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- 01.09.2005
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Was wirklich im Robosch lebt
Nils legte die Hand auf Mikes Schulter. „Beweisen wir der Welt, dass es das Monster im Robosch-Teich wirklich gibt.“
Mike nickte und lächelte, bereit, der Welt zu beweisen, dass man aus Mitleid mit einem Freund, dessen Verstand von allerlei bunten Pillen in die ewigen Jagdgründe geschickt worden war, wirklich alles tat. Stumm spießten sie in der unvollständigen Finsternis einer Sommernacht das frische Fleisch auf Haken. Die Haken befestigten sie an Seilen, die Seile verankerten sie mit Holzpflöcken in der Erde.
Sie warfen die Köder ins Wasser. Dann setzten sie sich hin, betrachteten abwechselnd die Oberfläche des Robosch und dann die Kronen der Bäume, die den Teich säumten. Sie tranken Dosenbier und warteten auf das Monster, dessen Existenz Mike für ähnlich wahrscheinlich hielt wie die des Weihnachtsmanns.
Sie witterte etwas, das nicht ins Wasser gehörte und dessen würziges Odeur sich angenehm absetzte gegen die Myriaden von nahrhaften, aber langweiligen Fischen. Sie machte in ihrer Bewegung kehrt und schwamm durch die Dunkelheit in Richtung des Neuankömmlings. Ein Hecht wechselte blitzartig die Richtung, als er das Pulsieren des gewaltigen Körpers wahrnahm. Er spürte auch, dass er sich zu spät zur Flucht entschlossen hatte, spürte den Sog des sich öffnenden Mauls. Sein Gehirn versuchte noch einen Moment lang, die Schwanzflosse zu steuern. Vor der völligen Dunkelheit begriff es nicht mehr, dass es Befehle in einem körperlosen Kopf gab und niemand zuhörte.
Nach einer mit Hilfe von Pillen, Pappen und Hasch autoinduzierten Selbstmordpsychose und dem mehrmonatigen Aufenthalt am regionalen „Ort, wo man Menschen wie Ihnen helfen kann“, war mit Nils zunächst soviel anzufangen gewesen wie mit einem benutzten Kondom. Wo früher filmreife Kommentare und debiles, aber lebensfrohes Gegacker geherrscht hatten, hatte sich ein Wesen in die Welt totgeboren, das mit offenem Mund vor sich hin starrte und selbst die Nachricht von der Entdeckung eines schwangeren Manns folgendermaßen kommentiert hätte: „Echt?“
Nils Hirn, das einst zu den wundervollsten Verrenkungen fähig gewesen war, zur Erfindung absurder Geschichten und rhetorischer Glanzleistungen wie „Skateboard fahren in eigens dafür errichteten Parks ist wie Piercen unter Narkose“, dieses Hirn war offenbar durch jahrelange Modifikationsversuche und anschließende Bemühungen zur Wiederherstellung des Werkszustands in einen Haufen fliegenumschwirrter Scheiße verwandelt worden.
Ein Hobby, hatte man ihm gesagt, etwas, das ihn beanspruchen würde, könnte in der Lage sein, die flackernde Birne in seinem Kopf wieder brennen zu lassen, gedämpft, aber immerhin. An Skateboardfahren und andere körperliche Betätigung war aufgrund des Wegfalls motorischer Fähigkeiten, die über das Halten einer Bierflasche hinausgingen, nicht mehr zu denken. Aber der Nils, der einst gewesen war und von dem Mike das Gefühl hatte, er sei hinter diesem immer glasigen Blick von den Drogen und der Therapie eingemauert worden wie Fortunato von Montresor, war nicht bereit, sich der Lethargie und dem Dahindämmern kampflos hinzugeben.
Um die Synapsen wieder anständig knacken zu lassen, musste das Hobby intellektueller Natur sein. Natürlich war der Zug für molekulare Biotechnologie und Altgriechisch vor anderthalb Kilo Homer Simpsons, Delphinen und Tornados (die so hießen, weil sie mit dem Kopf genau das machten, was Tornados mit Kleinstädten im mittleren Westen der USA machen) abgefahren.
Aber Kochen macht ja nicht nur Spaß, wenn man ein Fünfsternemenü zaubert. Auch die Feinheiten einer Pastasauce bewältigt zu haben kann einem das aufbauende Gefühl geben, etwas getan zu haben.
Und so fand Nils zum Glauben, zum Verschlingen von Büchern über alles, was vernunftbegabte Industriekaufleute und Kosmetikerinnen lächelnd als Blödsinn abtun. Vampire, Werwölfe, Außerirdische, Alligatoren in der New Yorker Kanalisation, die Insel, auf die sich Elvis, Jim Morrison und die anderen angeblich verstorbenen Rockstars zurückgezogen haben: Nils wurde zu einem, der glauben will, was ihm den nicht von jedem mit Achtung ausgesprochenen Spitznamen Fox Mulder einbrachte. Was wiederum Mike, als seinen besten Freund und einen der wenigen Bekannten aus der Zeit vor dem Absturz, die nicht verschämt wegsahen, wenn sie Nils begegneten, zu Scully machte. Und wie Scully war Mike dafür zuständig, darauf acht zu geben, dass Fox-Nils nicht vollends abhob.
„Die haben die Särge geöffnet und eindeutige Spuren entdeckt. Die Münder der Leichen standen offen. Manchmal konnte man sogar den Innenseiten der Särge ansehen, dass jemand versucht hatte, da rauszukommen. Vampire, Mann! Wie willst du das denn sonst erklären?“
„Eine Zeit lang ging man davon aus, dass es sich dabei um Leute gehandelt hat, die lebendig begraben wurden. Konnte ja durchaus mal vorkommen in der Zeit vor dem EKG. Heute weiß man, dass das ganz normale Indizien für einen Verwesungsprozess sind. Wenn du verfaulst, werden Gase freigesetzt. Dein Unterkiefer klappt nach unten, deine Augenlider öffnen sich, und auch deine Arme bleiben nicht friedlich auf der Brust liegen. Es stimmt schon, dass die Toten sich in ihren Gräbern bewegen. Sie sind aber trotzdem tot. Und sie kommen bestimmt nicht wieder aus dem Loch heraus.“
„Im sechzehnten Jahrhundert hat es sogar mal einen Typen gegeben, der hatte mehrere Leute quasi in Stücke gerissen und danach gestanden, ein Werwolf zu sein!“
„Klar, aber das war schließlich eine Zeit, in der die Leute so manches gestanden haben. Das Zauberwort heißt Daumenschrauben. Damals ging ja nichts ohne Besessenheit irgendeiner Art. Das war immerhin gut dreihundert Jahre vor Sigmund Freud. Seit es Menschen gibt, tun sie Unmenschliches. Vielleicht macht der Gedanke es erträglicher, dass ihnen nachts ein Fell wächst und sie den Mond anheulen. Aber die Wahrheit ist, dass es Menschen sind, die Köpfe in ihren Kühlschränken aufbewahren, elektrische Stühle erfinden und sich für das Töten von Unschuldigen Euphemismen wie „Kollateralschaden“ ausdenken. Hitler hatte Eltern und Jack the Ripper musste aufs Klo gehen wie jeder andere auch.“
„Expeditionen da runter haben von Anakondas berichtet, die vierzig Meter lang waren! Was gibt es denn für einen Grund, warum die Viecher nicht so lang werden sollten? Nur den, dass man noch keine gefangen hat! Vom Quastenflosser hat man auch gedacht, er sei ausgestorben, und zack, hängt so’n Teil im Netz!“
„Anakondas leben auch, aber nicht ausschließlich im Wasser. Ein so großes Tier könnte an Land gar nicht überleben. Gestrandete Wale werden von ihrem eigenen Gewicht erdrückt. Dieser Schlange würde dasselbe passieren. Ergo wäre sie nicht lebensfähig.“
Da das Gute oft nah liegt, ließ Nils die Anakondas irgendwann Anakondas sein und wendete sich stattdessen den regionalen X-Akten zu. Mike verbrachte mit ihm eine Nacht in einem leerstehenden Hotel, das abgelegen in einem Waldstück einige Kilometer vor dem Ortseingang lag und von dem Geschichten kursierten, die sich auf absurde Weise widersprachen, meist, weil der Erzähler etwas Gehörtem noch eine persönliche Note beifügte, um den Knalleffekt zu vergrößern. Diesen Geschichten nach hatte man das Hotel in fünf oder sechs verschiedenen Jahren erbaut, es war entweder von einem Satanisten oder einem Nazi geleitet worden, und architektonisch entworfen hatten es wahlweise ein Nachfahre des Großinquisitors Torquemada, ein Kannibale und natürlich Pferdefuß persönlich.
In dieser Nacht war allerlei los gewesen. Sie gerieten fast in eine Schlägerei mit Jugendlichen, die sie beim Kiffen überrascht hatten, Mike trat in einen Haufen Scheiße, der Geruch und Aussehen nach nicht von einem tierischen Waldbewohner hinterlassen worden war, und Nils pinkelte in der Dunkelheit versehentlich auf seinen Rucksack.
Gespenster sahen sie keine. Mike nahm es mit einem Schulterzucken war, stellte aber erschüttert fest, dass es Nils das Herz zu brechen schien. Als er seinen Freund am nächsten Morgen dabei beobachtete, wie der missmutig seinen nach Pisse stinkenden Rucksack packte, wurde ihm klar, wie viel diese Geschichten Nils bedeuteten. Er hatte sich vor seiner verkorksten Realität in sie geflüchtet, und jedes Mal, wenn irgendeine abstruse Spukhaustheorie widerlegt wurde, war das so, als würde jemand einen Stein aus seinem Unterschlupf meißeln. Und draußen in der Welt wehte ein rauer Wind.
Fortan gab Mike sich mehr Mühe, Nils gegenüber zu verschleiern, dass er weder an den schwarzen Mann noch an E.T. glaubte. Die Drogen hatten Nils fertig gemacht. Mike dachte sich, dass wenn er jetzt etwas hatte, was ihm Spaß machte, ohne sich dabei zuzudröhnen, dann war es doch eigentlich egal, was es war. Und so kam es wenige Wochen nach dem Spukhotel-Debakel zur Operation Robosch-Teich.
Der Größe nach war der Robosch eher See als Teich, aber aus irgendeinem Grund hatten sich frühere Generationen mal auf die bescheidenere Variante geeinigt. In den fünfziger Jahren war er zum ersten Mal abgesperrt worden, nachdem die Leiche eines Jungen an die Oberfläche gespült worden war, von dem man angenommen hatte, er sei ertrunken und wie schon manch ein Altersgenosse das Opfer der eigenen jugendlichen Selbstüberschätzung geworden.
Man hatte sich daran gewöhnt, dass der Robosch seine Ertrunkenen erst wieder hergab, wenn die Fische sich bereits so gütlich an ihnen getan hatten, dass der Sarg während des Trauergottesdienstes geschlossen bleiben musste.
Der Einsatz von Tauchern hatte nie zu Erfolg geführt. Die Vermissten kehrten heim, wenn es dem Wasser genehm war. Nicht früher.
Dieser eine Junge kehrte aber schneller zurück als alle vor ihm, nämlich bereits wenige Tage nach seinem Verschwinden. Sein Brustkorb mit Kopf und einem halben Arm waren wieder aufgetaucht. Da die Leiche noch so frisch war, schied die Erklärung „natürlicher Zersetzungsprozess“ für den Zustand des Toten diesmal aus. Hinzu kam der Gesichtsaudruck, eine Maske des Terrors, die der Junge in der Sekunde seines Todes getragen hatte.
Als sich einige Tage später Experten zu Wort meldeten, um über die Hunderte von plausiblen Gründen zu sprechen, aus denen eine Leiche in einem solchen Zustand angeschwemmt werden mochte – aasfressende Raubfische, spitze Steine am Grund des Teiches, die die Wirkung einer Käsereibe entwickeln – war es bereits zu spät. Das Korhausener Tageblatt hatte das „Ungeheuer im Robosch-Teich“ vier Tage in Folge auf der Titelseite gehabt, und hätte es sich bei Korhausen um ein etabliertes Urlaubsziel mit angeschlossener Gastronomie und Hotelwesen gehandelt, diese Industrie wäre innerhalb weniger Wochen bankrott gewesen.
Die Uferlichtungen und Landzungen des Robosch-Teiches blieben leer, die Stadt stellte unnötigerweise noch ein „Baden verboten“-Schild auf, das in der Zeit unmittelbar nach dem Unglück denselben Nutzen hatte wie ein „Nicht zur innerlichen Anwendung“-Hinweis auf einer Packung Rasierklingen.
Ein Meeresbiologe von der Universität Wismar tauchte auf. Er machte sich einen Namen als Mann vom Fach in Korhausen und gleichzeitig zum Gespött seiner Kollegen. Das Gerede eines Polizeitauchers, der behauptete, unter Wasser von „etwas Großem“ gestreift worden zu sein, wurde allgemein als Versuch abgetan, die Warholschen fünfzehn Minuten im Rampenlicht einzufordern.
Das Ungeheuer wurde nie gefunden. Doch es lebte über Generationen in den Köpfen der Korhausener. Viele lachten abends in der Kneipe über den Mist, den die Leute manchmal erzählten, um dann nachts aus Träumen zu erwachen, in denen sie unendlich weit vom Ufer entfernt im Robosch-Teich schwammen, und plötzlich spürten, wie unter ihnen etwas Großes seine Bahnen im Wasser zog. Von den Träumen aus hielt das Ungeheuer den Robosch menschenleer, ob es existierte oder nicht.
Mitte der Siebziger wurde der Robosch, der sich schon seit Ewigkeiten im Besitz einer Industriellenfamilie befunden hatte, endgültig für die Öffentlichkeit gesperrt und die Wege, die zu seinen Ufern führten, mit dem Hinweis auf „Privatbesitz“ versehen, dessen unbefugtes Betreten unter Umständen strafrechtliche Verfolgung und so weiter.
Die Geschichten um den Robosch wurden nun erweitert um solche von Schweinen und Kühen, die eingeweihte Bauern aus der Gegend in Nacht- und Nebelaktionen an den Robosch schafften, wo einer der reichsten Männer der Region sich einen Dinosaurier, einen Drachen oder vielleicht einen Riesenkraken als Haustier hielt. So wurde was immer im Robosch-Teich lebte noch drei Jahrzehnte nach der Schließung für die Öffentlichkeit gefürchtet, von Spätgeborenen, die nie in seinen Wassern geschwommen waren, gefürchtet mit all der Inbrunst, die der Mensch dem Unbekannten entgegenbringt.
Etwas zog am Tau. Mike und Nils erstarrten, beide eine Zigarette im Mund, mit den aufgerissenen Augen das sich bewegende Seil fixierend. Sie bliesen so vorsichtig den Rauch aus ihren Lungen, als würden sie das verletzte Knie eines gefallenen Kindes pusten. Mike rutschte auf seinem Hintern ein bisschen weiter von der Ufernabe zurück. Nils grinste.
„Ich hätte nicht gedacht, dass es so einfach werden würde“, sagte er, und das Flüstern, mit dem er dies feststellte, drohte jeden Moment, in das Jubelgrölen eines Stadionbesuchers beim verschossenen Elfmeter der gegnerischen Mannschaft zu kippen.
„Hey“, sagte Mike mit beschwichtigend winkender Hand und der Zigarette lose zwischen den Lippen baumelnd, „ein Seil rutscht ins Wasser. Das ist alles, was hier im Moment passiert, o.k.?“
In der Dunkelheit war der Robosch so schwarz wie Teer, und Mike wurde sich darüber bewusst, dass es sich bei jedem Teich, jedem See, jedem Meer um ein Tor in eine andere Welt handelt. Eine Welt mit eigenen Gesetzen, eigener Schönheit. Eigenen Schrecken. Seine Worte waren zu seiner, nicht Nils Beruhigung, gewesen. Dem ging es großartig. Seine Hände zitterten freudig wie die eines Kindes, das unter dem Weihnachtsbaum das Papier von den Paketen reißt.
Nils machte einen vorsichtigen Schritt nach vorne, nahm das Seil und zog vorsichtig daran. Die stetige Bewegung, mit der es langsam ins Wasser gezogen wurde, stoppte abrupt. Als Mike gerade bemerkte, dass Nils Fuß in einem Gewirr stand, das das meterlange Tau am Ufer gebildet hatte, begann wieder das Ziehen. Diesmal schnell und mit einer Kraft, die Nils von den Beinen riss und ihn auf den Rücken schlagen ließ wie einen unterlegenen Ringer. Sein Schrei kam nicht bis zum Höhepunkt. Vorher verschwand er im Wasser.
Mike spürte einen Trieb, so alt wie die Erde, der wollte, dass er rannte, jetzt, so schnell er konnte: Überlebe! schrie diese Stimme in ihm, die nichts von Freundschaft oder Mitgefühl wissen wollte. Die Natur ist grausam, Baby, also renn, renn und überlebe! Nils Kopf tauchte in einigen Metern Entfernung aus dem Robosch auf.
„Scheiße!“ Er spuckte Wasser aus. „Scheiße! Zieh, Mann! Zieh mich an Land!“
Verkrampft und verängstigt zog Mike, während er das Wasser beobachtete. Er begann, das Seil um seine Hände zu wickeln, um es besser im Griff zu haben. Als ihm einfiel, dass er an diesem Seil hängen würde wie ein Wurm am Haken, sollte was immer es war wieder Lust auf Tauziehen kriegen, befreite er seine Hände hastig aus der freiwilligen Fesselung. Nils Kopf, der sich gerade noch durch das Wasser geschnitten hatte wie die Dreizackflosse eines Hais, trieb nun wieder unbeweglich auf dem Wasser.
„Was machst du?“ schrie er. „Was machst du da, verdammt? Zieh mich raus. Zieh ... Oh, Kacke Mann ...“
Etwas war aus der Tiefe an die Oberfläche getreten, ungefähr dreißig Meter von Nils entfernt. Mike dachte zunächst, es handele sich um Treibholz, sah dann aber ein tiefschwarzes Auge, in das das Spiegelbild des Mondes grellweiße Pupillen hexte.
Nils Lippen zitterten. Er wusste nicht, ob es am Wasser lag oder an den Augen, die ihn beobachteten, kalt und leblos wie die einer Puppe.
Wie ein Reptil, dachte Mike. Langsam und mit einer ruhigen, gleitenden Bewegung bewegte sich der Kopf auf Nils zu.
„Zieh! Oh Gott, zieh!“
Wie betrunken hantierte Mike mit dem Seil, den Mund offen, von fasziniertem Grausen betäubt. Er gab ein verwirrtes „Ey!“ von sich, als er zur Seite geschubst wurde und in den Dreck fiel.
Ein Mann in einem Jogginganzug, mit schlohweißen Haaren und den gebrechlichen Bewegungen eines Greises, nahm das Seil in die Hand und zog daran mit einer jungen Kraft, über die er nach den Gesetzen der Natur nicht hätte verfügen dürfen. Der Kopf im Wasser wurde etwas schneller. Jetzt war Nils wieder in einem Bereich, den die Schöpfung seiner Art zugedacht hatte. Er stand auf und das Wasser reichte ihm nur noch bis zur Hüfte. Dann lief er, den Teich gegen sich und den unheimlichen Verfolger hinter sich. Sein Atem ging schnell. Er hatte keine Kraft, um zu schreien.
An Land stolperte er, sah sich um und kam sofort panisch wieder hoch. Mike lag im Uferdreck und beobachtete bewegungslos den Kopf im Wasser. Nils gebrechlicher Retter ging schreiend auf die Knie und hielt sich die Brust. Die für sein Alter unangemessene Kraftanstrengung forderte ihren Tribut. Der Kopf im Wasser blieb, wo er war.
Nils kniete sich neben den Greis. Mit einem Gesichtsausdruck, als würde er Reißzwecken defäkieren, krallte der Alte die Finger in seine Brust und schloss sie zur Faust.
„Das habe ich nicht gewollt“, stöhnte er.
„Was?“, fragte Nils, die Hand haltend, mit der der Alte nicht gerade dabei war, sich selbst zu verstümmeln.
„Das ... Alles ... habe ich nicht gewollt. Es tut mir leid. Wegen des Jungen.“
Eine Beichte, ein Geheimnis, vielleicht jahrzehntelang eingekerkert im Inneren dieses Mannes. Der nahende Tod hatte die Mauern des Gefängnisses einstürzen lassen wie ein Erdbeben. Ein Priester hätte jetzt hier sitzen sollen, doch ein leichtgläubiges Drogenopfer war alles, was zur Hand war.
„Es ... Sie ... hörte nicht auf zu wachsen. Mein Schwager brachte sie von einer seiner Reisen mit ... Ich setzte sie im See aus, als sie zu groß wurde. Ich wusste nicht, dass sie ... einem Menschen gefährlich werden konnte. Nach dem Tod des Jungen habe ich sie gefüttert ... aber ...“
Die klaren Worte verkümmerten immer mehr zu gutturalen Lauten, die Augen begannen in den Höhlen zu rotieren, als wollten sie sich die ihnen übergeordnete Stirn ansehen. Zucken, Schwitzen. Spucke lief das Kinn herab, ein dunkler Fleck bildete sich im Schritt. Nils Hand wurde im Griff des Alten für einen Augenblick fast zerquetscht, dann löste sich die verkrampfte Umklammerung langsam und wohltuend. Der Tod hatte die Muskeln erschlaffen lassen.
Nils spürte den Drang, etwas zu tun, was Leute im Film taten, wenn jemand unter so dramatischen Umständen und mit einer Licht spendenden Erklärung auf den Lippen starb. Die Augen des Toten vorsichtig schließen, eine Rede halten, aufstehen, die Hand aufs Herz und ‚Glory, Glory, Halleluja’ singen, etwas in der Art. Mikes Schreien unterbrach die Erhabenheit des Momentes auf unwürdige Weise.
„Es kommt raus! Es kommt aus dem Wasser raus!“
Doch der Anblick des Körpers, den der Kopf hinter sich her aus dem Wasser an Land zog, war kein Grund zum Rennen. Dieses Tier, so beindruckend es auch in seiner Körpergröße war, konnte einem auf dem Trockenen wohl nur gefährlich werden, wenn man an Beinen und Armen gefesselt dalag.
Eine gigantische Schildkröte näherte sich dem eben erst Verschiedenen. Mit offenen Mündern wie die Idioten gaffend beobachteten Nils und Mike, wie das Wasser rinnsalartig durch das Muster in ihrem Panzer floss. Ihr Gesicht hatte nichts von der gutmütigen Weisheit so vieler ihrer Hunderte von Jahren alt werdenden Artgenossen. Es war das eines gemeinen Raubvogels, das Maul ein Schnabel, der Oberkiefer ein spitzer Spaten, der sich in das Fleisch des Körpers am Boden grub. Die Knochen knackten, als sie unter dem Druck pulverisiert wurden. Eine kurze Blutfontäne sprenkelte die Umgebung, so als hätte jemand einen Hydranten für den Bruchteil einer Sekunde aufgedreht. Langsam rückwärts schlurfend verschwand das Tier mit seiner Mahlzeit wieder in der Dunkelheit des Wassers. Eine entsetzliche Sekunde lang hatte Nils das Gefühl, sie würde ihm zuzwinkern.
„Und jetzt?“, fragte Mike, selbst überrascht vom kaltschnäuzigen Ton seiner Stimme. Er starrte ins Nichts und sah dabei das Muster auf dem Panzer der Schildkröte.
Nils lächelte.
„Ein paar Dörfer weiter gibt es ein Feld, auf dem es angeblich spukt. Menschen und Tiere verschwinden, und man hat dort mal einen Kiesel gefunden, der ganz eindeutig menschliche Gesichtszüge zeigt.“
Mikes Finger zitterten so stark, dass er eine halbe Minute brauchte, um die Zigarette zwischen seinen Lippen zu entzünden.
„Und da willst du als Nächstes hin, oder was?“
„Bist du dabei?“
„Vielleicht. Ich brauche dringend Schlaf. Und psychologische Hilfe.“
Er zog an seiner Zigarette.
„Wir sollten über Schleichwege zurückfahren. Hier ist ’ne Menge Blut. Und wir haben keine Entschuldigung, die uns irgendwer glauben würde.“
Sie räumten auf und behielten dabei das Wasser im Auge.