Woodwose schrieb:
Tja, ich mochte hier gar nicht bestreiten, dass Duchamps sich Weltbewegendes dazu gedacht hat, aber ich denke nicht daran, in ein Museum zu gehen, um mir dort ein Klo anzuschauen.
mAn ist es gar nicht notwendig, dass Duchamp sich dabei etwas "weltbewegendes" gedacht hat. Was hier zählt ist allein der vollzogene Akt der Übertragung eines Gegenstandes in den Bereich der Kunst.
Man muss das ja nicht gut finden, aber die Aussage
Es liegt einfach da, ohne irgendwelchen Kontext.
ist daher nicht korrekt: Der Kontext liegt im
Ausgestellt-Sein (in den Räumlichkeiten eines Museums).
Das ist etwas völlig anderes als ein
Gebraucht-Werden (in den Räumlichkeiten eines Bahnhof-Klos). In letzterem Fall wird dem Gegenstand eine eindeutige Funktion zugewiesen, die hier jeder kennt, und nichts anderes.
Im ersteren Falle hingegen kann von einer Funktion nicht mehr die Rede sein. Ganz im Gegenteil wird diesem Gegenstand durch sein Ausgestellt-Sein ein nicht mehr abzugrenzender Raum an Sinnzuschreibungen zugewiesen.
Das aber ist nur möglich, wenn man einen Gegenstand, den man bisher rein gewohnheitsgemäß nur im Grenzbereich einer einzigen, festen Funktion kennengelernt hat, radikal aus seinem bisherigen Kontext reisst. zB. als Ausstellungsobjekt in einem Museum.
Nehmen wir zur Veranschaulichung einmal den umgekehrten Fall an: Ich entwende die "Venus von Willendorf" aus ihrem Museum (oder auch ihre Kopie davon!), erleide kurz darauf einen Unfall infolgedessen ich eine Gehirnerschütterung erfahre und für die nächste Zeit von einer gewissen Amnesie heimgesucht werde. Anschließend weiß ich nicht mehr, dass die, von mir selbst entwendete "Venus von Willendorf" in einem Museum stand (und es sich daher wohl um ein - archäologisches - Kunstobjekt handelt) und verwende diese fortan als - Briefbeschwerer.
Da liegt sie also, die Venus, und fristet ihr weiteres Dasein als Briefbeschwerer. Damit hätte ich ihr eine eindeutige Funktion zugewiesen und käme wohl im Traum nicht mehr auf die Idee, in diesem jahrtausende alten Fundstück steinzeitlicher Kunst etwas anderes zu sehen als eben diese eine Funktion als Briefbeschwerer.
Eines Tages, nehmen wir mal an, käme nun ein Freund zu mir, der diese Venus auf meinem Schreibtisch auf einem Stoß bearbeiteter Briefe sähe. Vielleicht würde dieser nun zu mir in etwa sagen: "Dieser Briefbeschwerer erinnert mich an eine viel zu übergewichtige Frau!"
Und - siehe da - schon hätte sich der Funktionsumfang dieser Skulptur um eine Funktion erweitert: Sie erinnert meinen Freund an "eine viel zu übergewichtige Frau", eine zugegebenermaßen mehr geistige und weniger praktische Funktion, wie diejenige eines Briefbeschwerers, aber dennoch eine Art Funktion.
Nehmen wir weiterhin an, eine Bekannte aus Nigeria (oder irgendeinem anderen Land mit einem anderen kulturellen Umfeld als unseres) käme zu diesem Gespräch hinzu und würde spontan in diesem Briefbeschwerer die Personifikation eine verehrungswürdigen Gottheit ihrer Religion erblicken! Was würde sie wohl dazu sagen, diese Skulptur (ausschließlich) als Briefbeschwerer zu verwenden? (obwohl die Skulptur diese Funktion doch ganz hervorragend erfüllen mag...)
Es ist hoffentlich ein wenig klar geworden, worauf ich hinaus will: Es gibt ein Recht dafür, was ein Warhol, Duchamp oder Beuys machen oder gemacht haben. Der Sinn liegt darin, Gegenstände aus ihrem gewohnten Umfeld zu reissen und in einen neuen hineinzuversetzen. Dass Duchamp dafür nun ausgerechnet ein Pissoir nahm liegt vielleicht darin begründet, dass der Bereich, in dem ein Pissoir gewöhnlich vorzufinden ist, mit gewissen Tabus und Schamhaftigkeiten belegt ist. Dort ist unsere Engstirnigkeit daher wohl mithin am ausgeprägtesten vorzufinden. Niemand würde zB. wohl auf den Gedanken kommen, sich ein Klo als Hocker in sein Wohnzimmer zu stellen - selbst dann, wenn es diesen Sinngehalt ganz hervorragend erfüllen würde (es ist stabil, hat die für eine Sitzgelegenheit passende Höhe, kann bei Bedarf unter den Tisch gestellt werden, damit mehr Platz ist usf.)
Aufgabe moderner Künstler ist es daher, uns als Rezipienten die Möglichkeit (das Ausgestellt-Sein) und den (u.U. durchaus zunächst provozierenden) Anlass zu liefern, um über mitunter ganz alltägliche Gegenstände neu nachzudenken und diese zB. in einen neuen Kontext zu stellen um ihnen damit einen neuartigen Sinngehalt zuzuweisen.
Im philosophischen Umfeld sind dazu übrigens die Arbeiten Heideggers richtungsweisend. Wir nehmen unsere Umwelt u.a. über Sinn- und Verweisungszusammenhänge wahr und konstituieren diese damit. Je nach Beschaffenheit dieser Einrichtung begründet sich auch je unterschiedlich unsere Existenz und ihre Sinnhaftigkeit darin (bis hin zu einer Welt, in der es keine eigentlichen Menschen mehr gibt wie bei Foucaults Strukturalismus).