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Was ist eine Geschichte?
Darüber, was eine Kurzgeschichte ist, wurde schon oft diskutiert. Mir geht es in diesem Thread darum, was eine Geschichte ist, oder anders ausgedrückt: warum etwas eine Geschichte ist und nicht z.B. ein Bericht. Einige Thesen hierzu:
Bei Kurzgeschichten mit einer Pointe, einer überraschenden Wendung ist recht gut zu sehen, welches Merkmal für das Geschichtesein wesentlich ist - die Erzählperspektive ändert sich, eine neue Ebene der Information wird erschlossen. Auf diese Weise werden oft Ereignisse beschrieben. Wie sieht es nun aber mit Texten aus, die vorwiegend Gefühle, Stimmungen vermitteln? Auch hier braucht das Geschriebene eine ihm eigene Historie des Wechsels, der Text strebt z.B. von einer euphorischen Anfangssituation zu einer Desillusionierung. Dies kann in kontinuierlicher Erzählweise geschehen oder diskontinuierlich - bei einem Werk mit Epiphaniefokus steht die plötzliche, tief greifende (u. U. erschütternde) Erkenntnis des Individuums im Vordergrund.
Das Festlegen des Fokus eines Werkes ist eine wichtige Maßnahme, um aus einem Text eine Geschichte zu machen. Natürlich kann man nur eine typische Situation, eine Gruppe von Menschen beschreiben wollen, ähnlich einem Genrebild. Doch so entsteht ein Bericht. Prüfstein für die Unterscheidung ‚Bericht’ versus ‚Geschichte’ ist meines Erachtens nach (abgesehen vom erwähnten Wechsel der Erzählebene und der Fokussierung), ob man den Eindruck hat, der Text könnte auf die vorliegende Art letztlich beliebig lange weiter geführt werden, gleichwertige Situation reiht sich an Situation, Kontinuität wahrende Information an Information. So kann kein Spannungsbogen entstehen, dieser benötigt gewissermaßen eine erzählerische Energiedifferenz, um einen unter Spannung stehenden Strom des Erzählflusses zu generieren. Ein noch so ergreifender Text über Leid oder Freude bleibt sonst ein Bericht oder eine Reportage.
Betrachtet man journalistische Schreibformen (Bericht, Reportage, Dokumentation …), so ist ein wesentlicher Unterschied zur Geschichte, dass diese Ausdrucksformen keinen konstruierten Spannungsbogen *) haben, und das Geschehen chronologisch beschrieben wird. Es werden Tatsachen beschrieben, es besteht also ein gewisser Wahrheitsanspruch.
Eine Geschichte hingegen beschreibt fiktive Realität, gestaltet nach den Erfordernissen einer vom Autor gewünschten Aussage, sie kann mit Zeitsprüngen und besonderen Stilmitteln (z.B. Chiffren) arbeiten. Eine Reportage beantwortet, wenn es irgendwie möglich ist, die W-Fragen (Wer? Wo? …). Eine Geschichte jedoch kann bewusst auf Informationen verzichten, der Leser erschließt Fakten oder wird sogar vom Autor im Dunkeln gelassen.
Solche Überlegungen sollen natürlich nicht der Einschränkung von Autoren dienen, sondern gewisse Aspekte des Schreibens deutlich machen, zeigen, wie Sprachkonstruktion funktionieren kann.
Eine gute Geschichte will nicht nur strukturiert sein, mit Einleitung, Hauptteil, Schluss (wobei die klassische Kurzgeschichte auf die Einleitung verzichtet), sondern auch konstruiert. Die Konstruktion des Inhalts (Fokussierung, Pointierung) gelingt nur bei entsprechender Stärke der Thematik, ‚schwache’ Inhalte eignen sich nicht für einen Text, der einen gewissen Anspruch erfüllen soll. D. h. natürlich nicht, dass sich automatisch durch die Beachtung des Formalen gute Geschichten ergeben, aber die Chancen hierfür steigen erheblich.
Über Ergänzungen und Meinungen zu diesen Thesen würde ich mich freuen,
l G,
Woltochinon
*) Zufällig mag es dieses Element des Spannungsbogens bei realem Geschehen geben (‚ Geschichten, die das Leben schrieb’), doch selbst dann liegt das Hauptaugenmerk auf der Vermittlung von Tatsachen, nicht auf kreativer künstlerischer Arbeit.