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Was einem bleibt
Die Särge wurden zweimal im Monat angeliefert. Keine Ahnung, wie viele das waren, meist war es ein ordentlicher Schwung. Gestorben wird immer, sagte der Chef. Das sagte er bei jeder Gelegenheit. In dem Sommer waren es besonders viele. Die Tage waren unerträglich heiß, selbst nachts gab es kaum Abkühlung. Das schafften manche der alten Herrschaften nicht, irgendwann machte die Pumpe schlapp. Meine Frau starb an einem Freitag im August, das lag nicht an der Hitze, es hatte sich schon lange angekündigt. Nicht, dass es mir egal gewesen wäre. Wir waren fast fünfzig Jahre verheiratet. Die eine Herzklappe fiel aus, so fing es an.
Den Job hatte ich Anfang des Jahres angenommen, von der Rente ließ es sich schwer leben. Meine Frau schrieb die Preise aller Lebensmittel aus den Anzeigen auf, die ich besorgen sollte, aber die Mietsteigerungen und die Stromkosten machten uns zu schaffen. Die 450 Euro zusätzlich konnten wir gut gebrauchen. Und ich kam mal raus und musste das ständige Gemecker nicht hören.
Den schwarzen Anzug stellte mein Chef, zog ihn mir aber anteilig vom Gehalt ab. Genauso wie den Hut und die weißen Handschuhe.
"Sie gehen gemessenen Schrittes!", hatte er gesagt. "Gelacht wird nicht, Sie sehen betroffen aus! Verstehen Sie?"
Ich verstand. Und kein Problem damit. Ich sehe immer betroffen aus. Sagen zumindest meine Kollegen.
Ein Sarg kann ziemlich schwer sein, auch wenn er zu sechst getragen wird. Die Schulterschmerzen hatte ich verschwiegen, die Hüftprobleme waren nicht zu übersehen. Ich humpelte leicht, wegen der Operation letztes Jahr. Meinem Chef gefiel das.
"Das verleiht dem Ganzen Würde", sagte er. "Aber tragen müssen Sie können! Sie haben sechs Monate Probezeit."
Ich konnte tragen. Meist durfte ich an das Fußende. Dort war der Sarg leichter als am Kopfende.
Meine Frau verstand nicht, dass ich den Job mochte.
"Wie kannst du das nur machen mit all den Toten?"
Mir waren die egal. Die waren tot. Bis auf einen. Glaube ich wenigstens.
Die Firma war nicht nur Bestattungsinstitut, sondern gleichzeitig Zulieferbetrieb für die Branche. Wir lieferten Särge und Urnen, holten Verstorbene aus ihren Häusern und brachten sie zum Friedhof. Einmal kam die Gerichtsmedizin, als der Thanatopraktiker, der die Toten herrichtete, etwas feststellte, was nicht zur angegebenen Todesursache passen wollte. Wir verwalteten alles, was mit Tod zu tun hatte. Sterbe-Management nannte es mein Chef. In der sogenannten Feierhalle bahrten wir die Verstorbenen auf, die keine Kirchenzugehörigkeit hatten, damit Angehörige Abschied nehmen konnten. Die Heiden, wie mein Kollege Bernd sie nannte.
Im August hatten wir so etwas auf dem Zettel.
"Der Sarg soll verschlossen bleiben", sagte mein Chef. "Sie stehen in angemessener Entfernung und sehen betroffen aus! Die Arme gekreuzt, den Kopf gesenkt."
Ich nickte schweigend.
Wir hatten alles vorbereitet und warteten. Der Sarg war nicht billig. Mahagoniholz, Samtausschlag, nicht die günstigere Fichte.
"Muss ein hohes Tier gewesen sein", bemerkte Bernd und erntete einen missbilligenden Blick vom Chef.
"Im Tod sind alle Menschen gleich", fügte er schnell hinzu. Bernd war der einzige Ur-Berliner in unserer Truppe. Alle anderen waren Zugezogene, ich ja auch. Netter Typ, meines Alters, Frau gestorben, zwei Kinder, zu denen er keinen Kontakt hatte. Berliner Schnauze, aber sympathisch. Seine Ehe muss schwierig gewesen sein. Trotzdem hatte er immer ein verschmitztes Grinsen drauf, den konnte nichts umhauen. Am liebsten zitierte er Gedichte und behauptete von sich, er sei Dichter und Senker. Lieber Dichter, aber aus finanziellen Gründen und nur übergangsmäßig in der Bestattungsbranche tätig. "Als geringfügig Beschäftigter, damit der Betrieb floriert", fügte er gern hinzu, wenn der Chef nicht in der Nähe war. Ich mochte den Kerl.
Wir warteten. Wir gingen alle von einer größeren Gesellschaft aus. Und dann kam nur dieses Männchen. Höchstens einssechzig groß, alt und verlottert. Die Schuhe abgetreten, das Hemd verknittert, die Jacke ausgeblichen. Es passte nicht zum teuren Sarg.
"Wenn Sie wissen wollen, wie es um einen steht, schauen Sie auf die Schuhe", sagte der Chef immer.
Um das Männchen stand es nicht gut. Es schlurfte in den Saal, zog ein Bein hinterher, vermutlich eine Hüftoperation, ich kenne mich da aus. Die Haare zerzaust, der letzte Frisörbesuch war schon länger her. Er trat einen Schritt näher an den Sarg und sagte:
"Sie müssen ihn verbrennen!"
Wir guckten alle betroffen. Noch betroffener als sonst.
"Sofort!"
Mein Chef versuchte es mit einer Beschwichtigungsgeste.
"Wir verstehen Ihren Schmerz", begann er, aber der kleine Mann unterbrach ihn.
"Nein, Sie verstehen nicht! Sie müssen ihn verbrennen! Jetzt!"
Mein Chef hob seine Arme, als wollte er ein Friedensangebot machen.
"Abschied nehmen ist schwer, aber sehen Sie, wir kümmern uns um alles, glauben Sie mir."
Wir sahen uns verunsichert an.
"Es ist kein Abschied, wenn Sie ihn nicht verbrennen", sagte der kleine alte Mann, der nicht gut roch. Sein strenger Schweißgeruch überlagerte den Duft der Kränze. Aber er blieb unbeirrt.
"Ich übernehme etwaige Mehrkosten, wir müssen es nur sofort tun."
Mein Chef hatte leicht cholerische Züge. Wenn es nicht in seinem Sinn verlief, konnte er ungemütlich werden. Es fing mit Augenzucken an, dann fuchtelte er mit der Hand herum, das Gesicht wurde puterrot und er brüllte los. Hatte ich mal erlebt, als ich ihn nach einer Gehaltserhöhung gefragt hatte. Das Augenzucken war da, die Hand hielt er noch ruhig.
"Wir sind kein Krematorium", presste er hervor, "und es gibt Vorschriften. Wir wollen das jetzt mit Würde ..."
Der kleine Mann sah verzweifelt aus, der ganze Körper zitterte.Und dann fing er an zu weinen. Seine Hände krampften, er versuchte, die eine mit der anderen ruhig zu halten. Tränen rannen ihm über die Wangen. Ich habe schon viele weinen sehen auf Trauerfeiern. Die meisten hielten es für angemessen, andere wurden von der Situation überwältigt und Angehörige brachen einfach zusammen. All das traf auf den kleinen Mann nicht zu, die Dinge passten nicht. Er schien kein Verwandter zu sein. Trotzdem schlackerten seine dünnen Arme unkontrolliert und sein Schluchzen erschütterte den ganzen Körper. Mein Chef fing sich schnell.
"Die Herren", dabei schaute er Bernd und mich an, "werden Sie jetzt hinausbegleiten."
Bernd packte das Männchen und zog es mit sich. Ich humpelte hinterher.
Meine Frau starb eine Woche später. Ich wusste, dass es passieren würde. Aber wenn es dann geschieht, ist es anders. Die Endgültigkeit hat etwas Schockierendes. Sie ging und ließ mich allein. Ich habe nicht geweint. Ich denke, es war besser so. Für sie war das Dasein nur noch ein Ertragen von Schmerz oder ein Dahindämmern unter Medikamenten. Bernd starb in derselben Woche, völlig überraschend. Schlaganfall hieß es. Der Dichter und Senker, der letzte verbliebene Freund, oder zumindest einer, der es hätte werden können. Ich dachte über eine Kündigung nach, aber ich habe weitergearbeitet. Was blieb mir sonst.
Wir trugen den Sarg, an dem der alte Mann so geweint hatte, an einem Sonntag auf den Friedhof. Es nieselte leicht und die Luft roch nach frisch ausgehobener Erde. Ich schritt am Fußende. Er war nicht schwer. Wir ließen ihn hinunter in die Grube. Sonst war da keiner. Außer dem kleinen Männchen, das neben mir stand und meinen Arm ergriff.
"Er war nicht drin, oder?"
Ich antwortete nicht, ich weiß nicht alles.
Der Nieselregen wurde stärker. Der alte Mann spannte seinen Regenschirm auf und hielt ihn schützend über uns beide.
"Sie wissen es, oder?"
"Ja", sagte ich.