durch die Haare und wirbelt sie in sein Gesicht. Er sieht Eva so ähnlich.
„Ja, Sohn?“
Artjoms Freund Sven zieht ein Holzschiff durch ein Meer aus Stein und Dreck. Seine Freunde tun es ihm gleich und knien sich zu ihm auf den Boden. „Erzähl etwas über den Winter. Etwas über die Boten“
„Nein. Darüber gibt es keine Geschichten.“
„Aber warum?“
„Weil die Menschen sie nicht hören wollen.“
Harlan torkelt auf uns zu, stützt sich an einem Marktstand ab. „Wieso willst du dem Jungen denn nichts von den Boten erzählen, hm?“ Seine Lippen beben, wenn er spricht, und zittern, wenn sie stillstehen. In der Dunkelheit liegen seine kleinen Augen noch enger in der Stirn. Fast scheint es, als wollten seine Stirnlappen sie verschlingen.
„Es ist keine Kindergeschichte. Ich will ihnen nicht unnötig Angst machen.“
Er schnaubt. „Unnötig Angst? Schau dich doch mal um, du Idiot. Vielleicht willst du ihnen ja sagen, was gerade geschieht, hm? Ich hätte dann nämlich weniger Angst vor dem Winter.“
Ich seufze. „Na schön. Irgendwann müsst ihr es sowieso lernen. Jedes mal, wenn der Winter kommt, schickt er seine Boten vor. Als erstes erreicht uns der Frost. Du hast ihn ja gesehen, Artjom. Eine Nebelwolke, die alles und jeden, den sie berührt, mit Eis überzieht. Von den Goldfäden einmal abgesehen.“
Artjom nickt.
„Dann, wenn alles weiß und starr ist, fällt der Schnee. Tagein, tagaus. Ohne Pause. Hier oben kann er zum Glück nicht liegen bleiben, weil die Fäden ihn schmelzen. In manchen Jahren hatten wir so viel Tauwasser, dass sich an den Kanten Wasserfälle gebildet haben. Als drittes kommen die Irrlichter. Kleine, blaue Kugeln, die durch die Luft schweben und ein Band aus Licht hinter sich herziehen. Sie sind harmlos und nicht gerade intelligent, also falls ihr eines seht, lasst es einfach davon ziehen. Es wird euch nichts tun. Die Fischer in Baltmoor behaupten, sie wären die verlorenen Seelen all jener, die der Winter genommen hat, und dass sie jetzt dazu verdammt wären, auf ewig mit ihm zu wandern.“
Artjom starrt ins Feuer. „Glaubst du ihnen?“
„Nein. Nein, das ist Schwachsinn, Sohn.“

Stunden später, als das Feuer aus und die Kinder müde sind, mache ich mich mit Artjom auf den Weg nach Hause. Selten war es so still in Wanderfels. Wenn in unserem Dorf ein Toter beklagt wird, hängen die Leute für ihn ein buntes Stoffband aus dem Fenster. Die Götter können die Farben aus dem Himmel sehen und lassen sich hinab, um den Trauernden Trost zu spenden. Während ich mit Artjom Hand in Hand durch die verlassenen Straßen wandere, bleibt mein Blick an Regenbögen hängen, die im lauen Nachtwind baumeln. Fünf Bänder hängen aus jedem Fenster. Seit der Märchenstunde ist er sonderbar ruhig.
Plötzlich bleibt er stehen. „Papa?“
„Ja?“
„Werden die Späher sterben?“
Seine Hand zwingt mich zum Anhalten. Ich weiß nicht, was ich sagen soll. Nervös beiße ich mir auf die Lippen.
„Wieso fragst du das?“
„Harlan hat es erzählt. Er hat laut geflucht und böse Wörter gesagt. Er meinte, es wäre seine Schuld, dass sie sterben würden. Weil er sie hinaus geschickt hat.“
„Seine Schuld? Nein, das stimmt nicht.“
„Wessen dann?“
Ich will antworten, aber die Worte bleiben mir im Hals stecken. Artjom schaut mich mit großen Augen an. „Denkst du, sie werden Irrlichter? So wie Mama?“ Plötzlich erhellt sich sein Gesicht. „Papa, vielleicht kommt der Winter deshalb zurück. Vielleicht sucht Mama nach uns!“
„Ach was."
„Doch! Was wäre, wenn-“
„Nein.“
„Aber-“
„Sei still.“ Schnell schaue ich mich um, aber wir sind alleine. Ich senke die Stimme und bücke mich zu Artjom herab. „Schlag dir diesen Unsinn aus dem Kopf, Bursche. Der Winter kommt zurück, weil die Götter es so wollen, und nicht wegen irgendwelchen Irrlichtern.“
„Aber Papa, das macht doch gar keinen Sinn. Wieso sollten die Götter wollen, dass unsere Späher st-“
„Hör auf!“ Ich habe bei bestem Willen keine Ahnung, wie ich einem Kind die schweren Seiten des Glaubens beibringen soll. Das es Tatsachen gibt, die jenseits unserer Macht und unseres Verstehens gefällt werden. „Eines Tages wirst du den Sinn darin verstehen, Sohn. Eines Tages. Aber bis dahin musst du ihnen dein Vertrauen schenken.“
Aber Artjom senkt nur den Kopf und starrt zu Boden. Kein einziges Wort kommt ihm an diesem Abend noch über die Lippen.

In der Nacht fällt der erste Schnee. Spätestens jetzt sind die Späher tot. Während die Sonne aufgeht, knie ich mit gefalteten Händen in einer Mischung aus Wasser, Gras und Matsch und lausche, ob die Götter mir etwas zu sagen haben. Fünf Steingötzen hocken auf einem Altar und beugen sich zu mir herab. Ihre Namen wechseln von Dorf zu Dorf, die Wunder, die sie einst vollbracht haben, haben Stoff für hunderte Legenden geliefert. Vier von ihnen sind scharfkantige Figuren aus schwarzem, glatt poliertem Stein, mit langen Fingern und vom Regen verwaschenen Gesichtern. Ihre Münder sind zu Grimassen verzerrt, aber man kann noch immer erahnen, wie erhaben diese Meisterstücke der Handwerkskunst einst ausgesehen haben mussten.
Die letzte Statue ist unbearbeitet. Im Laufe der Zeit ist er in Vergessenheit geraten, genauso wie alle seine anderen Namen und seine Geschichten, und so kennt man ihn nur noch als den Verlorenen. Einzig und alleine seine bloße Existenz ist geblieben. Falls ein Gott sterben kann, dann sieht sein Tod so aus.
Hin und wieder leisten mir einige Gläubige aus dem Dorf Gesellschaft bei meinen Gebeten, aber heute bin ich allein. Ich genieße die Einsamkeit der frühen Stunde, genieße das Gefühl, der einzige Mensch in ganz Wanderfels zu sein. Ich genieße den letzten Moment der Stille, bevor das Dorf aufwachen und den Schnee sehen wird. Einige von ihnen werden zu mir kommen und mich fragen, warum der Winter zurückkehrt. Ich werde ihnen antworten, was ich bereits Harlan und Artjom gesagt hab, und es wird ihnen nicht gefallen. Vertrauen ist sowohl der Segen als auch der Fluch des Gläubigen. Gab es eine gute Ernte oder einen schnellen Winter, preisen sie die Vier. Aber sobald ihr glasiges Haus des Glaubens von einem Stein getroffen wird, wenden sie sich von ihnen ab.
Vor meinem geistigen Auge erscheint ein Bild von Eva.
Sie ist nicht echt.
Mein Haus ist nicht aus Glas, meines ist aus Stein, sicher vor Unwetter und Tieren, die an seinem Fundament nagen könnten. Ich senke den Kopf und bete, die Götter mögen mir Erleuchtung schenken, die Kraft geben, meine menschlichen Zweifel zu besiegen. Mir das große Ganze zeigen.
„Bin ich bloß besoffen oder hockst du da wirklich im Schnee?“
Hinter mir erscheint ein rotbackiger, aber gut gelaunter Harlan. Mit einem lauten Plumpsen lässt er sich ins Gras fallen und rollt sich auf den Rücken, die Beine angewinkelt. In seinem Bart klebt Kotze.
„Es ist vier Uhr Morgens, Bruder.“
„Weiß ich. Linda hat ihre Kneipe vor einer Stunde geschlossen.“ Er krächzt ein Lachen. „Wo hast du denn deinen Jungen gelassen? Ich hab mit Kastor ne Wette am Laufen. Er behauptet felsenfest, du würdest ihn jeden Morgen mit zum Beten schleppen.“
„Er schläft.“
„Ha! Der räudige Hund schuldet mir eine Nacht mit seiner Frau!“
„Ich dachte, du hast eine.“
Harlan spuckt auf den Boden. „Elise, die alte Fotze. Sogar Artjoms Kuscheltiere haben mehr Grips als diese Frau. Wie konnte ich das nicht erkennen? Jede Nacht hurt sie sich von einem Kerl zum anderen, macht mich zum Gespött der Leute. Ich meine, jetzt haben unsere Frauen wenigstens etwas gemeinsam, oder?“ Er lacht ein fieses, dreckiges Lachen. „Leider ist deine tot und meine quietschfidel. Scheiße aber auch.“
Ich schweige, geduldig darauf wartend, ob die Götter mir etwas mitzuteilen haben. Leider ist der Einzige, der etwas mitteilen möchte, Harlan.
„Weißt du überhaupt, wie neidisch ich auf dich war?“
„Nein.“
„Mein glaubensfester, kleiner Bruder. Guckt keiner Frau hinterher, fasst keinen Krug Bier an. Ich habe nichts von diesem religiösen Geschwafel verstanden, mit dem du dich umgeben hast, und niemand sonst aus Wanderfels hat es. Und dann, nach fünf verfickten Jahren, kreuzt du hier mit einem Sohn und einer wunderschönen Frau auf und bist immer noch derselbe Holzkopf wie damals. Keine Ahnung, was Eva an dir fand.“
„Hör auf, von ihr zu reden.“
„Warum? Tut es weh?“ Er lacht. „Tut es weh, wenn ich ihren Namen ausspreche? Eva-“
„Halt den Mund!“
„Schön. Wie du meinst.“ Er gähnt. „Dein Junge sah gestern geknickt aus.“
„Es geht ihm gut.“
„Das sagt du. Aber wir wissen ja beide, dass du keine Ahnung von Menschen hast, richtig?“ Ächzend rollt er sich auf den Bauch und starrt in die Leere.
„Warum bist du wirklich gekommen?“
„Brauche ich einen Grund, meinen Bruder zu besuchen?“
„Es ist vier Uhr nachts und du bist stinkbesoffen. Sag mir einfach, was du möchtest.“
Er seufzt. Sein Kopf sackt ab, so dass es jetzt mit dem Kinn flach auf der Brust aufliegt. „Ach, es ist nichts. Nur...“
„Was ist?“
„Ich habe Angst.“ Harlan schaut mich an. Er ist ungewöhnlich blass. „Scheiße. Schön. Ich habe es gesagt und dazu stehe ich. Ich habe Angst vor dem Winter“
„Das ist doch Unsinn.“
„Ach ja? Sag das mal Hrangar. Und seinen toten Freunden. Und ihren Familien. Dieser beschissene Winter. Ich hasse ihn.“
„Beruhige dich.“
„Denk doch nur mal an die Leute, die seinetwegen gestorben sind. Unsere Späher. Smutje. Eva. Unsere Tante.“ Eine Träne rinnt in seinen roten Bart. „Meine Ise.“
„Harlan.“
„Sie war so klein. So ein zartes, kleines Ding.“ In seinen Augen funkeln die Tränen. „Sie konnte noch nicht einmal sprechen. Ich habe nie ein einziges Wort von meiner Tochter gehört, kannst du das glauben?“ Seine Stimme geht in einem elendigen Wimmern unter und er wischt sich mit seiner Pranke durchs Gesicht. „Und das alles nur, weil uns die Götter jedes Jahr einen Winter schicken. Und als ob das nicht genug wäre, schicken sie ihn nun im Sommer! Ich verstehe es nicht, ich verstehe es einfach nicht. Vielleicht ist ihnen einfach langweilig, vielleicht finden sie Spaß an unserem Leid. Ach, ich weiß nicht.“ Sein Atem wird ruhig. „Du solltest mehr Zeit mit Artjom verbringen. Der Winter ist für niemanden einfach, aber am wenigsten für Kinder.“ Harlan stoppt. Langsam und unter schwerster Anstrengung beugt er sich auf und lehnt sich mit dem Oberkörper an den Altar. „Ich sollte jetzt gehen.“
„Ist alles in Ordnung?“
„Sicher.“
„Komm schon, Harlan. Bleib noch eine Weile.“
„Nein. Tut mir leid, ich wollte die alten Geschichten nicht wieder auspacken. Dann guck ich mal, ob Elise schon zuhause ist.“
Harlan verschwindet. Es wird still in Wanderfels. Die Götter schweigen weiter.

Die Wochen vergehen. Je kleiner eine Gemeinde ist, desto präsenter ist die Abwesenheit eines Einzelnen. Ich tröste die Frauen und Töchter, besänftige die Söhne, die mit geballten Fäusten vor leeren Urnen hocken. Auch wenn die Hinterbliebenen bei meinen Worten nicken, weiß ich, dass sie tief in ihrem Inneren keinen Sinn finden. Ich wünschte, ich könnte es ihnen verständlich machen, dass er nur gegeben werden kann, nicht entdeckt. Tatsächlich ertappe ich mich immer öfter selbst dabei, ein Gefühl der Ungeduld zu verspüren.
In der dritten Woche wird Kastor dabei erwischt, wie er eines der wenigen Fässer mit gebeiztem Fisch klaut. Zur Strafe verprügelt Harlan ihn öffentlich auf dem Marktplatz, solange, bis sein Blut die Goldfäden rot färbt und die aufgebrachte Menge wieder beruhigt ist. Einige der Strenggläubigen fordern, es sei nicht wert, ihn weiter zu füttern, und wollen Kastor über den Rand der Plattform zu werfen. Aber Harlan lässt nicht mit sich reden.
Eine Woche später stürzt eines der Waisen von der Plattform. Keiner weiß, ob sie gesprungen ist oder nicht, aber wenn man an der Kante steht, kann man in der endlosen Schneelandschaft einen kleinen, schwarzen Punkt erkennen. Da wir ihre Leiche nicht bergen können, bekommt auch sie eine leere Urne. Ein sechstes Band flattert jetzt aus den Fenstern, spendet ein wenig mehr Farbe.

Ich wache auf. Es ist mitten in der Nacht. Gedimmtes Licht scheint ins Zimmer, beleuchtet das gespenstische Schneetreiben auf der Straße. Feine Linien aus Eis teilen das Fenster in hunderte, symmetriefreie Scheiben. Gegenüber liegen die Häuser im Schatten.
Ich will gerade wieder einschlafen, als ich bemerke, wie ein Licht über die Häuserwand wandert. Sofort bin ich am Fenster. Unter mir, direkt vor meiner Haustür, schwebt ein faustgroßes, blaues Licht. Sanft pulsierend stößt es eine Welle nach dem anderen aus, gleitet hoch und runter und dreht sich tanzend um sich selbst, während es einen hauchdünnen, weißen Schleier hinterlässt, welcher sich kurz darauf in einem Band aus Licht aufzulösen. Das Irrlicht schwebt weiter, Richtung Marktplatz, und plötzlich kann ich für einen kurzen Moment eine wankende Gestalt mit einem roten Bart und haarlosen Kopf erkennen, die sich an eine Hauswand stützt, einmal nach vorne beugt und dann in die Dunkelheit torkelt.
Kurz darauf ist die Straße wieder gänzlich in Schwärze gehüllt.

Mein verkaterter Bruder und ich stehen an der Kante, die Arme hinter dem Rücken verschränkt und in die Ferne starrend. Die Leiche des Waisen ist in einem Meer aus Weiß verschwunden, vom Neuschnee verdeckt. Ich weiß nicht, was ich suche, aber finden tue ich es sicher nicht. Vor Helligkeit schmerzen meine Augen. Der Grasboden unter unseren Füßen ist stellenweise gefroren. Am Tag schmelzen die Goldfäden das Eis, aber kaum kommt die Nacht, frieren Wind und Frost den Boden wieder ein, damit die Sonne ihn am nächsten Morgen auftauen kann. Ein endloser Kreislauf.
„Kastor hat mir noch immer nicht verziehen“, murmelt Harlan. Seine ohnehin schon kleinen Augen liegen jetzt so eng in der Stirn, dass man sie unter den buschigen, verschneiten Augenbrauen schwer erkennen kann. „Für die Prügel.“
„Er kann froh sein. Ohne dich hätten ihn die anderen noch getötet.“
Ich kann seine Antwort nicht verstehen, aber es ist sicherlich etwas ketzerisches. Vielleicht liegt es daran, dass mir der Wind um die Ohren pfeift, vielleicht aber auch daran, dass er die Stimme senkt. Ich bekomme eine Gänsehaut.
„Weißt du, sonderbarerweise tut es mir leid“, murmelt er jetzt. „Ich wünscht, ich hätte ihm nicht die Fresse polieren müssen.“ Er lacht leise. Dunstschwaden bilden sich vor seinem Mund, werden ihm aber entrissen, noch bevor er fertig ausreden kann. „Denke bloß nicht, wir wären jetzt Freunde. Kastor ist ein riesiges Arschloch und ich schwöre dir bei deinen vier Göttern, könnte ich mit seiner Frau schlafen, ich würde es auf der Stelle tun. Und trotzdem...“
Ich verschränke meine Arme. „Die Götter lehren uns, dass unseren Taten Konsequenzen folgen, ob gewollt oder nicht. Kastor wusste, dass Klauen falsch war, und hat es dennoch getan. Nun muss er mit der Strafe leben.“
Harlan schnaubt. „Ach ja? Ist ja nicht so, als wäre der Rest von uns heilig, was?“
Ich ignoriere seinen Seitenhieb. Am Horizont ist ein grauer Punkt aufgetaucht, stört das Farbenmonopol des Winters.
„Unseren Taten folgen Konsequenzen.“ Harlans Blick verliert den letzten Rest Ausdruck. „Schön. Ich frage dich das jetzt als Priester, nicht als Bruder. Ist es meine Schuld, dass die Späher tot sind?“
„Natürlich nicht.“
„Wessen dann?“
Ich zögere mit meiner Antwort und bevor ich etwas sagen kann, hat er mir das Wort bereits wieder abgeschnitten. „Die des Winters, richtig?“
Ich nicke vorsichtig.
„Und der Winter kommt zurück, weil die Götter es so wollen. Richtig?“
„Ich weiß, worauf du hinauswillst.“
„Vor ein paar Wochen noch war Hochsommer. Ich hatte doch keine Ahnung, was geschehen würde. Ich wollte nie...“ Er bricht ab. Sein roter Bart hat an Intensität verloren. Graue Haarsträhnen schlängeln sich durch eine Schicht aus Schnee. „Scheiße. Dieser Winter macht mich noch verrückt.“
Ich lege ihm die Hand auf die Schulter. „Alles gut. Wenn du nicht den Vier vertraust, dann vertraue mir. Der Winter wird vorübergehen.“
„Ja, aber wann? Weißt du, ich habe nachgedacht.“ Harlan lacht. „Ja tatsächlich, dein kleiner, dummer Bruder ist nicht der einzige in der Familie, der sich ab und zu mal Gedanken zu einer Sache macht. Naja, vielleicht doch.“ Seine Stimme verliert das letzte Stück Unbeschwertheit. „Meiner Meinung gibt es nur drei Möglichkeiten. Entweder gibt es deine Götter überhaupt nicht. Oder sie können den Winter nicht aufhalten. Oder es ist ihnen einfach scheißegal.“
Plötzlich taucht unter uns eine gewaltige Kette aus Stahl und Eisen auf. Ein Ruck fährt durch den Boden, als sie sich spannt und die Insel zum Stillstand zwingt, aber der Wind presst sich noch immer gegen das fliegende Stück Fels. Ich kann ein Kreischen hören, dass ächzende Geräusch von zwei elementaren Kräften, die aufeinanderprallen. Wir bewegen uns nicht mehr, keinen Zentimeter, aber man kann den Druck förmlich sehen, der auf der Kette lastet. Erst jetzt bemerke ich überhaupt, wie weit der Ostwind uns fort getrieben hat.
Der graue Fleck am Horizont ist größer geworden.

„Er kommt! Ein vierter Bote kommt!“
Die Stallburschen werfen noch etwas Stroh in die Pferdeboxen, bevor sie die Klappen verriegeln und das Weite suchen. Alles, was nicht niet und nagelfest ist, wird von den Straßen geräumt. Die bunten Bänder verschwinden aus den Fenstern. Menschenströme ziehen durch die vermatschten Gassen, folgen den rettenden Goldfäden zum Marktplatz. Um mir herum bauen die Händler ihre Stände ab.
„Artjom!“ Ich rufe seinen Namen, aber er geht in der hektischen Menge unter. Niemand schenkt mir Beachtung. „Hat jemand Artjom gesehen? Artjom, wo bist du?“
Harlan steht auf dem Brunnen. „Bewegt eure Ärsche hierher! Los, macht schon!“
Einer nach dem anderen verschwindet im dunklen Schacht. Ich suche die Menge ab, zwänge mich zwischen händehaltenden Kindern und Eltern mit Decken und Taschen hindurch, halte Ausschau nach Artjoms Freunden. Aber ich kann keinen von ihnen finden. Schließlich ist der Platz leer.
„Hast du Artjom gesehen?“ rufe ich Harlan zu, aber der hat das Seil bereits mit beiden Händen gepackt und verschwindet im der Dunkelheit des Brunnens.
Als ich mich umdrehe, trifft mich die Sturmwand. Ich werde nach hinten geworfen, überschlage mich, pralle unsanft gegen den Brunnen. Auf einmal ist es stockdunkel, als die Sturmwolke Wanderfels einhüllt. Das Strohdach eines Hauses rollt über den Marktplatz, verfehlt mich um eine Armlänge. Um mir herum prasseln Hagelkörner nieder, reißen Kerben und Löcher in den Steinboden. Wo sie einschlagen, bildet sich Eis, aber bevor sie mich treffen können, bin ich bereits auf den Beinen und springe in den Brunnen.
Ich lande in einer Pfütze. Das gedämmte Licht der Goldfäden wirft meinen Schatten tausendfach an die gekrümmte Wand und als ich nach oben schaue, erblicke ich einen pechschwarzen Himmel.
Mitten in Wanderfels liegt, verschlossen hinter einer schweren Messingtür, unser Kornspeicher. Im Inneren ist Harlan gerade dabei, den Dorfbewohnern Plätze zuzuweisen. Ein Rahmen aus Fässern und Kisten zieht sich an den Wänden entlang. Auf ausgebreiteten Tüchern hocken Menschen Körper an Körper, schwatzen und lachen nervös miteinander, während sie versuchen, den Sturm zu vergessen. Aber ich kann in ihren Augen sehen, was sie wirklich denken. Rote, verwässerte Kugeln, manche voller Angst, manche einfach nur voll Ungewissheit. Ein Knallen hallt zwischen den Wände umher. Die hässliche Helena versteckt sich mit dem Kopf unter einem Kissen, während sie ihre Hände auf ihren Kopf gelegt hat und seltsame Worte vor sich her murmelt. Neben ihr weint ihre Tochter.
Eine Hand greift nach mir. Es ist Kastor.
„Was soll das alles?“
„Bitte, jetzt nicht.“
„Was soll das? Wieso schicken die Götter uns einen Sturm?“ Der Fischer war nie hübsch, aber seit Harlan ihm ein blaues Auge verpasst hat, würde ihm nicht einmal mehr Elise einen Besuch abstatten.
„Kastor, ich muss meinen Sohn finden! Hast du Artjom gesehen?“
„Wieso schickt der Winter einen vierten Boten? Was haben wir denn falsch getan? Womit haben wir all das Leid verdient?“
„Ich weiß es nicht!“
Seine Hand löst sich. Plötzlich steht Harlan neben mir.
„Harlan, wo ist Artjom?“
„Was?“
„Wo ist mein Sohn? Hast du ihn gesehen?“
„Nein. Keine Ahnung. Ich dachte, du würdest ihn holen.“
Ich stürme zur Tür, aber seine Hand packt mich an der Schulter. „Was tust du da? Du kannst da nicht einfach rausgehen! Im Sturm wirst du keine fünf Minuten überleben!“
„Artjom ist da draußen.“
„Es hat keinen Sinn, nach ihm zu suchen.“
„Gar nichts ergibt mehr Sinn.“ Es fühlt sich an, als würde mir mein Leben zwischen den Fingern verrinnen. Ein Teil von mir fehlt, den ich noch gar nicht kannte, gar nicht wahrgenommen habe. Als habe jemand die Uhr zu einem Punkt zurückgedreht, an dem ich Eva noch nicht kannte und Artjom nicht mehr war als Name. Ich fühle mich wieder wie der junge, unbeschwerte Mann, der voller Tatendrang in die Welt hinauszog, und doch schwingt dabei etwas mit, dass sich erst jetzt ein Teil von mir ist.
Ein Lügner. Ich bin ein Lügner.
Und ich fühle mich unglaublich betrogen.
„Bruder, jetzt hol mal tief Luft. Dein Sohn ist ein kluger Bursche. Sicherlich versteckt er sich, bis der Sturm weg ist. Du wirst schon sehen. Ihm passiert nichts.“ Aber in seinen Augen sprechen etwas anderes. Auch er lügt. Er weiß, wie die Dinge wirklich stehen.
Ich muss an Ise denken und an Eva. An die Späher. An alles, was der Winter genommen hat. Ich würde eher sterben, als Artjom zu verlieren.
Ich löse mich von ihm und greife nach der Klinke.
Es klopft an der Tür. Ein einziges Mal, hart und kurz.
Die Gespräche verstummen. Die Leute starren Harlan an. Harlan starrt mich an. Meine Hand schwebt über der Klinke, wartet auf eine Entscheidung.
Es klopft erneut. Ich reiße die Tür auf.
Schnee weht herein, blendet mich, nimmt mir die Sicht. Schlagartig wird die Wärme, hinausgezogen, während ich langsam wieder zu sehen beginne.
Im Türrahmen steht ein Mann. Er hat scharfe, kantige Gesichtszüge und blasse Wangen, in denen sich das Licht der Goldfäden spiegelt. Schneeweiße Haare fallen ihm über die Schultern und über einen zerschlissenen Mantel. In der Hand hält er einen kahlen Wanderstock. Frost überzieht seine Fingerkuppen und seine faltigen, alten Hände.
Hinter ihm erscheint Artjom. Er zwängt sich an dem Fremden vorbei und läuft zu mir, während sein unbekannter Begleiter einfach nur dasteht und uns anstarrt. Das Dorf starrt zurück.
„Wer bist du?“, fragt Harlan.
Langsam kommt er auf uns zu. Hinter ihm fällt die Tür ins Schloss. Im Licht der Goldfäden kann ich ihn genau betrachten. Sein Gesicht hat hunderte feine Kanten, wie ein Block Eis, welchen man immer und immer wieder zerkratzt und geformt hat. Schnee löst sich aus seinen Haaren und fällt zu Boden. Eine Gänsehaut jagt mir über den Rücken.
Er öffnet den Mund. Ich weiß nicht, wie lange es dauert, bis er spricht, aber es könnten Stunden gewesen sein. Vielleicht auch Tage.
Menschen.
Seine Worte sind überall und nirgends gleichzeitig, hoch und tief, laut und leise. Ein Chor hallt von den Wänden wieder. Er redet mit der Stimme von Tausenden und doch nur mit der eines Einzelnen.
Der Knabe hat mich hierher geführt.
Sein Blick gleitet durch den Raum, bleibt an jedem von uns haften, als wäre unsere Existenz ein pures Wunder. Dunstschwaden bilden sich vor meinem Mund, während über uns der Sturm lauter wird.
Ich kenne diesen Ort
In seiner Stimme schwingt ein Hauch Verwunderung mit. Es mag an mir liegen, aber ich bin mir sicher, dass das Licht der Goldfäden vorhin heller war.
Wo bin ich?
Alle schauen zu Harlan. Harlan starrt zu mir. Ich erwidere etwas, aber die Worte bleiben mir im Hals stecken. Der Wanderer wendet sich mir zu.
„Wanderfels“, huste ich.
Wanderfels.
Er dreht sich zur Tür.
Ich kenne diesen Ort, aber ich weiß nicht, woher. Ich habe es vergessen.
Seine Finger berühren die Tür. Eis bildet sich auf dem Messing und breitet sich aus. Helenas Tochter umklammert ihre Mutter und vergräbt den Kopf in ihrem Schoss. Keiner rührt sich. Über uns tobt der Sturm jetzt in voller Stärke. Ich kann etwas krachen hören, ein Splittern.
Ich kann mich nicht erinnern. Ich hatte längst vergessen, dass ich vergessen habe.
Die Goldfäden werden immer schwächer. Das Eis bedeckt jetzt die ganze Tür.
„Was bist du?“, flüstert Harlan.
Ich weiß es nicht. Nicht mehr.
Er legt den Kopf schief, als dachte er angestrengt nach.
Ich wurde. Ich wurde verbannt. Ich muss etwas suchen.
„Verbannt?“ Es ist Kastor.
Eine Strafe.
„Aber warum?“, frage ich.
Ich weiß es nicht mehr. Es ist längst belanglos geworden.
Der Winter blickt sich um. Seine Hand nähern sich einer der Goldfasern, die sich durch die Wand zieht. Sie flickert, immer und immer wieder, und wird schließlich silbrig. Auf einmal ist es noch ein kleines Stückchen dunkler.
Ich kenne diesen Ort.
Harlan schaut zu mir rüber. Artjom zieht an meinem Ärmel. „Papa kennt die Geschichte. Los, erzähle sie ihm.“
Ausdruckslos wendet sich der Winter mir zu und so erzähle ich ihm dieselbe Geschichte, die ich auch Artjom und seinen Freunden erzählt habe. Ich berichte von einer Katastrophe im Osten, die den Boden zerrissen hat, von den Fragmenten, die jetzt durch die Welt fliegen, von den Goldfäden, die unsere Plattform mit ihrer exotischen Magie zusammenhalten. Ich erzähle auch, wie wir jedes Jahr in die Luft steigen und wie wir versuchen, den Boten zu entfliehen. All das nimmt der Winter schweigend auf und als ich fertig bin, senkt er den Kopf und dreht sich zur Eistür.
Danke.
„Wofür?“
Dass du mich erinnert hast. Ich muss jetzt gehen.
„Warte“, sage ich.
Er dreht sich zu mir um.
„Gibt es mehr? Mehr wie dich?“
Er überlegt.
Das letzte Mal, als ich ihnen begegnete, haben sie mich auf diese Welt geschickt. Ich weiß es nicht.
Dann öffnet der Winter die Tür aus Eis und verschwindet in der Dunkelheit.

Als der Sturm vorbeigezogen ist, bin ich der Erste, der aus der Gruft klettert. Kaum ein Haus steht noch. Die Tonwände sind zersplittert und voller Kratzer und Schnitte, die Baumstämme lädiert. Die meisten Strohdächer sind verschwunden. Stattdessen stapeln sich aufgelöste Fetzen in den Gassen wie Barrikaden. Etwas steht zwischen mir und die Sonne und ich brauche einen Moment, um zu begreifen, dass es schneeweiße Baumwipfel sind. Und sie werden größer.
Dann schlagen wir auf. Ein Wucht zuckt durch den Boden, reißt mich von den Beinen. Wanderfels neigt sich gefährlich scharf nach rechts und bleibt halb schräg auf der Seite liegen. Ich rutsche hinab, über den Marktplatz, aber schaffe es noch rechtzeitig, einen der Silberfaden im Boden zu packen. Jemand schreit. Der Brunnen, der noch eben senkrecht in den Himmel gezeigt hat, liegt jetzt quer und willkürlich. Um mir herum haben die meisten Goldfäden sich in Silber zurückverwandelt, aber stellenweise findet sich in ihnen noch einen Hauch Glanz, was unseren Fall abgemildert hat. Am Horizont kann ich das geschwungene Metall einer gigantischen Kette erkennen.
Wanderfels ist von seiner letzten Reise zurückgekehrt.
„Heilige Scheiße.“ Es ist Harlan. Er springt aus dem Brunnen, rutscht über den Steinboden und kommt wenige Meter neben mir zum Halt. Seine Augen weiten sich, als er den Anker sieht. „Vielleicht ist es an der Zeit, unsere Häuser auf dem Boden zu bauen. Was meinst du, Bruder?“
Ich nicke.
„Bist du jetzt eigentlich arbeitslos?“
„Keine Ahnung.“ Ich weiß bei bestem Willen nicht, wie es weitergehen soll.

Der Winter kommt nie wieder zurück. Er verschwindet im Osten. Ich weiß nicht, was er gesucht hat und weshalb, aber ich hoffe, er hat es gefunden. Ich bete für ihn, dass diese sinnlose Strafe ein für allemal ein Ende hat.

 

Hey @Raindog ,

ich muss ehrlich zugeben, dass bei mir die Challenge-Luft ziemlich raus ist. Warum hat mir niemand gesagt, dass das so anstrengend sein kann? :D

Von daher danke ich dir sehr für deinen Kommentar, der mich zurück in den Autor-Modus gezogen hat.

Den Einstieg finde ich wirklich gelungen:

Danke. Das ist auch noch eine der wenigen Stellen, die von der originalen Fassung geblieben sind.

nsonsten gehöre ich eher nicht zur Zielgruppe für Fantasy, und ich muss gestehen, mich hat tatsächlich die Länge abgeschreckt und ich habe die Geschichte zunächst zur Seite gelegt.

Ja, eine Kurzgeschichte ist das eigentlich schon nicht mehr.

Eine Reihe Schafe klingt komisch, ein paar würde besser klingen, dann hättest du auch das Verb im Plural. Sind doch mehrere, gönne ihnen den Plural. ;)

Ich gönne ihnen doch schon frisches Gras! Na schön, du hast ja Recht. Plural für die Schafe ;).

Laufen die am Boden entlang oder schweben die in der Luft herum wie Spinnweben?

Die sind im Boden, eigentlich. Also sitzen in der obersten Schicht Erde / Stein und laufen dann halt quer in alle Richtungen.

Ich finde es erfrischend, dass er diese schnoddrige Alltagssprache benutzt.

Das höre ich gerne! Hatte erst Probleme damit, die Sprache richtig zu dosieren. Irgendwie klang Harlan wie ein Tec-Guru, was dem Ganzen ziemlich die Atmosphäre genommen hat.

Und der Erzähler ist so ein hochgewachsener Mensch, der eine schöne Fremde geheiratet hat, da klingt er ja doch viel attraktiver.

Mein alter Deutschlehrer war (pott)-häßlich, Kettenraucher und irgendwie immer voll ironischem Schlagpotenzial. Und trotzem hatte er eine bildhübsche, asiatische Frau, was bald das Gerücht in die Welt gesetzt hat, er hätte sie aus einem Katalog bestellt....
Was ich sagen will, ist, die Liebe ist etwas seltsames. Ich stelle mir den Prot. eher als in sich gekehrten Prediger vor, Harlan nicht. Auf einer Party wäre er die Art von Mensch, die reihenweise Frauen anspricht und dabei vor Charme strotzt, während der Prot. in der Ecke hocken und an seiner Cola nippen würde.
Vielleicht ist attraktiv das falsche Wort, aber ich hoffe, du weißt jetzt, was ich meine :lol:.

Ich würde es schön finden, wenn du dich mehr auf solche Besonderheiten beschränkst und die anderen Stellen, wo nicht wirklich etwas passiert, oder immer wieder ähnliche Befindlichkeiten beschrieben werden, einfach eindampfst.

Ja, das habe ich mir auch gedacht. Gleichzeitig möchte ich aber, wenn ich das Ganze nochmal überarbeite, mehr auf die Religion und deren Bedeutung eingehen. Passt das zusammen?
Nein.
Mache ich es trotzdem?
Wahrscheinlich.

Soweit mein kleiner Leseeindruck, vllt. ist ja noch etwas Hilfreiches dabei für dich, so kurz vor Schluss.

Absolut! Vielen Dank für deinen Kommentar!

Liebe Grüße
Michel

 

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