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Weißer Herbsttraum
Mark lag wieder einmal faul, fernsehend und Chips essend zu Hause auf seinem Sofa. Er sah sich zum x-ten male seinen Lieblings Bruce-Willis-Film an und obwohl er ihn schon in- und auswendig kannte, landete eigentlich immer nur dieser Film in seinem Recorder, wenn er mal wieder Lust hatte sich einen Videofilm anzutun (was beinahe täglich der Fall war). Als Mark merkte wie seine Augenlieder immer schwerer wurden und sich aufmachten aufeinander zu fallen, wurde er plötzlich aus seinem Halbschlaf gerissen, als ihm folgende Worte laut hallend in die Ohren drangen: „Oh Mann! Jetzt liegst du schon wieder faul daheim rum und schaust dir diesen Mist an. Bring doch mal deinem Gehirn das Fliegen bei, statt hier immer nur träge vor der Glotze zu gammeln.“
Mark drehte seinen Kopf schräg nach hinten und sah seine Mutter, mit grimmigem Gesicht und drohend das Nudelholz schwingend, hinter ihm stehen. Gerade als Mark etwas sagen wollte, kam seine Mutter auch schon mit einem schnellen Schritt auf ihn zu, packte ihn am Kragen, zerrte ihn auf die Beine und schaltete gleichzeitig mit der anderen Hand den Fernseher aus.
„So! Du gehst jetzt mal ein bisschen nach draußen an die frische Luft! Geh spazieren oder mach sonst irgendwas, aber ich will dich für den Rest des Tages auf keinen Fall mehr vor der Kiste sehen! Ist das klar und deutlich gewesen?“
Mark wusste, dass er den Kürzeren ziehen würde, wenn er sich jetzt auf eine Diskussion einließe, also sagte er nur: „Okay Mum, verstanden“, zog seine Schuhe und seine Jacke an und ging hinaus.
Es war ein angenehmer Herbsttag, es wehte ein laues Lüftchen und am Himmel waren nur vereinzelt kleine Wolken zu sehen. Mark kniff die Augen zusammen, als er in die hoch stehende Mittagssonne sah und machte sich auf den Weg eine Runde im Wald zu spazieren.
Er lief gelangweilt und gedankenverloren den Wanderweg entlang, schaute sich gelegentlich mal hier, mal da um, konnte aber nichts Aufregenderes als einen kaputten Autoreifen finden, welcher in dem linken Weggraben lag und bereits teilweise von gefallenen Herbstblättern bedeckt wurde. Was hatte er schon erwartet? Schließlich war er nicht in einem Bruce-Willis-Film.
Er wandte den Blick von dem Reifen weg wieder nach vorne und es traf ihn wie von einem Blitz.
Mark blieb sofort stehen und starrte mit weit aufgerissenen Augen auf die kleine, einen schmalen Bach überquerende Brücke ca. 20 Meter vor ihm. Es war aber nicht die Brücke die ihn so plötzlich anhalten ließ, sondern eindeutig die Person, welche auf der Brücke stand.
Noch nie hatte er etwas hübscheres, schöneres und anmutigeres gesehen als diese Frau in ihrem langen, schneeweißen Kleid. Er sah wie ihr schulterlanges Haar leicht in dem schwachen Wind hin und her geworfen wurde und wie auf ihrem Gesicht das wunderschönste Lächeln erschien, das er jemals gesehen hatte, als sie ihren Kopf nach rechts drehte und ihn erblickte. Ihre himmelblauen Augen zogen ihn sofort in ihren Bann. Es war als würde die Welt in Zeitlupe ablaufen, als alles um diesen Traum in Weiß sich aufzulösen und vollkommen unbedeutend zu werden schien. Es gab nur noch sie, alles andere war nebensächlich. Mark registrierte nicht was er tat, noch was er dachte und fing an langsam, fast schwebend, wie von einer unsichtbaren, magischen Hand gezogen, auf die Brücke zuzugehen.
Endlos lange schien es ihm, hatte sein Gang gedauert, als er die Brücke erreichte und etwa fünf Meter vor ihr stehen blieb. Mark wagte es nicht näher zu kommen. Er fürchtete sich davor in ihre verführerische Aura zu treten und sie zu vertreiben, diesen Augenblick vielleicht für immer zu zerstören.
Ihre Blicke streiften einander und fixierten sich. Mark schaffte es nicht mehr den Blick von ihrem engelsgleichen Gesicht zu wenden. Die Frau bewegte sich auf ihn zu und hielt kurz vor ihm inne. Fast motorisch, ohne eigenen Willen hob Mark langsam seine rechte Hand, legte sie auf die warme, samtene Wange der Frau und zog sie bedächtig, fast ehrfürchtig, aber völlig außerstande seine Aktion zu unterbinden, zu sich heran.
Er fühlte ein angenehmes Gefühl der Schwerelosigkeit als ihre Lippen sich berührten und anfingen immer fester aneinander zu schmiegen. Welch ein Moment! Welch nie gekannte Freude! Nicht für existierend gehaltene Gefühle und Empfindungen glommen in seiner Brust und explodierten in einem Schwall unermesslichen Glücks. Er wollte sie nie wieder gehen lassen, diesen Moment für immer und ewig konservieren.
So standen sie beide, innig umschlungen und küssend, eine ganze Weile auf der Brücke, als es Mark für kurze Zeit so vorkam, als ob jemand weit entfernt seinen Namen gerufen hätte. Und plötzlich, ohne Vorwarnung und unerbittlich, hörte er es laut und deutlich: „Mark! Wach auf! Es gibt Mittagessen.“
Die Frau verschwand unverzüglich im Nichts. Der Wald, die Brücke, alles um ihn herum wurde von einem grellen weißen Licht ersetzt.
Mark öffnete langsam seine Augen und versuchte festzustellen wo er sich befand. Er lag in seinem Zimmer. Auf dem Fernseher lief langsam vor sich hin der Abspann des Bruce-Willis-Filmes.
Seine Mutter trat neben ihn und sagte erneut, dass es Mittagsessen gäbe. Ohne auf ihre Worte einzugehen, stand er auf, zog seine Schuhe und seine Jacke an und machte sich auf den Weg in den Wald ….
…. zu der Brücke ….
…. zu dem Traum in Weiß ….