Hallo Leute,
zunächst einmal vielen Dank für eure ausführlichen und anregenden Beiträge.
Katla:
Das mit der Leidenschaft ist tatsächlich auch ein wichtiger Punkt, allerdings bringt sie nur ein gutes Ergebnis, sprich gute Literatur hervor, ist also nur Mittel zum Zweck und ist nicht selbst das Ergebnis. Das heißt, "Leidenschaft" sehe ich eher als Motor oder als Treibstoff, den der kreative Prozess braucht, damit das Werkel ordentlich arbeitet.
Zur Überraschung - ich denke, das ist mit dem Punkt 5 abgedeckt: Wenn ich eine neue Welt erfinde, dann ergeben sich die Überraschungen für den Leser da von ganz allein.
Yours:
Interessantes Thema, und ich weiß nicht, ob man wirklich eine allgemeine Antwort auf deine Frage geben kann. Wenn man sagt, Litaratur ist Kunst, könnte man auch fragen: Was will Kunst? Und dann hat man einen riesigen Haufen an Leuten, die wild herumfuchteln mit ihren Pinseln, ihren Schreibmaschinen, ihren Meißeln, ihren Gedanken ... und jeder würde andere fünf Punkte haben.
Ehrlich gesagt der Kunstgedanke interessiert mich kein bisschen, ich hab nicht gefragt, was will Kunst. Genauso hab ich keine Unterscheidung zwischen "hoher" und Trivialliteratur getroffen. Ich will da keine Unterscheidung treffen. Für mich ist "Kunst" ähnlich wie "Liebe" eine reaktionär-bürgerliche Worthülse, ein gesellschaftliches Distinktionsmittel, kurz gesagt: Wenn man an Liebe und Kunst glaubt, dann ist man schon was Besseres. *provozier*
Aber du schränkst das dann ja ein, dir geht es darum, was FÜR UNS die wichtigsten Dinge in einer Geschichte sind. Was ja nicht unbeding dem entspricht, was Literatur will.
Ja, das ist gut beobachtet, einerseits wollte ich einen plakativeren Titel und andererseits denke ich, dass diese fünf Punkte sich aus all den literarischen Texten ergeben, die, sagen wir mal, seit dem Entstehen des Buchmarktes im 18.Jh. produziert wurden. Mit "uns" müsste man also alle Autoren und Leser seitdem zusammenfassen.
Tja ... was ist MIR wichtig?
Es ist zwar interessant, was dir wichtig ist, aber eben deswegen hab ich nach dem gefragt, was Literatur will, weil es mir eher um die kleinsten gemeinsamen Nenner geht als um persönliche Vorlieben, also um das, was für alle gemeinsam unabdingbar ist an einem literarischen Text.
Deine Punkte finde ich alle richtig. Allerdings sehe ich Punkt 1 bei dir eher als die Folge aus den anderen Punkten ... so quasi: Wenn alles zutrifft, dann unterhält eine Geschichte. Ich finde aber, eine Geschichte muss mehr können, also für mich, damit sie mir gefällt.
Das hab ich ja auch gesagt im Grunde: Wenn alle anderen Punkte zu einem gelungenen Ganzen verschmelzen, dann ist ein Text unterhaltsam. Trotzdem ist das der wichtigste Punkt, weil ohne das wird niemand weiterlesen, außer Selbstquäler.
Mir geht es also in den Geschichten, die ich erzähle, darum, Kontakt herzustellen zwischen meinen Gedanken und den Gedanken der Leute, denen ich etwas erzähle. Ich will sie erreichen. Vielleicht ist das total eitel aber: Ich will etwas von mir weitergeben.
Sprache ist ein Zeichensystem, das dem sozialen Austausch dient, klar, aber Kontakt herzustellen zwischen Gedanken verschiedener Leute und etwas von einem selbst weitergeben wollen, ist noch keine Literatur.
Und andersrum: Ich finde Geschichten gut, die MICH erreichen. Geschichten, bei denen ich den Eindruck habe, sie rühren mich, sie bringen etwas in mir zum Klingen. Ich bin beeindruckt, wenn ich das Gefühl habe, etwas Authentisches zu lesen.
Hm, aber das ist doch ganz klar in Punkt 3 und 5 enthalten, oder? Das emotionale Erreichen und die subjektive Wahrhaftigkeit eines Autors.
Ganz egal, ob das Fantasy ist oder Erotik oder ein Krimi. Mir geht es beim Lesen um den Menschen dahinter. Um die Person, die den Text verfasst hat. Um das Persönliche. Wenn das durchscheint, wenn ich die Person sehen kann, wenn ich den Gedanken erfassen kann, den der Autor beim Schreiben hatte, dann mag ich den Text.
Nein, das glaub ich nicht. Ein Text verabschiedet sich von seinem Autor, wenn er niedergeschrieben und dann gelesen wird, er bekommt ein Eigenleben, entsteht bei jedem Leser neu. Das Subjektive ist nur bedingt mit dem Persönlichen gleichzusetzen - das Persönliche ist auch, auf welche Art jemand sein Klopapier faltet. Das Subjektive ist etwas, das sich selbst völlig neu setzt, sich über die eigene reale Person erhebt und etwas Neues schafft, indem er sich selbst als Ursprung setzt. Gerade die Schriftsprache ermöglicht durch ihre Verzögerung in der Vermittlung - Schreiben und Lesen passiert ja niemals gleichzeitig - sich als Autor über das eigene beschissene (persönliche) Leben zu erheben und zu einem "göttlichen" Erzähler zu werden - oja, klar hat das was mit dem "Originalgenie" zu tun, aber wir sind ja noch alle Kinder der Aufklärung, dessen rebellisches Kind der Sturm und Drang nur war.
Die Gedanken, die ein Autor beim Schreiben hatte, kann ich als Leser nie erreichen, und zwar aus dem einfachen Grund, weil Buchstaben nur für etwas anderes stehen, aber nicht selbst die Bedeutung sind. Ich muss den Buchstaben als Leser deuten - und hier kommt dann natürlich die Subjektivität des Lesers hinzu, ich kann nur nach meinen eigenen Erfahrungen deuten.
Ich glaube, Literatur will Austausch. Will Kontakte knüpfen. Will dafür sorgen, dass unsere Gedanken weitergegeben werden. Will verstanden werden.
Nein, das will vieles andere auch, das ist nichts der Literatur Wesentliches.
Kubus:
Schönheit klingt gefährlich nach Kitsch. Deine Definition umschifft die Klippe, aber ich finde das Wort als Maßstab für Literatizität unpassend. Zur Schönheit hatte mein gestriges Kalenderblatt den Spruch eines südamerikanischen Autors zu bieten: "Literatur heißt, die Wahrheit schönzulügen."
Das finde ich zu kurz gegriffen. Dabei denke ich an Baudelaire oder den Marquis de Sade, der eine bedichtete wie ein Leichnam von Würmern zerfressen wird, der andere schilderte die sexuellen und sadistischen Ausschweifungen von Sodom.
Da wird viel durcheinander geworfen. Zunächst einmal ist der Vorwurf, dass Literatur lügt, ein sehr alter Vorwurf. Aber warum sollte der Willen, einen Text so zu gestalten, dass ich ihn als schön empfinden kann, kitschig sein? Das verstehe ich nicht. Auch kann man Baudelaire und de Sade überhaupt nicht vergleichen: Der eine wollte tatsächlich die Poesie und Schönheit eines an sich sehr ekligen Vorganges des realen Lebens zeigen, der andere ist ein Vertreter der dunklen Seite der Aufklärung, die zeigen wollte, dass der Mensch nicht an sich gut und tugendhaft und vernünftig ist. Aber de Sade bildet keine Wirklichkeit ab, die er schön machen will.
Der Wunsch nach Schönheit ist für mich mit dem Wunsch nach Gestaltung gleichzusetzen.
Beim Thema Unterhaltung denke ich an was seichtes zum Nebenbeilesen. Da fällt mir der Mann ohne Eigenschaften ein. Ein Arbeitsbuch, das unglaublich gedankenreich und anregend ist, aber unterhaltsam höchst selten. Ist es deswegen keine Literatur?
Ich finde den „Mann ohne Eigenschaften“ sehr wohl unterhaltsam, „Unterhaltung“ ist nicht an sich schon seicht, aber das ist wohl Definitionssache.
Lev:
Natürlich richtet sich das, was als Literatur ensteht, sehr nach dem, was auf dem Markt gefordert wird, aber das ist nicht nur heute so, sondern schon, seit der Buchmarkt ein wichtiger Markt geworden ist, auf dem man viel Geld verdienen kann, also so ungefähr seit der 2. Hälfte des 18. Jh.s
Bitte mich nicht falsch zu verstehen. Ich meine nicht, dass jeder nur mehr nach momentanen Geschmack schreibt und nichts einbringen will und das alle schlecht und böse sind. Nein, weit gefehlt. Ich will damit nur behaupten, dass der Begriff Literatur und seine Begrifflichkeit mittlerweile ein nichtssagender, schwammiger Begriff ist, der alles oder eben auch gar nichts mehr umfasst.
Es ging mir auch gar nicht um eine Definition von „Literatur“, sondern um die Grundpfeiler dessen, was einen guten fiktiven Text ausmacht. Und ich wollte das so einfach wie möglich machen, eventuell um anderen eine Handhabe oder Richtlinie zu bieten, nach der sie ihre eigenen Kriterien, wie sie einen Text beurteilen, überprüfen können.
Stil ist da für mich schon umstrittener und auch das spielt durchaus in die Grammatik rein - denn hier darf und sollte man offen sein für das, was da kommen möge - denn die Beurteilung nach universitären oder journalistischen Massstäben verstellt da sicher manches Mal den Blick.
ja, idealerweise sollte man sich bei seinem Stil völlig frei fühlen.
Dion:
Wenn ich das richtig sehe, kann daraus nichts anderes werden als eine vielfache Definition von „Was ist Literatur?“, ähnlich der, die Robin Williams alias Lehrer John Keating in dem Film „Club der toten Dichter“ in seiner ersten Unterrichtsstunde seitenweise aus einem Lehrbuch herausreißen lässt.
Nein, eben nicht, siehe oben bei der Antwort zu Lev. Literatur definieren zu wollen, find ich eigentlich unnötig.
Auch will ich hier keine Diskussion, ob „Literatur“ ein elitäter Begriff ist oder nicht, es ging mir einfach um Beurteilungskriterien für fiktive Texte.
Auch den Begriff Schönheit sehe ich ähnlich wie Kubus kritisch und als kontaminiert an, nicht zuletzt wegen dessen Dehnbarkeit: Er steht für alles und nichts – nicht umsonst heißt ein berühmter Spruch: Schönheit liegt im Auge des Betrachters. Was ein Leser als schön empfindet, wirkt auf andere als hässlich. Der Begriff ist außerdem Moden unterworfen, mal gilt das als schön, mal was anderes, im Extremfall wird das, was gestern noch schön war, heute als gewöhnlich und morgen vielleicht sogar als bedauerlicher Irrweg in der Kunst/Literatur bezeichnet.
Der Wunsch nach Schönheit ist für mich mit dem Willen nach Gestaltung gleichzusetzen – und der ist sicher nicht Moden unterworfen. Nur das „Wie“ der Gestaltung ist Moden unterworfen, welche Stile entwickelt werden, ist eine Frage der historischen Veränderung, aber dass grundsätzlich ein unbedingter Gestaltungswille da ist oder sein soll, wirst du doch auch kaum bestreiten.
Für mich hat die Literatur nichts zu wollen, sondern nur zu sein.
Das ist halt so eine hohle Phrase, was soll das schon aussagen? Die Frage „Was will Literatur“ ist natürlich im Grunde Unsinn, aber ich denke, ich hab deutlich gemacht, dass es einfach um unhintergehbare Kriterien geht, die ein fiktiver Text unbedingt erfüllen muss.
Es gibt kein Ziel und daher auch keinen Weg. Falls es die beiden gäbe, wäre die Literatur prädeterminiert und damit voraussagbar und in gewisser Weise langweilig. Womit ich nicht sagen will, dass sich die Literatur nicht mit Zukunft beschäftigen soll. Ganz im Gegenteil: Literatur, wie auch die gesamte Kunst, beschäftigt sich schon immer mit dem Kommenden, jedoch noch nicht fassbaren. Mit Dingen, die in der Luft liegen, aber noch nicht sichtbar sind. Es ist das Aufspüren des Zeitgeists, bevor dieser für jedermann sichtbar und zum Mainstream wird.
Ja, das wäre vielleicht tatsächlich noch ein 6. Punkt: Literatur als Seismograph feiner, aber wesentlicher Strömungen und die Deutung dessen, wo diese Strömungen hingehen. Trotzdem werden aber auch alte literarische Texte noch gerne und mit Gewinn gelesen, sie "verändern" sich mit der Zeit und haben uns auch noch heute was zu sagen.
Jynx:
Was Literatur will? Dasein. Literatur existiert nur um ihrer Selbst willen.
Nichts existiert um seiner selbst willen – Literatur ist genauso wenig frei wie alles andere, trotzdem ist es natürlich ein schöner, aber ebenso hohler Anspruch. Das gibt als Beurteilungskriterium nix her.
Setnemides:
Die absichtslose Handlung hat die große Wirkung. Wenn man Absicht spürt, ist man verstimmt. Kein Widerspruch zu den Aussagen oben, kein Widerspruch zu Authentizität, Intensität und Entwicklung.
Eher so: Natürlich stecken in jedem literarischen Text jede Menge Absichten – manche bewusst, manche unbewusst, absichtslose Handlung ist für mich ein Widerspruch in sich, schlicht weil Handlung immer in irgendeine Richtung geht, also sich zu einem Ziel hin entwickelt.
Berg:
Ja, das ist es , was ich unter dem Willen zur Gestaltung verstehe – der Wunsch nach hoher Qualität.
Asterix:
Du wirfst hier einiges durcheinander: Was du meinst, ist die Unterscheidung zwischen hoher Literatur und Trivialliteratur – „Prosa“ ist die Gattungsbezeichnung für erzählende Literatur und kein Werturteil.
Du stellst die Frage, was Literatur gegenüber anderen Medien an Mehr bieten kann: Es ist die Unsinnlichkeit des Mediums Sprache – gerade weil Sprache so unsinnlich ist, wird Fantasie gefördert, indem sie gefordert ist. Der nackte Buchstabe zeigt nichts, da muss der Leser im Grunde viel leisten, seine „inneren“ Sinnesorgane in Gang setzen.
Den „Autor“ durch „kompetenten Erzähler“ zu ersetzen find ich gut, es nimmt das Autobiographische weg.
Ich muss mich entschuldigen, weil ich so lange nicht geantwortet habe, schieb es aber auf die Hitze! 
Gruß
Andrea