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Was du verdienst
Kira lehnte sich an die Brüstung, fühlte Beton und sah hinunter ins schlammige Wasser. Sie stellte sich vor, dort unten zu sein und um ihr Leben zu schwimmen. Voller Angst würde sie schreien, aber das Ufer wäre zu weit entfernt. Doch dann würde sie sich selbst sehen, dort oben auf der Brücke, mit dem langen, schwarzen Mantel, der Tasche voller Bücher und den im Wind wehenden Haaren. Und ihre Rufe würden verstummen, denn sie wusste dass sie von der Gestalt keine Hilfe erwarten konnte.
Die Bibliothek befand sich nicht weit von der Brücke in einem alten Gebäude mitten in der Stadt. Kurz bevor Kira ankam, begann es zu regnen. Sie nahm die Tasche hoch und legte beide Arme darum. Mit dem Fuß schob sie die eisenbeschlagene Tür auf und ein vertrauter Geruch von vergilbtem Papier stieg ihr in die Nase.
Der Mann hinter der Theke tippte Zahlenkolonnen in einen kleinen Computer mit Flachbildschirm.
»Hallo, kann ich dir helfen?«, fragte er und lächelte.
Sie stellte die Tasche ab und griff hinein, hob vorsichtig ein paar Bücher heraus und legte sie auf die Theke.
»Ich würde die gern zurückgeben.«
Er nahm die Bücher entgegen und die Barcodes leuchteten rötlich, als der Scanner sie erfasste.
»Keins ist überzogen«, sagte er.
Dann brachte er den Stapel in den rückwärtigen Bereich zu einem kleinen Wagen. Kira beobachtete, wie er darauf achtete, sie nicht zu beschädigen. Seine Finger griffen sanft zu, sie schienen die Buchrücken fast zu streicheln.
»Ich bin übrigens Hannes«, sagte er. »Bin Praktikant hier.«
Kira nickte.
»Wenn du was brauchst, frag mich einfach. Um diese Zeit ist nicht viel los.«
Kira lächelte scheu und schlich in die Ecke, in der sich die Regale mit Fantasybüchern befanden. Sie meinte zu spüren, wie sein Blick ihr folgte. Wie Hannes sie betrachtete, dieses magere Mädchen mit der blassen Haut vor dem Regal mit Büchern über Elfen, Drachen und Feen.
Ihre Finger glitten die Buchrücken entlang. Wie in Trance setzte sie einen Fuß vor den anderen. Sie lauschte in ihr Inneres, versuchte zu erkennen, ob eines der Bücher ihr etwas sagen wollte. Achtete auf die Bilder, die aus den Tiefen ihres Unterbewusstseins auftauchten. Sie sah Drachen, sich windende Schlangen. Einen Fluss, eine reißende Strömung, darüber eine Brücke. Und auf der Brücke stand ein Mensch, der sie anlächelte. Als sie genauer hinsah, erkannte sie, dass es Hannes war.
Schnell zog sie das Buch heraus und ging zur Theke.
»Fantasy?«, fragte Hannes und hob die Brauen. »Ja«, sagte sie.
»Ich lese das auch ab und zu«, sagte er. »Und dafür darf ich mir immer Lästereien von Kollegen anhören, die mir sagen, ich soll doch mal was Richtiges lesen. Richtige Literatur, nicht so einen Schund. Dabei finde ich so einen Schund eigentlich ganz okay.« Er scannte das Buch in den Computer. »Regnets draußen noch?«
»Ja.«
»Ich bin mit dem Auto hier und habe in einer halben Stunde frei. Ich kann dich mitnehmen, wenn du möchtest.«
»Ich komm schon irgendwie heim«, sagte Kira.
»Bist du sicher? Ist wirklich kein Problem. Mein Auto ist kein Schmuckstück, aber es fährt. Und vielleicht könnten wir uns da ja gemeinsam über Fantasy unterhalten.«
Kira schob eine Strähne hinters Ohr. Sie stellte sie sich vor, wie es wäre, mit Hannes im Auto zu sitzen. Vielleicht würde Musik laufen. Vielleicht würde er ihr etwas erzählen. Über sich. Über seinen Job. Würde ihr erklären, dass er eigentlich etwas ganz anderes werden wollte. Pilot womöglich. Lokführer.
Dann würden sie gemeinsam zu einem verlassenen Parkplatz fahren, er würde sich über sie beugen, ihre Bluse öffnen und die Brüste berühren.
Sie würde ihn besuchen, jeden Tag. Ihm Geschenke bringen, vielleicht. Sie würde es perfekt machen. Sie wäre perfekt für ihn. Er wäre glücklich mit ihr. Sie würde besser machen als die Male zuvor. Und irgendwann würde er sie fragen, ob sie ihn heiraten würde.
Doch dann würde alles grausam werden. Er würde sie nicht mehr schätzen. Sie verachten. Sie vielleicht schlagen. Sie dachte an ein überschminktes blaues Auge. An Lügen. An zerbrochenes Geschirr und langärmlige Pullover auf Gartenpartys.
Aber die schönen, sanften Hände - sie fragte sich, ob diese Hände grausam sein könnten.
»Kannst es dir ja noch überlegen«, sagte Hannes. »Ne halbe Stunde brauche ich noch.«
Die Sitze in dem alten VW rochen nach kaltem Zigarettenrauch. Im Beifahrerfußraum lagen Zeitschriften. Kira platzierte ihre Füße sorgfältig daneben, um deren Anordnung nicht zu stören. Sie wollte keine Spuren hinterlassen. Am Rückspiegel baumelte ein Totenkopf.
Hannes ließ den Motor an und drehte die Heizung auf, als er sah, dass Kira fröstelte.
Sie fuhren durch die Tiefgarage nach draußen. Im Dunkel der Straßen trommelten schwere Tropfen auf das Blechdach. Kiras Daumen polierte den Türgriff, die andere Hand drückte die Tasche in ihren Schoß.
»Denkst du nach?«, fragte er.
Kira schüttelte den Kopf. »Nein.«
»Weil du so still bist.«
»Weiß nicht.«
»Schade, weil eigentlich hast du ne süße Stimme«, sagte er. »Außerdem könnten wir dann über Bücher reden.«
Kira starrte nach vorne auf die Straße und als sie nichts antwortete, zuckte Hannes mit den Schultern. »Wohin ich dich fahren soll, das musst du mir aber schon verraten.«
»Über die Brücke«, antwortete sie. »Am Fluss entlang. Gegenüber vom Park.«
»Ah. Nette Gegend.«
»Weiß nicht«, sagte sie. »Kann sein.«
Der Scheibenwischer schob Wasser zur Seite. Sie zählte die Zeitschriften im Fußraum. Es waren vier.
»Da vorn muss ich raus.«
»Ist gut.«
Hannes steuerte eine Parklücke an, der Rückwärtsgang protestierte laut. Nachdem er eingeparkt hatte, schaltete er zuerst den Motor aus, dann das Licht. Draußen ging ein Pärchen vorbei und lachte. Kira schob den Zeigefinger in die Mulde hinter dem Türgriff.
»Warte«, sagte Hannes. Kira hielt inne. Sie fühlte ihr Herz pochen.
»Wenn du die Bücher erst in einem Monat wieder zurückbringst, dann bin ich wohl nicht mehr da. Ich mach ja nur ein Praktikum. Und dann weiß ich nicht, wie ich dich erreichen kann. Darum, vielleicht gibst du mir deine Nummer? Dann könnte ich dich anrufen und wir könnten quatschen. Über Bücher oder so.«
Kira schluckte und sah nach vorne. Vielleicht würde dieses Mal ja alles gut werden. Vielleicht würde sie dieses Mal alles richtig machen. Aber das bedeutete, dass sie mutig sein musste. Sie dachte an seine Hände und stellte sich vor, wie er ihre Brüste damit berührte. Seine sanften Hände ihre kleinen, unscheinbaren Brüste. Ein Kribbeln breitete sich in ihrem Bauch aus und wogte durch ihren Körper. Sie wollte von Hannes besessen werden, sie wollte ihn in sich aufnehmen, seinen Körper fühlen, mit ihm verschmelzen. Sie wollte ihm gehören.
Im nächsten Moment schloss sie die Augen, beugte sich vor und ihre Lippen suchten seinen Mund, küssten ihn.
Er schrak zurück, aber dann wurden seine Lippen weicher. Sein Mund schmeckte herb, der Geruch seiner Achseln stieg ihr in die Nase, als er seine Arme um sie legte.
Hannes war perfekt, das wusste sie. Und er würde keinen Grund dafür finden, sie zu verlassen, wenn sie nur gut genug für ihn war.
Hannes zog ihren Körper an sich, seine Hände wanderten an ihrer Taille entlang nach unten bis zu ihren warmen Schenkeln.
Doch was, wenn alles ein großer Fehler war? Wenn er merkte, dass sie nicht perfekt war? Nicht perfekt sein konnte? Er würde es erkennen, früher oder später. Dann würde er zweifeln. Würde sie schlagen, sie dafür bestrafen. Andere Mädchen haben, vielleicht. Am Ende wäre sie doch wieder alleine. Die Erkenntnis, dass sie Hannes nie genügen könnte, jagte ihr einen Stich ins Herz.
»Nein, das ist falsch«, sagte sie. »Das alles hier ist falsch.«
»Wie meinst du das?«, fragte er, sein Gesicht so nah, dass sie die Poren erkennen konnte.
Und plötzlich war da Wut. Sie musste raus, weg von diesem Menschen, der sie verletzen würde. Der sie bereits verletzt hatte. Der ihr viel zu nahe war. Seine Hand war wie ein Fremdkörper, eine eiskalte Schlange und Kira spürte Ekel in sich aufsteigen. Sie versteifte sich, ihr Blick war eisig und sie stieß Hannes grob weg.
»Nimm deine dreckigen Finger von mir!«, schrie sie.
»He, was soll das denn?«, fragte er. »Hab ich was falsch gemacht?«
»Alles, du Arschloch!«, sagte sie und öffnete die Tür.
»Jetzt warte doch mal!«, rief er. »Was ist denn los mit dir?«
Kira klemmte sich die Tasche unter den Arm und stieg aus. Bis Hannes ebenfalls auf der Straße war, war Kira verschwunden.
»Ach verdammt«, sagte er. »Komm zurück! Erklär mir doch bitte, warum du das getan hast! Warum bin ich ein Arschloch? Ich bin kein Arschloch!«
Als keine Antwort kam, schüttelte er den Kopf, stieg wieder ein, parkte aus und fuhr davon.
Kira wartete verborgen in einem Hauseingang, drückte die Büchertasche an sich und sah durch den silbrigen Regen, wie sich das Auto entfernte.
»Und jetzt haust du ab, und ich hab Recht gehabt«, murmelte sie leise, dann biss sie sich auf die Unterlippe. Sie schmeckte salzig und ein wenig nach Erdnüssen.