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Weg ins Dunkel 10
(Wörter: 7062)
Groß und düster war es. Das Gebäude mit dem hellgelben Anstrich - was sich im Dämmerlicht gerade noch so erkennen ließ, aber vielleicht war es auch hellgrün - war wahrhaft beeindruckend. Eine Villa konnte es sein, soweit sich das bei der fortgeschrittenen Dämmerung sagen ließ. Der Garten zwischen dem Tor an der Straße und der Eingangstür war dermaßen zugewachsen, dass es unmöglich wäre, den gepflasterten Weg zu verlassen. Auch verschmolz das zugewachsene Gebäude so mit der Umgebung, dass man es leicht übersah. Die ersten Meter von unten besaß die sichtbare Vorderfront keine Fenster, die Reihe darüber war vergittert. Nur die Fensterreihe direkt unter dem roten Dach blieb verschont. Der Besitzer war entweder übervorsichtig oder traute dem nun rostigen Gartenzaun nicht sehr. Auf jeden Fall war schon lange niemand mehr dort gewesen, und wie es aussah, würde dies auch so schnell nicht geschehen.
"Da kommen wir sicher sowieso nicht rein", bemerkte Jea. Sie warf einen Blick zu den anderen drei Mädchen, zu denen Ivjanna, die kurz Ivy genannt wurde, gehörte, und dann zu den vier Jungs. "Lasst uns lieber wieder gehen. Es wird sowieso schnell auffallen, wenn so viele fehlen."
Ivy war auch der Meinung, dass ihre Abwesenheit nicht lange unbemerkt bleiben würde, doch auch sie wollte sich das verlassene Gebäude genauer ansehen. Außerdem hatte sie es nicht eilig, zu Jusko zurückzukommen, ihrem Lehrer und Betreuer. Er war vielleicht jung und sah gut aus, doch nur Ivy wusste, dass er in Wahrheit ein egoistischer Mistkerl war. Eigentlich war er kein Lehrer, nur ein Referendar, und er leitete ihre Klasse nicht, trotzdem war er mitgekommen auf Klassenfahrt. Weiß der Geier, wie er das angestellt hatte. Vielleicht hatte er mit den Fingern geschnippt, dachte Ivy sarkastisch. Oder seinen Zauberstab geschwenkt.
"Nur kurz gucken", bestimmte Toni. "Wenn abgeschlossen ist, gehen wir auch gleich wieder." Selbstsicher ging er voran und öffnete das quietschende Tor. Im Gänsemarsch folgten ihm die anderen, die trotz ihrer Zweifel genauso neugierig waren.
Jea hakte sich schnell bei Ivy ein. In Gegenwart anderer Menschen war sie sehr selbstsicher, doch das verflog, sobald es unheimlich wurde. Bei Ivy war es annähernd umgekehrt. Sie war lieber mit weniger Menschen zusammen, fühlte sich aber bei Dunkelheit wohl.
"Lass uns bei der nächsten Gelegenheit umkehren", wisperte Jea in Ivys Ohr. Dann klang ihre Stimme wieder etwas aufgeweckter. "Zurück zu Jusko. Vielleicht kommt er wieder vorbei und erzählt uns eine Geschichte oder führt ein paar Zaubertricks vor."
Ivy zweifelte, dass das reine Tricks waren. Immerhin wusste sie, dass er ein echter Magier war und hatte ihn schon zaubern gesehen. Allerdings war es auch eine raffinierte Tarnung, wenn sich ein Magier als Zauberer ausgab.
"Hach, er ist so süß", fuhr Jea fort, "aber ich glaube, er steht auf dich."
"Ach." Ivy spielte halbherzig die Unwissende. "Wie kommst du darauf?" Sie war das einzige Mädchen in der Klasse, das sich nicht mehr oder weniger für Jusko interessierte. Die anderen standen oft tuschelnd und kichernd beieinander, verstummten aber sofort, wenn Jusko den Raum betrat, nur um dann auf ihren Sitzplätzen die Unterhaltung weiterzuführen. Ab und zu traute sich eine, ihn lächelnd zu einem Eis einzuladen, doch dann wollten die anderen auch mit. Und weil die Jungs wussten, dass am Ende doch Jusko bezahlte, luden sie sich ebenfalls mit ein, Ivy wurde von Jea mitgeschleift. Jedes Mal ging die ganze Klasse in einer Freistunde zur Eisdiele, mittendrin Jusko, von einer Traube umringt, mit Mantel und Zylinder. Und natürlich wunderte sich niemand darüber, wahrscheinlich weil Jusko alle manipulierte. Ivy konnte über sein Verhalten nur den Kopf schütteln. Es war nicht auszuhalten, wie sehr er die Aufmerksamkeit genoss. Wenigstens fiel selten öfter als einmal im Monat eine Stunde aus.
"Ist dir wirklich noch nicht aufgefallen, dass er dich mehr mag als andere?", antwortete Jea mit einer Gegenfrage. "Öfters fragt er dich, ob du nach der Stunde noch ein wenig da bleibst. Seit wir auf Klassenfahrt sind, hängt er öfter in unserem Raum ab als in den anderen, obwohl er bemüht ist, das auszugleichen. Bei den Mahlzeiten sitzt er öfter bei uns und ich beobachte, dass er am häufigsten zu dir schaut, die anderen beachtet er meistens so gut wie gar nicht. Seltsamerweise versuchst du genauso, dich von ihm fernzuhalten. Und weißt du, dass er eigentlich nicht mit uns mitfahren sollte?"
Niemand sonst wusste von Juskos Fähigkeiten, also brauchte sie auch nicht zu erklären, dass er sie als Lehrling haben wollte, da sie magisches Potenzial besaß. Ivy - die große Magierin - lächerlich. Außerdem wollte sie mit ihm nicht mehr als notwendig zu tun haben. Stets dachte er nur an sich. Nie erkundigte er sich, was Ivy wollte, und dann wunderte er sich, wenn sie sich weigerte, mit ihm zusammenzuarbeiten. Selbst jetzt versuchte er noch, ihr Vertrauen zu gewinnen, obwohl sie mehr als einmal deutlich abgesagt hatte. Er dachte nicht daran, dass er die anderen Mädchen verletzen könnte, wenn er ihnen ständig falsche Hoffnungen machte. Hauptsache er war überall beliebt und konnte das zeigen.
Ob Ivy einmal ...
"Weißt du eigentlich, dass er ein echter Magier ist?", stellte sie versuchsweise die Frage.
"Klar." Jea grinste ahnungslos. "Das haben doch alle oft genug gesehen. Dass er Sträuße aus dem Hut zaubert und so."
"Nein, ich meine doch, ein echter Magier ..."
"Mist. Abgeschlossen." Toni trat wütend gegen das Holz und Ivys Frage war vergessen. Sie hätte sich denken können, dass niemand sie ernst nahm, immerhin gab es offiziell keine echte Magie.
"Hast du etwa was anderes erwartet?", fragte Jea laut und zog Ivy wieder zurück. "Komm, wir gehen wieder."
"Wartet." Ivjanna befreite sich aus Jeas Umklammerung und trat auf die Tür zu. Aus ihrer Tasche zog sie einen kleinen, rostigen Schlüssel. Gespannt sahen alle zu, wie sie ihn in das Schloss steckte.
"Nicht zu fassen", entfuhr es Jea, als die Haustür nach innen aufschwang und den Blick auf einen dunklen Gang freigab. "Wo hast du den denn her?"
Ivjanna war genauso überrascht, dass sich die Tür öffnete. Sie hatte deutlich gemerkt, dass der Schlüssel sich nur mit Mühe ins Schloss stecken lassen hatte, und dass sie ihn nicht herumdrehen konnte. Trotzdem hatte sich die Tür geöffnet.
"Gut gemacht, Mädel", lobte Toni und klopfte Ivy auf die Schulter. "Wer kommt mit?" Er blickte in die Runde. Die anderen Mädchen schlotterten, nur Ivy und die Jungs wirkten mutig genug.
"Lasst das lieber", bat Jea. "Das Gebäude ist schon lange verlassen. Was, wenn da was einstürzt?"
Dafür hatte Toni eine Lösung parat. "Von mir aus bleibt ihr hier draußen, und wenn ihr nach - sagen wir 'ner Stunde - nichts von uns hört, dann holt ihr Hilfe. Einverstanden?" Es war nur eine rhetorische Frage, denn eine Wahl hatten sie eigentlich nicht. Sie würden nicht einfach weggehen, geschweige denn Toni widersprechen, aber möglicherweise bekamen sie es alleine mit der Angst zu tun. Ivy wollte auch ins Haus, also würde Jea auf jeden Fall draußen auf sie warten. Was die anderen betraf war Ivy sich nicht ganz so sicher. Die wurden vielleicht auch von der Sehnsucht nach Jusko geleitet. Doch wenn Toni außer Sichtweite war, gab es dann noch etwas, das sie hier hielt?
"Seid vorsichtig, ja?"
Jea bekam zur Antwort einen Daumen hoch von Toni, bevor er als erster das Gebäude betrat. Ivy ging als Zweite, die anderen drei folgten. Der Gang sah seltsam aus. Die Wände waren ähnlich gelb wie draußen, soweit sich das bei dem schwachen Licht sagen ließ, auch das abstrakte Blumenmuster war an sich nichts Ungewöhnliches. Hier aber sah es so aus, als wären Boden und Decke mit der gleichen Tapete beklebt. Der Boden quietschte unter ihren Füßen wie Linoleum, doch im Fall der Decke hatte Ivy vermutlich Recht. Der ganze Gang wirkte eintönig, und man konnte sich leicht einbilden, auf der Wand oder der Decke entlangzugehen.
"Sieht ja krank aus", flüsterte jemand hinter Ivy, so leise, dass sie die Stimme nicht zuordnen konnte. Nicht, dass sie sich darum bemüht hätte. "Da ist wohl jemandem nichts Neues mehr eingefallen."
Eine Windböe zog vorbei und riss sie fast von den Füßen. Mit einem lauten Knall flog die Tür ins Schloss.
"Was war das?", fragte jemand.
Ivy spürte, wie Toni sie im Dunkeln zur Seite stieß und sich einen Weg zur Tür bahnte. "Was wohl? Durchzug. Oben ist irgendwo ein Fenster offen." Man hörte ihn mehrmals kräftig an der Klinke zerren. "Hey, ihr da draußen", rief er. "Habt ihr abgeschlossen? Macht sofort wieder auf!"
Ivjanna wusste genau, dass niemand den Schlüssel umgedreht hatte. Vielleicht war Magie im Spiel gewesen, doch sie hatte nichts gespürt, wusste auch gar nicht, ob sie das konnte. Möglicherweise hatte ein Unsichtbarer die Tür geschlossen, doch selbst mit ihren Fähigkeiten hätte Ivy im schwachen Licht nichts gesehen. Angst hatte sie jedoch keine, denn sie wusste, dass sie Angriffe erahnen konnte, bevor sie kamen. Hoffte sie.
"Wir haben nicht abgeschlossen", rief Jea durch die Tür. "Wartet, wir versuchen die Tür zu öffnen."
Ivy hörte, wie jemand mehrmals die Klinke runterdrückte und sich von außen Körper gegen die Tür warfen. Ohne Erfolg.
"Ich habe eine bessere Idee", rief Jea nach einer Weile. "Wir gehen zurück und sagen Jusko Bescheid."
Die anderen zwei stimmten freudig zu. Nur Ivy unterdrückte ein genervtes Stöhnen. Nicht schlimm genug, dass der Referendar davon erfuhr. Auf keinen Fall wollte sie von ihm gerettet werden und womöglich noch in seiner Schuld stehen. Das wäre ihr absolut unerträglich.
"Wir brauchen Jusko nicht", mischte sich Ivy ein. "Wir gehen hoch in den dritten Stock. Dort klettern wir aus einem Fenster, das Gestrüpp draußen fängt unseren Sturz ab. Wollt ihr etwa riskieren, dass wir Ärger kriegen?"
Nun rief Jea wieder von draußen. Sie klang besorgt. "Und wenn der Weg irgendwo versperrt ist? Was ist, wenn euch plötzlich die Decke auf den Kopf fällt? Das Haus ist doch so alt."
"Ich bin auch dafür, dass wir gehen", bestimmte Toni. "Was haltet ihr davon: Jea bleibt hier und wir sagen Bescheid, wenn der Gang versperrt ist. Ihr anderen beiden geht Jusko holen und derweil machen wir uns auf den Weg nach oben."
Mit diesem Vorschlag waren alle einverstanden. Ivy wollte Jusko zeigen, dass sie alleine klar kam und ihn nicht brauchte. Geschweige denn seine lächerliche Ausbildung. Am Ende war das nur ein Vorwand, weil sie sich auf anderen Wegen nicht von ihm ausnutzen ließ. Denn, so dachte sie, weil sie seine Manipulationen durchschaut hatte, war sie immun dagegen.
"Na dann los. Ich geh voraus. Tastet euch an der linken Wand entlang", wies Toni sie an und setzte sich hörbar in Bewegung. Ivy folgte als Zweite. Tonis Körperwärme strahlte ihr schwach entgegen, sodass sie genau wusste, wie weit sie von ihm entfernt war. Den anderen hinter ihr gelang das nicht. Ständig stieß sie jemand von hinten an, und am laufenden Band beschwerte sich jemand.
"Pass doch auf, wo du hintrittst."
"Au! Was bleibst du denn stehen?"
"Du bist mir gerade in die Hacken getreten."
"Ruhe dahinten", brüllte Toni. "Seid still, ich versuche mich zu konzentrieren."
Ab und zu gab Toni Anweisungen, einen Türrahmen auszulassen oder auf einen Gegenstand Acht zu geben, der herumlag.
Ivy schwieg, denn sie dachte wieder voller Groll an Jusko. Neulich, als sie sich wieder über ihn geärgert hatte, hatte sie ein weißes Blümchen gepflückt und ihm die Blätter ausgezupft. Dabei hatte sie Schimpfwörter für Jusko abgezählt. Trottel, Mistkerl, Idiot, Egoist. Trottel, Mistkerl, Idiot, Egoist. Trottel, Mistkerl, Idiot, Egoist. Trottel - das letzte Blütenblatt. Wie treffend. Was hatte er da eigentlich gemacht? Sie waren beim Wandern gewesen, mit Jusko, einem weiteren Lehrer und einem von den Eltern, eben die Personen, die die Aufsicht auf Klassenfahrt hatten. Irgendwas hatte Jusko da gesagt, über das sich Ivy geärgert hatte, doch ihr fiel beim besten Willen nicht mehr ein, was das gewesen war. Das machte aber nichts, denn er gab ihr allgemein genug Anreize.
"War Karl eigentlich mitgekommen?", fragte eine Stimme von hinten.
Jetzt fiel es Ivy wieder ein. Jemand hatte Jusko gefragt, warum er immer mit Zylinder rumlaufe.
"Da ziehe ich Kaninchen heraus", hatte er scherzhaft geantwortet. Das sollte er dann vorführen, meinte aber entschuldigend, er habe seinen Zauberstab nicht dabei. "Den brauche ich auch, um die Mädchen zu verzaubern", hatte er charmant lächelnd hinzugefügt, worauf ihm wieder Besagte zu Füßen lagen. Wie immer. Das war es, was Ivy da geärgert hatte. Ständig ging das so. Aber er war ein Magier und vermutlich konnte er seinem Charme mit einem Fingerschnipp auf die Sprünge helfen. Oder mit einem Schwenker seines langen Zauberstabs mit der faustgroßen, schwarzen Kugel darauf. Das passte zu ihm, dass er alle Möglichkeiten ausnutzte, die ihm zum Vorteil gereichten. Bestimmt machte er das.
"Weiß ich doch nicht", antwortete Toni und riss Ivy damit aus ihren Gedanken zurück. "Hast du nicht gesehen, wie er das Haus betreten hat?"
"Vielleicht hat er sich hinter den Mädchen versteckt." Jemand lachte hämisch.
"Schnauze."
"Tschuldigung."
Dann meldete sich die Stimme von hinten wieder. "Ich dachte, er wäre hinter mir gewesen, aber ich bin mir nicht sicher."
Toni seufzte, dann setzten sich seine Schritte fort. Ivy folgte schnell, damit nicht wieder jemand in sie hinein lief. Innerlich verfluchte sie die Dunkelheit, weil sie nicht sehen konnte, wo die anderen waren und was sie machten. Jusko hätte ihr sicher längst beigebracht, wie man ein Licht heraufbeschwor. Er selbst hätte in dieser Situation vermutlich eine Taschenlampe herbeigezaubert, damit die anderen keinen Verdacht schöpften. Nein, er hätte gleich die Tür aufgehext und als strahlender Retter dagestanden.
"Hey, Leute. Hier ist eine Treppe nach oben. Seid vorsichtig." Toni ging voraus. Ivy hörte, wie seine Schuhe gegen die Stufen stießen und sich vorantasteten. Dann trafen auch ihre Füße auf Widerstand.
Ein erstickter Laut drang von hinten.
"Ben?", fragte der Junge hinter Ivy. "Alles in Ordnung?"
Doch die Dunkelheit schwieg.
"Ben!", rief nun auch Toni. "Lass den Unsinn. Das ist jetzt nicht witzig. Komm her, sonst kannst du gleich hier bleiben!"
Das Schullandheim kam wieder in Sicht. Die beiden Mädchen keuchten und wurden von Seitenstichen geplagt, da sie einen Großteil der Strecke laufend zurückgelegt hatten. Sie fürchteten, dass den anderen was passiert war, noch mehr als den Ärger, den sie dafür bekommen würden, so spät noch unterwegs gewesen zu sein.
"Was sagen wir eigentlich?", fragte die eine unter Atemnot.
Die andere kam aber nicht mehr dazu, zu antworten, denn sie erreichten den Bungalow der Betreuer.
"Du klopfst", bestimmte sie und zog sich hinter den Rücken der anderen zurück. Es blieb nicht genug Zeit für weitere Diskussionen. Schließlich stürzten die Mädchen ohne anzuklopfen durch die Tür.
In dem vorderen der beiden Räume den kleinen Holzbungalows standen die Doppelstockbetten, Tische und Stühle. Im hinteren Raum war die Toilette, wie in jedem Bungalow. Alle waren gleich eingerichtet. Im vorderen Raum saß Jusko zusammen mit den beiden anderen Betreuern. Dort spielte sie bei dem Schein einer Kerze Karten.
"Jusko, wir ..." Das Mädchen wurde mit einem Rippenstoß unterbrochen und ließ die andere weiter sprechen.
"Können Sie bitte mitkommen? Die anderen sind in einem alten Haus eingeschlossen und kommen nicht mehr heraus."
Jusko ließ gleich darauf sein Blatt fallen und sprang auf. Ein sehr gutes Blatt.
"Ich benachrichtige sofort den Notdienst", sagte der andere Lehrer und zog sein Handy aus der Tasche.
Jusko drehte sich zu ihm um. "Nicht nötig. Ich schaffe das allein." Bei diesen Worten ließ er eine Hand unter seinem Mantel verschwinden, holte aber nichts hervor.
"Okay", stimmte der Lehrer zu. Die Mädchen hatte keine Zeit, sich darüber zu wundern. Jusko griff sich seinen Zylinder von einem Bett und schob die Mädchen nach draußen. "Wartet hier und spielt weiter Karten", wies er die beiden Betreuer an, bevor er die Tür schloss.
Dann wandte er sich den Mädchen zu. Sein Gesicht war ernst, wie fast immer, doch das tat seiner Attraktivität keinen Abbruch. Schon fühlten sich die Mädchen wieder geborgen.
"Wo ist Ivjanna?", fragte er nur. Die Lehrer nannten sie beim richtigen Namen, nur ihre Freunde und engere Bekannte benutzen die Kurzform.
"Die ist auch im Haus", antwortete die eine achselzuckend, weil sie nicht verstand, wie er jetzt auf die kam.
"Oh nein!", rief er aus. "Wieso habt ihr sie da reingehen lassen? Los, bringt mich sofort hin!"
Im zweiten Stock war es etwas heller, sodass Ivy wenigstens ein bisschen sehen konnte. Trotzdem waren die Schatten noch tief genug, dass sich alles Mögliche darin verstecken konnte. Nach Toni erreichte sie den zweiten Stock und drehte sich um. Hinter ihr wurde Max von der Schwärze freigegeben. Einige Momente lang warteten sie darauf, dass noch jemand erschien. Hier im schwachen Licht fiel erst auf, wie sehr die Gruppe zusammengeschmolzen war.
"So ein Mist", schimpfte Toni. "Wo bleiben die nur?"
Doch selbst nach einigen Minuten tauchten die Verlorenen nicht auf.
"Äh, Toni?" Max zitterte sichtbar. Dabei war es im Haus nicht besonders kalt. "Könnte ich wohl n... nicht mehr als Letzter gehen?"
Ivy konnte ihn verstehen. Es war immer der Letzte in der Reihe verschwunden.
Toni aber stöhnte genervt. "Was soll das Theater? Und wie stellst du dir das vor? Denkst du, du findest den Weg nach draußen eher als ich?"
Bevor die Situation eskalierte, ging Ivy dazwischen. "Schon gut, Toni. Ich gehe als Letzte, okay?"
Toni nickte zufrieden und Max war sichtlich erleichtert. In Ivy aber machte sich jetzt ein mulmiges Gefühl breit. Es war keine gute Idee, als Letzte zu gehen. Sie besaß zu wenig Übung und zweifelte nun daran, dass ihre Fähigkeiten zur Selbstverteidigung ausreichten. Genau genommen spürte sie jetzt nichts von ihnen. Vor Wochen in der Kanalisation waren sie von selbst hervorgetreten, ohne Ivys zutun. Genauso gut konnten sie sie auch im Stich lassen.
"Wir könnten uns an den Händen fassen", schlug Max vor. "Damit keiner mehr verloren geht."
Die Berührung gab allen zusätzliche Sicherheit. Ivy musste nun nicht mehr aufpassen, dass sie die anderen aus den Augen verlor, sondern ging seitlich, damit sie den Gang hinter ihnen im Auge behalten konnte. Ein Gefühl sagte ihr, dass die anderen weder verloren gegangen waren noch Späße mit ihnen trieben. Etwas anderes war für ihr Verschwinden verantwortlich, etwas Intelligentes und Mächtiges. Etwas, das schon länger in diesem Haus verweilte und sich hier genau auskannte.
"Wollen wir nicht zu einem Fenster gehen?", fragte Max, bevor Toni wieder in der Schwärze zwischen zwei offenen Türrahmen verschwand.
"Hast du etwa vorhin nicht hingesehen?", blaffte dieser gereizt. "Die Fenster in diesem Stockwerk sind noch alle vergittert. Wir müssen noch eine Treppe hinauf. Idiot!"
"Reg dich nicht gleich so auf, Toni", mischte sich nun auch Ivy ein. "Ich würde auch nach einem Fenster gucken gehen. Das Haus ist alt. Vielleicht sind die Stäbe rostig genug, dass wir durchbrechen können."
Sie wollte nur den Streit schlichten und vermitteln. Dies war einfach nicht der richtige Ort für Meinungsverschiedenheiten.
"Du sei bloß still." Toni schoss quer. "Tu nicht so scheinheilig. Wir wissen doch alle, dass du was mit Jusko hast."
Ivy spürte, wie ihr die Hitze ins Gesicht stieg und sie ließ Max' Hand fahren. "Was? Spinnst du? Weißt du nicht, was das für ein Dummkopf ist?" Natürlich wusste er das nicht. Niemandem außer ihr fiel das auf. Für die anderen war er nur der sympathische, großzügige und supertolle Jusko, der einzige Lehrer, den sie mit Vornamen ansprechen durften. Für Toni musste es aber so aussehen, als habe er ins Schwarze getroffen.
"Du hältst uns wohl alle für blöd? Alle Mädchen sind hin und weg von ihm, nur du hältst als Einzige verdächtigen Abstand und obendrein hängt er ständig in deiner Nähe herum und schaut zu dir."
Max schob sich zwischen die beiden. Er hielt noch immer Tonis Hand umklammert und drückte sie vor Angst so sehr zusammen, dass seine Sehnen hervortraten. Das schien aber beiden nicht aufzufallen. "H... Hört doch bitte auf zu streiten. Wir s... sollten zusammenhalten, sonst kommen wir nie hier heraus."
Ivy verschränkte beleidigt die Arme vor der Brust. Sie und Jusko - niemals. Schon der Gedanke daran war ihr unerträglich. "Wenn ihr wollt, dann geht doch ohne mich. Ich lasse mich lieber von einem Monster fressen, als dass ich weiter mit einem Ekel wie Toni zusammenarbeite." Nichts wollte sie in Wahrheit lieber, als von hier zu verschwinden, notfalls mit Toni oder sonst wem. Mit ihrer Bemerkung wollte sie ihn wieder zur Vernunft bringen, zum Einlenken zwingen.
"Siehst du? Sie will gar nicht", meinte Toni zu Max. Leider hatte Ivy übersehen, dass er mindestens genauso stur war wie sie.
"Seid doch wieder vernünftig", bat Max. "Sonst gehen wir auch noch drauf."
Aus dem Schatten griff blitzschnell eine bleiche Hand. Sie krallte sich in Tonis Kragen und riss ihn mit einem Ruck nach hinten. Max, der immer noch seine Hand hielt, zog es beinahe mit, doch er ließ noch rechtzeitig los, sodass er nur schmerzhaft auf den Knien landete. Ivy war wie erstarrt und starrte gebannt auf die Stelle, an der Toni bis vor einer Sekunde noch gestanden hatte, als könnte sie ihn noch sehen. Sie verstand nicht, warum sie den Angriff nicht hatte kommen sehen.
"Aua, meine Knie", jammerte Max, bis er kurz darauf den Kopf hob. "Toni? Bist du noch da?"
Keine Antwort, kein einziger Laut drang aus der Dunkelheit. So lange wollte Ivy auch nicht warten und zerrte Max hoch.
"Durch die Tür!", zischte sie und stieß ihn dem Licht entgegen. In dem kleinen Raum sah sie sich hastig nach einer Waffe oder etwas zum Versperren des Eingangs um. Fehlanzeige. Selbst das Türblatt fehlte!
"Die Gitter sind draußen", meldete die Silhouette von Max. "Und das Fenster kann man nicht öffnen."
Auch das noch. Bis in den dritten Stock würden sie es jetzt nicht mehr schaffen.
"Vielleicht ist das Dinge gerade beschäftigt", vermutete Ivy, nahm aber einen respektvollen Abstand zum Türrahmen ein.
"Ohoho." Max trat an die gegenüberliegende Wand zurück und hob den Zeigefinger. "Ich gehe da ganz sicher nicht raus."
"Denkst du ich?" Ivy funkelte ihn zornig an, was aber in dem schwachen Licht von draußen nicht richtig zur Geltung kam. Dann machte sie Max Handzeichen, näher an den Türrahmen zu treten. "Ich habe eine Idee", teilte sie mit. "Vermutlich werden wir nicht beide überleben. Also, wenn das Ding hereinkommt und einen von uns angreift, läuft der andere vorbei und sucht im dritten Stock nach einem Ausgang." Ivjanna hoffte natürlich, dass sie die Gelegenheit bekam, doch Max sicher genauso. Insofern dürfte er gegen den Vorschlag nichts einzuwenden haben. Er schlich sogar noch näher an die Tür heran.
"Und wenn wir versuchen, es niederzuschlagen?" Er setzte sich mit geballten Fäusten in Position, was im Vergleich mit der drohenden Gefahr reichlich lächerlich wirkte.
"Hast du nicht gesehen, wie schnell es Toni überwältigt hat?", äußerte Ivy ihre Zweifel. "Geh lieber von der Tür weg, sonst erwischt es uns beide."
Bei der Erinnerung daran fing Max wieder an zu schlottern und kroch rückwärts wie ein Hund mit eingezogenem Schwanz. Sie hatten sich jetzt beide in die Ecken neben dem Türrahmen zurückgezogen und so einen Abstand von drei Metern zueinander.
"Wenn es jetzt einen von uns packen würde", stellte Ivy sich laut vor, "müsste es nur einen Schritt zurück treten und könnte auch den anderen schnappen, wenn dieser versucht abzuhauen." Sie verschwieg, dass sie sich dabei selbst in der Rolle der fliehenden Person sah. Max sah sie kurz aus geweiteten Augen an, als er sich ebenfalls dieses Schreckensszenario vorstellte. Wie auf ein stummes Kommando hin schoben sie sich weiter an den Wänden entlang, bis in die Ecken neben dem Fenster. Von dort konnten sie kaum noch in den Flur sehen.
"Und wenn es durch das Fenster kommen kann?", wollte Max wissen, der nur noch ein schwarzer Schatten vor dem Blumenmuster war.
"Du machst mir echt Angst", sagte Ivy fast weinerlich. So schlichen sie jeder die halbe Strecke zurück, bis sie sich in der Mitte gegenüber sahen.
"Wie lange wohl die anderen noch brauchen", flüsterte Ivy laut, weil sie zum Gang hin lauschte. Beide wagten nicht, den Türrahmen aus den Augen zu lassen.
"Was können die schon tun?" Max Kopf sank ein Stück ab. Er klang bedrückt. "Die können uns auch nicht helfen. Ich habe gespürt, was das Ding für eine Kraft hatte. Das kannst du dir nicht vorstellen. Die anderen können uns auch nicht helfen."
"Jusko kann", versprach Ivy zuversichtlich, obwohl sich ihr im nächsten Moment der Magen verkrampfte. Sie biss sich auf die Lippe, sah aber ein, dass es die Wahrheit war. "Glaub mir, er kann uns retten."
"Und was kann er tun?"
Ivy hörte ihn beim Sprechen lächeln. Galgenhumor. Es klang auch sehr fantastisch. "Das darf ich dir nicht sagen", meinte sie und bereute schon, das Thema angesprochen zu haben. Jusko wäre nie rechtzeitig da. Er war zwar ein Magier, konnte sich aber auch nur auf zwei Beinen fortbewegen. Zumindest hatte Ivy noch nichts anderes bei ihm gesehen.
Max sah sie an. Er wirkte müde, hoffnungslos. Die Angst währte schon zu lange. Es war zu viel für ihn, seine Kräfte neigten sich dem Ende entgegen. Ein Mensch konnte nicht ewig um sein Leben kämpfen und bangen. Doch im Gegensatz zu ihm hatte Ivy noch nicht aufgegeben. "Sag es mir ruhig", bat er. "Wir sterben doch sowieso gleich. Es kann nicht mehr lange dauern."
Energisch schüttelte sie den Kopf. Genauso gut könnte sie sagen, ein Superheld würde sie retten. Er würde es ja doch nicht glauben. "Red' nicht so einen Unsinn. Wir überstehen das und kommen wieder nach Hause."
Max ließ sich an der Wand zu Boden sinken. "Schau dich nur um." Er grinste gequält. "Das glaubst du doch wohl selber nicht."
Es geschah so schnell, dass Ivy es wieder nicht kommen sah. Ein Schatten flog durch die Tür herein, dessen bleiche Hand Max am Hals packte und ihn zu sich heranzog. Von der ungeheuren Geschwindigkeit wurde sein Kopf in den Nacken geschleudert. Ein dumpfes Knacken war zu hören.
"Ups", machte das Wesen teilnahmslos und ließ Max dann uninteressiert fallen.
Ivy löste sich aus ihrer Erstarrung, hockte sich auf den Boden und malte einen imaginären Kreis um sich. Davon hatte sie in einem Buch gelesen. Hexen malten sich auch Kreise auf den Boden, bevor sie Zauber wirkten. Dazu benutzen sie Kreide auf Stein, einen Stock auf bloßer Erde oder einfach den Finger. Der Kreis selbst war nicht wichtig, er markierte nur die Grenze, an der die Hexen entlang wanderten, Symbole in die Luft malten oder ihre Sprüche aufsagten. Ivy hatte es ausprobiert und eine unsichtbare Grenze geschaffen, die niemand anderes überwinden sollte. Zum Test streckte sie eine Hand aus und fühlte die magischen Ströme auf ihrer Haut kribbeln, fein wie ein Spinnennetz. Nun wollte sie hoffen, dass es sie ausreichend schütze. Mindestens bis Jusko kam. Damit sie ihm zeigen konnte, dass sie auch ohne seine Hilfe nicht wehrlos war.
Die dunkle Gestalt wandte sich Ivy zu und trat dabei ins Mondlicht, dass durch das Fenster fiel, sodass Ivy sie genauer sehen konnte. Es war ein Mann, in etwa so alt wie Jusko. Seine Haut war bleich wie das Mondlicht, das darauf schien. Sein schwarzes Haupthaar fiel ihm glatt bis über die Schultern und war so seidig, dass es glänzte. Er trug ein dunkles Gewand, das bis auf den Boden reichte und nur Gesicht, Hals und Hände unbedeckt ließ. Im selben Augenblick, als Ivy diese Aura der Macht spürte, die ihn umgab, wurde ihr klar, wie er die Gruppe so einfach und unbemerkt hatte dezimieren können.
Er kam auf Ivy zu und streckte eine Hand aus, stoppte aber da, wo in etwa die Barriere war. Dann zog er den Arm zurück und ließ sich vor Ivy auf dem Boden nieder. "Du brauchst keine Angst zu haben", sagte er freundlich lächelnd und erinnerte sie damit an Juskos Masche. "Ich hätte dir schon nichts getan."
Ihr Blick wanderte zu Max, der die Worte der Gestalt Lügen strafte.
"Du darfst mich Lord Vemzor nennen", fuhr der Mann fort.
Ivy wollte vorsichtig sein, solange sie nicht wusste, was er plante. Er könnte versuchen sie festzuhalten, bis sie verdurstete und sich der Kreis auflöste, oder er wollte auf sie einreden, bis sie genug Vertrauen fasste und den Schutz freiwillig aufhob. Am besten war es, ihm kein Wort zu glauben.
"Weißt du eigentlich, dass dein Schlüssel gar nicht gepasst hat?", fragte er und erntete dafür eine skeptisch hochgezogene Augenbraue von Ivy.
"Ach wirklich?"
"Natürlich", bestätigte er. "Ich hätte die Tür auch so für dich geöffnet. Die anderen waren mir egal, deswegen musste ich sie erst beseitigen." Dann hatte er auch die Tür hinter ihnen wieder verschlossen. Und dafür gesorgt, dass sie sich nicht wieder öffnen ließ. Wenn er auch Magie beherrschte, konnte Jusko Schwierigkeiten bekommen.
"Und wozu das alles?", fragte Ivy noch immer zweifelnd. Dieser Kerl wollte doch irgendwas. Immer wollten sie was, wenn sie Ivy auf ein Gespräch unter vier Augen trafen. Jusko machte das schließlich auch so.
"Ich wollte dich treffen." Der Mann seufzte verträumt und irgendwie aufgesetzt. Er lehnte sich zurück. "Ich fühle mich einsam und suche nach Gesellschaft. Die anderen wirkten mir zu unvernünftig, deswegen musste ich sie loswerden."
Die Mitleidsmasche. Jusko machte das anders. Er behauptete stets, es wäre das Beste für sie, oder je nach Situation, das Beste für alle.
"Meine letzte Gefährtin ist getötet worden", erzählte der Mann ernst weiter. Dieses Mal wirkte er aufrichtig. "Vor einigen Jahren. Sie hieß Jina. Jina streifte auch tagsüber oft durch mein Schloss, wenn alle anderen schliefen. Eines Tages kamen wieder ... Abenteurer vorbei."
An dieser Stelle spürte Ivy, dass er einen anderen Begriff verschwieg.
"Das ist für gewöhnlich kein Problem, doch an diesem Tag kamen sie in Begleitung eines Magiers. Er hat sie vernichtet."
Ivy senkte betroffen den Blick. Nun empfand sie doch Mitleid. Dabei hatte sie das vermeiden wollen.
Der Mann lehnte sich wieder vor und sah ihr fest in die Augen. "Ich denke, du kennst ihn. Sein Name war Jusko."
Kaum hatte Jusko von weitem Jea erblickt, die noch immer gehorsam Wache vor dem verlassenen Gebäude schob, lief er voraus. Der Weg hierher war für die beiden Mädchen noch anstrengender gewesen, als der Lauf zurück, Jusko hingegen war noch frisch und munter.
"Jea? Gibt's was Neues?" Er stoppte vor der Schwelle.
Jea, Ivys beste Freundin, saß an das Holz gelehnt da, den Kopf in den Armen vergraben. Nun hob sie ihr tränennasses Gesicht. "Nein, gar nichts." Sie rieb sich ein Auge. "Und ich habe ein ganz schlechtes Gefühl. Sie brauchen so lange bis in den dritten Stock."
Wieder ließ er eine Hand in seinem Mantel verschwinden. "Beruhige dich. Geh zurück und schlaf dich aus. Nimm die beiden anderen mit und macht euch keine Sorgen. Ich kümmere mich darum."
Das Mädchen nickte und stand auf. Jea schenkte dem Referendar ein schwaches Lächeln, dann machte sie sich auf den Weg.
Jusko kümmerte sich nicht weiter um sie, sondern wandte seine Aufmerksamkeit der Tür zu. Im Schloss steckte ein rostiger Schlüssel, der sich nicht herumdrehen ließ. Der Magier warf ihn achtlos ins Gebüsch und zog seinen Zauberstab aus dem Mantel. Die schwarze Kugel des armlangen, fingerdicken Stabs richtete er auf das Schlüsselloch. Ungläubig starrte er auf das Schloss, das nur ein trockenes Klicken von sich gab. "Was zum Teufel ist das?"
"Das ... tut mir leid", gab Ivy zu, war aber gleichzeitig wie vor den Kopf gestoßen. Aber im Grunde genommen wusste sie rein gar nichts von Jusko. Er konnte alles Mögliche gemacht haben, bevor er Referendar an ihrer Schule wurde. Sowieso war es Ivy schon lange ein Rätsel, wieso ein Magier so einen Beruf ergriff. Doch wohl nicht, um nach potenziellen Lehrlingen Ausschau zu halten. Bei Gelegenheit sollte sie ihn danach fragen. "Was ist dann passiert?"
Das Bild von Lord Vemzor verschwand plötzlich, doch er war noch da, wie Ivy spürte. Sie kniff die Augen zusammen und versuchte, ihn trotzdem zu sehen, was sie eigentlich konnte. Es gelang ihr auch ein wenig, doch immer noch war das Licht zu schwach. Wäre hier hellster Sonnenschein, hätte sie kein Problem damit, doch in der tiefsten Dunkelheit war jeder unsichtbar.
"Ich machte mich unsichtbar und wollte ihn überwältigen", sprach die Stimme weiter. "Aber es hat sich herausgestellt, dass er den selben Trick beherrschte." Lord Vemzor erschien wieder. "Ursprünglich wollte der Magier mich ebenfalls vernichten, doch er kann keinen Unsichtbaren besiegen. Stattdessen hat er sich aus dem Staub gemacht und die anderen im Stich gelassen. Ich nehme an, er sucht nach einer neuen Waffe. Dann wird er wiederkehren und es erneut versuchen."
Nun wurde Ivy alles klar. Sie hatte ja schon immer gewusst, dass Jusko ein Egoist war und ihr nicht aus purer Nächstenliebe eine Ausbildung zur Zauberin aufdrängte. Nein, jetzt wusste sie, dass noch mehr dahinter steckte. Nicht nur, dass er mit ihr umherstreifen und nicht sichtbares Gesindel auslöschen wollte. Er plante, mit ihr zu diesem Schloss zu gehen und diesen Mann zu töten. Was war er eigentlich? Ein Magier wie Jusko, ein Konkurrent? Oder etwas anderes?
"Er ist auf dem Weg hierher", plauderte Ivy unbedacht aus und senkte gleich schuldbewusst den Blick. Eigentlich wollte sie ihn nicht verraten, auch wenn ihr sein Schicksal gleichgültig war. Sie musste sich aber eingestehen, dass ihr das herausgerutscht war. "Er kommt, um mich zu retten." Das nicht.
Der Mann nickte verstehend und lächelte dann. "Er wird aber nicht an der verschlossenen Haustür vorbeikommen. Niemand wird das, wenn ich es nicht will."
Ivy seufzte. In all der Zeit, die sie damit zugebracht hatte, sich über Jusko zu ärgern und seine Pläne aufzudecken, hatte sie versäumt darüber nachzudenken, was dieser Mann eigentlich wollte. Im Moment sah es so aus, als wolle er sie hier festhalten.
"Keine Sorge", sagte er mit sanfter Stimme, als hätte er ihre Gedanken gelesen. "Ich sagte bereits, ich habe nicht vor, dich zu verletzen. Du darfst gehen, wenn du willst. Natürlich darfst du auch bei mir bleiben", fügte er charmant lächelnd hinzu, aber in einer Weise, die besagte, dass es nur halbwegs als Scherz gemeint war. Übergangslos wurde er wieder ernst. "Ich werde ihn in Kürze hereinlassen. Leb wohl, kleines Mädchen. Ruf nach mir, wann immer du willst, und ich werde kommen und dich holen. Bis bald."
Er beugte sich vor und streckte eine Hand nach ihr aus.
Mit leichtem Schrecken stellte Ivy fest, dass ihr Schutzfeld nachließ, weil sie nicht genug Übung besaß, um es ständig mit Kraft zu versorgen. Die Fingerspitzen der bleichen Hand drangen durch das luftige Spinnennetz der Barriere und berührten warm ihre Stirn.
Jusko war kurz davor die Nerven zu verlieren. So hilflos hatte er sich seit Jahrzehnten nicht mehr gefüllt, seit damals, als er nur ein schwacher Lehrling mit unausgebildeten Kräften war. Damals hatte er kaum etwas auf die Reihe gekriegt, heute war es wieder so. Als er gesehen hatte, dass das Schloss magisch verschlossen war und er dem nicht beikommen konnte, hatte er versucht, die Fenster im dritten Stock zu öffnen, mit Magie. Keine Chance. Schließlich hatte er sich durch das Gestrüpp gekämpft, um auf der anderen Seite des Gebäudes nach einem zweiten Eingang zu suchen. Vergeblich. Ivjanna und einige andere waren noch da drin, und wenn jemand absichtlich die Tür verschlossen hatte, war das überhaupt nicht gut. Wenn das Mädchen getötet wurde, wären alle seine Pläne zunichte gemacht. Er musste sie um jeden Preis beschützen.
Gerade erreichte Jusko wieder den festen Weg und trat wieder auf die Eingangstür zu. Dies war der schwächste Punkt, der einfachste Weg hinein. Wenn er es hier nicht schaffte, dann nirgendwo. Plötzlich spürte er eine schwache Erschütterung, nicht mehr als ein Ring auf einer spiegelglatten Wasseroberfläche. Ein magischer Ring, dessen Mittelpunkt das Türschloss war. Als der Magier dieses Mal nachsah, war die Tür offen. Sofort stürmte er hinein und erleuchtete seinen Zauberstab. Es war nicht schwer zu erraten, wo die Kinder entlanggegangen waren. Nicht der zarte, kaum wahrnehmbare Blutgeruch gab den Ausschlag, sondern der leblose Körper von Karl, der in einigen Metern Entfernung vor der Biegung des Gangs lag.
Mit einem stummen Fluch auf den Lippen lief Jusko zu ihm. Der Junge war blass und kalt, atmete nicht, hatte keinen Puls. Das bedeutete viel Ärger und eine Menge Lauferei für den Magier. Ganz ausradieren konnte er Karl nicht, aber er konnte seine Eltern beruhigen und die Erinnerungen verdrängen lassen. Niemand würde ihn vermissen und Jusko musste nicht um seine Stelle fürchten.
Nach kurzem Zögern ging der Magier weiter. Vor der Treppe, die in den zweiten Stock führte, fand er den nächsten Körper eines Schützlings und war erleichtert, dass es nicht Ivjanna war. Die Stufen waren schnell erklommen. Oben sah Jusko im Gang die nächste Leiche liegen, doch bevor er sie erreichte, fiel sein Blick durch einen Türrahmen zu seiner linken. Dort lag ein weiterer Toter, doch das war nicht das, was den Magier schockierte. Ivjanna befand sich auch dort.
Schnell lief er zu ihr hin und rüttelte sie. Glücklicherweise schlief sie nur. Sie war unverletzt, aber auch vollkommen schutzlos, wie sie so dalag. Ihre Augen öffneten sich und sie sah sich verwirrt um.
"Ivjanna", sprach Jusko sie an, bevor der Zorn ihn übermannte. "Was fällt dir ein, mir so einen Schrecken einzujagen? Ich dachte schon, du wärst tot!"
Sie setzte sich auf. Kaum hatte sie den Magier erkannt, verfinsterte sich ihr Blick.
Jusko achtete nicht darauf. Er erhob sich gleich wieder. "Komm, wir gehen zurück."
Ihre Augen blickten ihn voller Hass an, was er absolut nicht verstand. Immerhin war er hier, um sie zu retten.
"Jusko, wir müssen reden", sagte sie, während sie ebenfalls aufstand.
"Nicht jetzt", widersprach er sofort. "Wir reden zu Hause über alles."
Er schickte sich an zu gehen, doch Ivjanna hielt ihn zurück, indem sie gleich auf den Punkt kam. "Sagt dir der Name 'Lord Vemzor' etwas?"
Mit einer halben Drehung fuhr er zu ihr herum, warf aber noch einen vielsagenden Blick auf den leblosen Körper in der Blutlache. "Er ist das also gewesen", stellte der Magier fest. "Du hast ihm doch nicht etwa geglaubt?"
Ivjanna verschränkte trotzig die Arme, was ihm sagte, dass genau das geschehen war. Mit einem Mal sah Jusko seine Mission gefährdet. Nur zu gut konnte er sich denken, was Lord Vemzor ihr erzählt hatte.
Er trat zu ihr und packte sie an den Schultern. "Ivjanna, verdammt noch mal. Er ist ein Vampir. Du darfst ihm nicht glauben. Er will einen Keil zwischen uns treiben, siehst du das den nicht?"
Das Mädchen schlug seine Arme weg. Ein sarkastisches Lächeln umspielte ihre Lippen, bevor Ivjanna sich zur Tür wandte. "Das brauchte er gar nicht", sagte sie halblaut zu sich selbst und sprach dann lauter weiter. "Dann stimmt es also nicht, dass du seine Gefährtin getötet hast?"
Eine Leere breitete sich in Jusko aus, als er seine letzte Hoffnung verschwinden sah. Er sah sich selbst im vollen Lauf einen Bahnsteig erreichen, auf dem gerade der letzte Zug in ein sorgenfreies Leben abfuhr. "Doch, das stimmt", gab er kleinlaut zu. "Aber das war auch ein Vampir. Du brauchst sie gar nicht in Schutz zu nehmen. Eines dieser Monster hat deine Kameraden getötet!"
Ivjanna funkelte ihn nur aus zornigen Augen an, bevor sie aus der Tür stürmte. Beizeiten sollte er versuchen, mit ihr zu reden. Sollten sie sich nicht rechtzeitig wieder versöhnen, waren sie alle in großer Gefahr.
"Wein doch nicht", tröstete Jea und nahm Ivy in den Arm.
Ivjanna trocknete kurz die geröteten Augen und lehnte ihre Stirn wieder gegen die Scheibe. Draußen zogen Häuser vorbei, während ihr Atem die Scheibe benebelte und die Sicht verschleierte, doch das störte sie nicht, da sie von der Fahrt nach Hause ohne hin nicht viel mitbekam.
"Kannst du dich denn nicht erinnern?", fragte Ivy schluchzend. "An Karl, Ben, Max und Toni?" Sie wollte eine Antwort hören, die sie wieder aufbaute. Die anderen im Bus waren alle so gut gelaunt wie immer, als wüssten sie von all dem nichts mehr.
"Natürlich kann ich mich an sie erinnern", beruhigte Jea sie. "Sie sind mit dir in das verlassene Haus gegangen, oder nicht?"
Das Problem bestand nicht darin, dass die anderen sich nicht erinnern konnten. Vielmehr hatte Ivy den Eindruck, dass Jusko ihnen den Schmerz und die Trauer genommen hatte. Alle lebten nun in einer Scheinwelt der Freude, die nach und nach verblassen würde, wenn sie nicht mehr nötig war. Alle, bis auf Ivy.
"Lass mich bitte allein", bat sie, worauf Jea verständnisvoll nickte und sich woanders hinsetzte. Ivjanna wollte allein sein mit ihrer Trauer, die wie eine Sturzflut über sie hereingebrochen war, als der Schock der Nacht nachließ. Da brauchte sie Jea mit ihrer Scheinfreude nicht, die alles nur noch schlimmer machte.
"Wir müssen reden", hörte sie plötzlich Juskos Stimme, der sich ungefragt neben sie setzte. Wenn er etwas für wichtig hielt, war ihm die Meinung anderer egal.
"Ich will nicht reden."
"Hör mir doch erst mal zu!", entrüstete sich der Magier. "Und überhaupt verstehe ich nicht, wieso du sauer auf mich bist. Was habe ich dir denn getan?"
Ivy begann zu hicksen, weil sie schon so lange weinte. Wieder trocknete sie ihre Augen und putzte sich die Nase. "Du hast alle verhext und unterdrückst ihre Gefühle."
Er zuckte uninteressiert mit den Schultern. "Na und? Es ist das Beste für alle, und so bleibt der Vorfall geheim. Bei dir hätte ich das auch getan, aber du lässt mich ja nicht."
Das Mädchen dachte wieder an die Nacht zurück. Jusko hatte den schwarzhaarigen Mann, den Vampir, als Monster beschimpft. Ivy aber wusste, wer das wahre Monster war. "Du willst mich benutzen, um die Vampire zu bekämpfen, die sich unsichtbar machen, allen voran Lord Vemzor, das ist doch richtig, oder?"
Sie dachte den Namen und wünschte sich, sie könnte einfach von hier verschwinden. Weg von der falschen Freude und dem falschen Jusko, weg von alledem. Vielleicht in das verlassene Gebäude zu dem Vampir, dem einsamen Lord Vemzor, der sie nicht ausnutzte. Sie musste nur nach ihm rufen, hatte er gesagt, und er würde sie holen.
Nun rief sie in Gedanken. Wie aus weiter Ferne antwortete eine Stimme, die nur sie hören konnte. Er konnte sie sofort holen, wenn sie wollte, doch er wollte warten, bis sich ein günstiger Augenblick ergab. In Kürze fuhren sie unter einer Brücke durch.
"Das ist wahr", gab Jusko zu und biss sich auf die Unterlippe. "Aber da ist noch etwas anderes."
Die Brücke kam näher.
Ivy wurde hellhörig. "Was denn?", fragte sie schnippisch, sah aber enttäuscht, dass der Magier herumdruckste.
"Ich kann es dir nicht sagen", antwortete er schließlich. "Wie wär's, wenn du mir einfach vertraust?"
Ivy lehnte wieder den Kopf gegen die Scheibe und hielt nach der Brücke Ausschau. Auf der, wie ein schlechtes Omen, ein wehender, schwarzer Umhang stand, der zerfleddert und abgetragen aussah. Und auf eine bedrohliche Weise lebendig.
Aus den Augenwinkeln registrierte Ivy, wie Jusko entsetzt aufsprang.
"Verdammt!", zischte er und begann, die Menschen im Bus magisch zu beruhigen. Dann wurde es stockdunkel. Als ein Loch in das Dach des Busses gerissen wurde und die Gestalt zu ihnen hinunterschwebte, sah Jusko, dass Ivy verschwunden war.
(geschrieben: 13.8.2007 - 17.8.2007)