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- 03.07.2004
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Was ist nur mit der Burg geschehen?
Jeden Morgen stand Herr Keller auf. Er öffnete ein Fenster und absolvierte seine Morgengymnastik. Dann ging er ins Badezimmer, zog sich an, fütterte seine Tiere und sprach einige Minuten mit ihnen. Wemnn diese Vorbereitungen abgeschlossen waren, bereitete er sich sein Frühstück, setzte sich an das große Wohnzimmerfenster und genoß beim Essen die Landschaft. Der Wald zeigte jeden Morgen eine andere Schattierung und die Burgruine auf dem Hügel änderte ihre Farben nach dem Wetter. Aber sonst blieb alles unverändert.
Die jungen Menschen waren schon seit langem fortgezogen, um Arbeit zu finden. Im Dorf wohnten jetzt noch sechs alte Menschen, die meist in ihren Häusern blieben und wenig Kontakt miteinander hatten. Jeden Dienstag kam ein LKW mit Waren aus dem Supermarkt, in dringenden Fällen konnte man auch telefonisch den Lieferservice in Anspruch nehmen. Arzt, Apotheke und was man noch zum Leben brauchte, war in der sechzig Kilometer entfernten Kreisstadt. Aber alle machten gerne Hausbesuche, wenn es nötig war.
Herr Keller genoß seinen Lebensabend. Er brauchte nicht mehr als seine Bücher, seine Tiere in ihren Terrarien und seine Spaziergänge. Immer in Richtung Wald über die Felder, die seit Jahren nicht mehr bestellt und langsam vom Wald zurückerobert wurden. Es faszinierte ihn, wie der Wald sich langsam aber scheinbar unaufhaltsam ausbreitete. Erst kamen die Gräser, Bäume säten sich aus und wuchsen Jahr für Jahr einige Zentimeter, die Tiere aus dem Wald eroberten sich den neuen Lebensraum und niemand störte diesen Prozeß. Im Wald ging Herr Keller bis zu einem großen Ameisenhügel. Hier setzte er sich auf einen umgestürzten Baum und sah den roten Waldameisen bei der Arbeit zu, träumte ein wenig vor sich hin und ging dann ausgeruht zurück nach Hause.
Wenn Herr Keller abends die Nachrichten im Fernsehen anschaute - viel mehr schaute er sich kaum an - und ökologische Themen auf der Tagesordnung standen, dachte er immer: 'Die sollten mal hierher kommen - hier hat die Natur das Sagen und wir dürfen zusehen.'
Eines Morgens saß Herr Keller am Frühstückstisch, biß genüßlich in den Toast, hielt die Kaffeetasse in der Hand und ließ seinen Blick über den Wald zur Burgruine schweifen. Beinahe wäre ihm die Tasse aus der Hand gefallen. 'Was ist denn mit der Burg passiert?' dachte er.
Dort, wo all die Jahre die Ruinen eines Bergfried zu sehen waren, stand jetzt eine vollständige Burg. Neben dem hohen Bergfried waren drei kleinere Türme zu erkennen und zwischen ihnen spitze hohe Dächer. Der Stein schimmerte gelblich in der Morgensonne. Auch die Dächer waren mit gelben Pfannen gedeckt. Herr Keller rieb sich mehrmals die Augen, aber die Burg blieb vollständig und verwandelte sich nicht wieder in eine Ruine.
Hastig trank er seinen Kaffee aus, zog sich Stiefel und Mantel an, setzte seinen Hut auf und machte sich auf den Weg Richtung Burg. Er ging zwei Stunden früher aus dem Haus als gewohnt und so traf er auf der Dorfstraße Frau Gellert, die ihren Dackel ausführte.
"Guten Morgen, was ist denn mit der Burg passiert?" rief er ihr zu.
Frau Gellert schaute hoch und versuchte ihn mit ihren kurzsichtigen Augen zu erkennen.
"Guten Morgen, junger Mann, die Burgruine ist da hinten auf dem Hügel, wo soll sie denn sonst sein? Kann doch jedes Kind sehen. Aber meine Augen sind nicht mehr so gut." Und damit schlurfte sie davon.
Herr Keller hielt sich gar nicht weiter auf, sondern ging so schnell er konnte Richtung Burg. 'Woher kenne ich das Bild nur?', murmelte er vor sich hin. Die Burg kam ihm sehr vertraut vor und doch anders. In der Universität, wo er geforscht hatte, gab es ein Bild, das viele sehr eintönig fanden, weil die Burg auf jenem Bild in einer Wüste stand - gelb in gelb.
'Das ist es,' schoß es Herrn Keller durch den Kopf. Diese Burg stand im Wald, sah aber der Burg auf dem Bild verblüffend ähnlich.
'Aber dann ...' Herr Keller traute sich gar nicht, seine Gedanken weiterzuverfolgen.
Er kam dem Wald näher, die Burg verschwand hinter den Wipfeln der Bäume und dann sah er jemanden aus dem Wald heraustreten. Ein junger Mann kam auf ihn zu, vielleicht vierzig Jahre alt, gepflegt gekleidet, schlank, beinahe drahtig, hochgewachsen und mit kurzen blonden Stoppelhaaren auf seinem unbedeckten Kopf.
Als sie voreinander standen, verneigte sich der junge Mann: "Ich wünsche Ihnen einen angenehmen Morgen."
"Ich wünsche ihnen auch einen guten Tag. Kommen sie von der Burg? Ist das vielleicht eine Filmkulisse?"
Der junge Mann lächelte Herrn Keller freundlich an. "Ja, ich komme von der Burg. Aber ob es eine Filmkulisse ist, weiß ich nicht. Ich kenne das Wort nicht."
Herr Keller war nicht umsonst Wissenschaftler und so begann er, das Gehörte zu analysieren, um seine nächsten Fragen stellen zu können. Und er begann bei seinen Überlegungen mit den unwahrscheinlichsten Möglichkeiten. Kam der Fremde aus einer anderen Zeit? Nein, seine Kleidung war modisch aktuell. War er ein Außerirdischer? Er sah sehr menschlich aus und seine Sprache war dialektfrei. Aber woher kam er dann? Herrn Kellers Gehirn fiel keine Lösung ein und so fragte er direkt: "Woher kommen sie und sind sie alleine?"
"Wir stammen aus Südamerika und unser ganzes Volk ist mit unserer Königin hierher gekommen."
Auch wenn Herr Keller Naturwissenschaftler war, hatt er sich nicht in sein Forschungsgebiet versponnen, sondern sich immer sehr für das Zeitgeschehen interessiert und so wußte er auch, dass es in Südamerika keine Königinnen gab. Und ein ganzes Volk? Wie ein Eingeborener eines Indianerstammes aus dem Amazonasbecken sah der Mann nicht aus, sondern wie ein Nordeuropäer. Das passte alles nicht zusammen und Herrn Keller kam ein Verdacht:
"Sprechen wir wirklich die gleiche Sprache oder haben sie ein Übersetzungsgerät?"
Die Frage schien den jungen Mann zu freuen. "Wir sprechen eigentlich gar nicht die gleiche Sprache, aber wir haben eine Möglichkeit gefunden, uns Ihnen verständlich zu machen."
Herrn Kellers Gehirn lief jetzt auf Hochtouren, verwarf Ideen, prüfte Fragen und mögliche Antworten und schließlich entschloß sich Herr Keller, nicht um den heißen Brei herum zu reden, sondern mitten hinein zu springen. "Sind sie ein Mensch oder sehen sie in Wirklichkeit ganz anders aus?"
"Wir haben eine menschliche Gestalt gewählt, denn sonst könnten wir kaum miteinander reden," lächelte der junge Mann.
"Sie sind also mit ihrer Burg und ihrem Volk hierher gekommen. Wollen sie denn hier bleiben? Wahrscheinlich ist es doch viel zu kalt für sie, vor allem im Winter. Wie wollen sie hier leben? Warum gerade hier?"
"Weil Sie hier sind, sind wir an diesen Ort gekommen. Wir haben unsere Technik weit genug entwickelt, um auch im Winter die Burg warm zu halten. Und zu essen gibt es für uns hier inzwischen mehr als in Südamerika." wies der junge Mann mit seinem Arm über die weiten Wälder.
Herrn Keller war jetzt alles klar. "Offensichtlich haben sie auch magische Fähigkeiten entwickelt, dass sie ihre ganze Burg hierher versetzen können. Und sie erscheinen mir als Mensch. Geht dieser Prozeß eigentlich auch andersherum?"
"Ja, und ich möchte sie einladen, uns bei Gelegenheit zu besuchen."
"Ich komme sofort mit," entschied Herr Keller. Vierzig Jahre lang hatte er an der Universität über Isoptera geforscht und immer hatte er sich gewünscht, klein genug zu sein, um in einer Termitenburg zu leben. Und jetzt ging sein Traum in Erfüllung.