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Weißwurst und Bier (Ext. Edition)

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21.04.2004
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Weißwurst und Bier (Ext. Edition)

Hier sitzen wir also, bei Sauerkraut, Weißwurst und Weizen – wie im Fiebertraum eines Goebbels oder Himmlers, der ganzen Nazi-Bagage. Im Biergarten. Unser Territorium ist der Stammtisch! Hitler eine Mücke am Ohr, die traurige Worte sirrt: Die Joden!
Neben mir Hendrik, mein Nachbar von oben, wir beide (er: IT, ich: Consultant) können‘s uns leisten, im gentrifizierten Altbauviertel zu leben. Er hatte dieses Tribal-Tattoo aus den Neunzigern: der Rave-Man! – das haben sie ihm ausgebrannt, oder besser: abgeschleift wie ein Gang-Abzeichen, seinen Hals aufs Motorrad gelegt, dann Gas gegeben, bis die Haut qualmt. Wochenlang in Mull verpackt, jetzt lächelt er. Ein Prosit. Ein Prosit! Er schlürft sein Weißbier … Blickt aber nicht auf. Man sieht die Narbe.
Mein Magen grummelt.
Unter Platanen, im Schatten angenehm kühl. Links palavern Araber, ihre Stühle zu nah an unseren; sie fluchen über die Hitze, trinken Tee, der wie Urin leuchtet. Riecht auch so, Terroristen! Rechts hocken die Neger an ihrer Sitzbank, reden auf reinstem Hochdeutsch über das Wetter und die Wahlen; das dürfen sie, noch, aber es ärgert mich trotzdem. Der Gedanke an diesen Tag als Laura, meine Ex von Anno Dazumal, die ich noch liebe, zu mir herkam, blutend am Kopf, die Treppen hochgestolpert, von unten aus der Einkaufsmeile, die tagsüber zu laut und nachts zu grell ist, dass man die Vorhänge zuziehen muss, ein KIK, ein FOOTLOCKER, ein MCDONALDs, schreiende Leuchtbuchstaben – wo zwei oder drei Dunkelhäutige ihr die Dreadlocks ausgerupft haben wie Federn. Menschen von Farbe … Tja.
»Früher war’s irgendwie besser …«, meine ich.
»Doppelplusgut, was?« Hendrik zögert, ehe er das Glas hebt.
»Ha! Gesichtserker und Weltnetz.«
»Wusstest du, dass Historiker –«
Brausend senkt sich eine Polizeidrohne zu uns herab, meldet: »Laut Gesprächsprotokoll wurde ein verbotenes Wort benutzt, das im Paragraphen …«
Ich zücke mein Smartphone und zahle per QR-Code. »Hm?«, frage ich unbestimmt.
»Graubrot«, erklärt er, »das gab’s schon bei den Kelten.«
»Gottlob! Vom Sauerkraut kriege ich Durchfall, ständig.«
Wir stoßen an.
»Dafür werden jetzt Kartoffeln verboten … Tomaten auch. Ab nächster Woche nur noch Rüben für uns.« Er lacht heiser auf!
»Was?«, rufe ich. »Es gibt doch nichts Deutscheres als die.«
»Hat Kolumbus von den Indianern mitgebracht.«
Ich höre erneut die Drohne sirren. »Ach, verdammt.«
»Tja«, grient er mich an. »Wir leben in verrückten Zeiten.«


Sie bekommen eine Geldstrafe von einem Credit, wegen Verstoßes gegen das verbale Moralitätsstatut!
— Demolition Man, Film (1993)


Kulturelle Aneignung ist Grundlage jeder Zivilisation.
— Rüdiger Schaper

FIN​

 

Webby hatte mir - zu Recht - die erste Version wegen Kürze und Unausgewogenheit gekillt. Hier die neue Version.

 
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Moin Morphin,

jau, auf den ersten Blick ist/wirkt der Text recht schlampig und "holzhammerisch"^^; das ist eben genau diese vordergründige Provokation, die ein solches Reizthema - hier: "Cultural appropriation" mit sich bringt. Als Autor weiß man schon vorher, dass man Prügel beziehen wird ... :D Deshalb will ich auch nicht mehr Zeit investieren, das Teil sauber ans Laufen zu kriegen - und weil ich nicht mehr Zeit investiere, ist der Text halt so schlampig gemacht. :D Da beißt sich die Schlange in den Schwanz^^. Aber auch, weil das Thema schon an anderer Stelle "totgekämpft" worden ist ...

ABER! Der Text enthält viele "Sprunganker" zu den Verwerfungen, die eine - meiner Meinung nach - völlig überzogen angewandte Kritisierung von Personen nach sich zieht, die Mode, Riten, Lebensweisen usw. anderer "Völker" übernommen haben - oft aus Bewunderung heraus; weil man es schön findet. Oder auch: "Ein Plagiat ist die höchste Form der Anerkennung." Die Übernahme von fremder Kultur in den eigenen Kulturkreis ist, meiner Meinung nach, etwas Gutes. Kultureller Austausch, wie im Zitat unten, bringt die Zivilisation voran, ermöglicht sie evtl. sogar erst.

Allein, dass man jetzt wieder mit dem Völkerbegriff arbeiten muss, zeigt eigentlich die reaktionäre Denkweise, die längst überwunden schien. Jetzt macht man sich wieder Gedanken, ob "Weiße" überhaupt "Dread Locks" tragen dürfen - oder Tribal-Tattoos.

Ich habe in meinem Schlaglicht einfach diese Zutaten genommen und in ein knappes Szenario gegossen. Die beiden Protagonisten müssen sich - so wie ich - tatsächlich wieder Gedanken übers "Deutschsein" machen, über die eigene "Kultur". So was im 21ten Jahrhundert.

Aktuell sind die Zeitungen voller Artikel, in denen z.B. Rednerinnen von Veranstaltungen ausgeschlossen werden, weil sie eben Dread Locks tragen. Von Leuten, die meinen, dass wir "ihre Tattoos" nicht verdient haben, wir alten Kolonialherrscher. Man kommt aus dem Kopfschütteln nicht mehr heraus - und deshalb habe ich diesen Text, wohl mehr für mich als für euch, geschrieben.

Trotzdem halte ich ihn für lesenswert, sonst hätte ich ihn nicht erneut gepostet ... und ich finde ihn auch lustig; ich habe die letzten Tage immer wieder dran denken müssen und geschmunzelt, weil er so schön grotesk ist. Dort hocken jetzt wieder alle in ihrer eigenen Kulturblase und hassen sich gegenseitig. Super Zukunft! :D

Und nein, ich habe noch keine felsenfeste Meinung zu den aktuellen Debatten. Ich versuche, mir nur ein Bild zu machen, sehe aber auch eine ganze Reihe an Gefahren, die unreflektierter Aktionsmus mit sich bringt.

Nun ja.

 

Hey Morphin,

für mich sind diese "Sprach-Aufräumarbeiten" ein Teil der ganzen "Cancel Culture", unter die auch diese "Cultural appropriation"-Diskussion fällt. Das mag Auslegungssache sein ... Letztlich geht es ja darum, neue Denk-, Sprech- und Verhaltensweisen zu diktieren, um die Gesellschaft von ihren "Altlasten" zu befreien ... Weder "Neger" noch "Indianer" sind für mich beleidigende Schimpfworte, sondern Anachronismen. Und nur weil sich irgendwer irgendwo irgendwie möglichweise davon beleidigt fühlen könnte, wäre das für mich kein Grund, sie ganz aus der Sprache zu verbannen. (Wobei "Neger" nun wahrlich in die Mottenkiste gehört und dort auch liegenbleiben kann; aber ich würde nicht soweit gehen, in ein bestehendes Werk einzugreifen - da hat man auch ganz schnell "Moby Dick" verhunzt^^.) Aber gut. Alles persönliche Ansichten und schon zu weit von der eigentlichen "Story" entfernt.

In die Sprache aktiv einzugreifen, ist immer heikel. Ich habe das kurz angerissen mit dem "Doppelplusgut" und dem "Gesichtserker" und dem "Weltnetz", was dann wieder auf rechtsradikale Denke bzw. "Denkwelten" abzielt, aber auch ironisch durchbrochen sein kann - wie z.B. bei einer recht aktuellen Liste im "Der Postillon", der u.a. französische Worte wieder eindeutscht; was zum Schreien komisch ist ... ;)

also ... was ich in 22 Jahren kurzgeschichten.de/wortkrieger.de unter anderem gelernt habe, ist, dass wenn ich meinen Text erklären muss, er noch nicht ganz sauber ausgearbeitet ist.
Da ist wahrlich was dran.

Grüße!

 

NAbend Morphin,

vielen Dank für deine Gedanken und Argumente. :) Ich kann sie natürlich nachvollziehen, ich sperre mich auch nicht gegen eine gewisse - nun - "Sensibilität" im Umgang mit Worten.

Aber - Sprunganker - hängt an allen Worten eben eine Kette aus tatsächlichen Ereignissen, die ich nur bedingt so akzeptiere. Beispielsweise die Rede von "Bettina Jarasch", die, Zitat, "auf dem Grünen-Parteitag von Landesparteichef Werner Graf gefragt [wurde], was sie als Kind gern geworden wäre. Jarasch antwortete demnach mit „Indianerhäuptling.“ (21.3.2021)

Das war also nicht abwertend, sondern wertschätzend gemeint. Trotzdem musste sie sich öffentlich entschuldigen ... als wäre "im Wort selbst" schon eine Diskriminerung inhärent. Und das finde ich gefährlich.

Zurück zu meiner Story, die unter diesen Gedanken wohl komplett zusammenbrechen würde^^: Hier werden die Begriffe aus Trotz verwendet. Ob das auch für den Autor gilt, sei der Interpretation überlassen ... ;)

 
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Wenn du dich in deinem Text auskotzt, hat er nur eine Wirkung: bestätigt entweder die eine oder die andere Seite, klärt aber nichts.
Richtig. Was die Frage aufwirft, ob man zu diesem Thema einen Text schreiben kann, der beide "Fronten" versöhnt: Der sauber recherchiert und gut gemacht ist - und auch eine konstruktive Wirkung erzielt. Oder aber^^:
Das heißt, überall stehen heiße Suppentöpfe, Tretminen, die jederzeit überkochen und hochgehen können, egal in welche Richtung, egal aus welcher Richtung.
Man man vorne herein "auf verlorenem Posten kämpft". (Die martialische Wortwahl ist gewollt und soll einen satirischen Charakter haben.^^)

Der Dante.

 

Hallo Dante.
Ich bin einigermaßen verwirrt, da ich die Story nur mit Mühe unter dem Oberbegriff
Science Fiction einordnen kann. Eure Diskussion entzündet sich in großen Teilen an "political
corectness u.ä.

... Beispielsweise die Rede von "Bettina Jarasch", die, Zitat, "auf dem Grünen-Parteitag von Landesparteichef Werner Graf gefragt [wurde], was sie als Kind gern geworden wäre. Jarasch antwortete demnach mit „Indianerhäuptling.“ (21.3.2021)
Fand ich auch bescheuert.

Was man als SF Element ansehen könnte, sind natürlich die Drohnen, die sozusagen akustische Strafzettel verteilen. Gute Idee, wie ich finde. Allerdings haben sie in China vor einiger Zeit Verstöße gegen Lockdowns auf die Art bekämpft.

Ebenso gefällt mir der Humor, der hin und wieder aufblitzt. Schwarz, aber gut.

eine Mücke am Ohr, die traurige Worte sirrt: Die Joden!
Der Text lässt sich gut weglesen, ist aber wirklich zu kurz. Du schreibst, die erste Version sei
noch kürzer gewesen. 5 Sätze und Schluss?
Noch 'ne Kleinigkeit:
... man die Vorgänge zuziehen ...
Soll vermutlich Vorhänge heißen.
Schöne Grüße
Harry

 
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„Die Sprache ist die Mutter, nicht die Magd des Gedankens.“ Karl Kraus

Jetzt kommt auch noch’n „Karl Kraus-Verehrer“ , aber Ordnung muss sein und damit zunächst mal nur für zwo Hinweise,

lieber Dante,

wie hier

Hier sitzen wir also, bei Sauerkraut, Weißwurst und Weizen – wie im Fiebertraum eines Goebbels oder Himmler, der ganzen Nazi-Bagage.
Komma weg ( „… also bei …“) und wie der Goebbels (aber auch nur scheinbar) gebührt dem Himmler ein Genitiv -s („eines … Himmlers“).

Zitierung erklärt sich wahrscheinlich schon beim Draufschauen

»Wusstest du, dass Historiker–«

Um auch mal zwo, drei Worte zum Sprachgebrauch und -wandel zu sagen, „gerechte“ Sprache wüsst ich gar nicht, was das sein soll, erweitert zum „kindgerecht“ wäre da zB präziser (etwa Bibelstellen kindergartengerecht aufzuarbeiten, dass die lieben Kleinen auch verstehen, was da passiert, wenn etwa ein Sohn von Papa Noah verflucht wird, weil er den entblößten, schlafenden Vater gesehen hat – was dann gleich noch ein bisschen historischen Hintergrund liefert). Zur Kenntnis nehmen muss man aber auch, dass etwa der Simplizissismus (Grimmelshausen, Mitte 17. Jh.) von den wenigsten noch im Original gelesen werden wann - von Walter oder Wolfram schon gar nicht zu reden ...

Dabei fällt mir Wilfried ein aus Ostafrika, der 2014/5 mit der großen Welle in unsere schöne Republik kam und vor dem Schild „Gehweg“ verunsichert stand ... und fast wieder gegangen wäre ...

Friedel

Nachtrag: Gerade ist mir Kabale und Liebe eingefallen. Vielleicht fragt man sich da unwillkürlich: Na und? Da hat Schiller - m. W. als erster - sowas wie gegendert: Frau Luise Miller wird dort zur "Millerin".

 

Ja, okay! [hier einen weiteren Kommentar hinterlassen, der mich in der Hölle schmoren lässt^^] Danke für eure Rückmeldungen. <3

Dante

 

Hej @Dante

Hätte ein gute Text werden können, wirklich! Weil das Thema einiges hergibt.

Das Skizzenhafte, die fehlende Fallhöhe, die angedeuteten Charaktere, auch die fehlende Interaktion zwischen den beiden Hauptfiguren und ihrer Umgebung, sorgen letztlich dafür, dass der Text kaum mehr leistet, als ein Sammelsurium von Aussagen, die dem Framing des in der Öffentlichkeit Sagbaren eigene Frames entgegensetzen, die


Hier sitzen wir also, bei Sauerkraut, Weißwurst und Weizen – wie im Fiebertraum eines Goebbels oder Himmlers, der ganzen Nazi-Bagage. Im Biergarten. Unser Territorium ist der Stammtisch! Hitler eine Mücke am Ohr, die traurige Worte sirrt: Die Joden!
wie in diesem Fall völlig aus der Luft gegriffen und wenig griffig, nicht einmal luschdig sind.
He: wie kommen die auf die Nazis? Wenn die Jodeln würden und daraus ein Wortspiel entstünde wär's auch nicht besser, aber wenigstens skurril.
Links palavern Araber, ihre Stühle zu nah an unseren; sie fluchen über die Hitze, trinken Tee, der wie Urin leuchtet. Riecht auch so, Terroristen! Rechts hocken die Neger an ihrer Sitzbank, reden auf reinstem Hochdeutsch über das Wetter und die Wahlen; das dürfen sie, noch, aber es ärgert mich trotzdem.
na ja, normalerweise sind die Gentrifizierten ziemlich mulitikulti gesinnt.
Brausend senkt sich eine Polizeidrohne zu uns herab, meldet: »Laut Gesprächsprotokoll wurde ein verbotenes Wort benutzt, das im Paragraphen …«
Das ist bei weitem der feinste Twist, aber da machst du nichts draus.
für mich sind diese "Sprach-Aufräumarbeiten" ein Teil der ganzen "Cancel Culture", unter die auch diese "Cultural appropriation"-Diskussion fällt. Das mag Auslegungssache sein ... Letztlich geht es ja darum, neue Denk-, Sprech- und Verhaltensweisen zu diktieren, um die Gesellschaft von ihren "Altlasten" zu befreien ...
siehe oben, um zu illustrieren, was du ausdrücken möchtest, braucht es mehr, da reicht nicht die Andeutung einer Kurzgeschichte.

Viele Grüße aus dem gänzlich gentrifizierten Speckgürtel der Bembel- und SGE-Stadt sendet
Isegrims

 

Hey @Isegrims,

jau, ich gelobe Besserung. Allerdings nicht mit diesem Thema, sondern ich kehre grade zu meinen Wurzeln zurück und schreibe klassischen Cyberpunk. Bleib bei deinen Leisten! :D
Danke für's Lesen und Kommentieren. :)

Der Dante

 

Hallo @alli.
Habe deinen Kommentar mit Genuss gelesen ... Vielen Dank dafür.

Es gibt einen aktuellen - sehr ausgewogenen - Artikel in der republik.ch, den ich hiermit empfehlen möchte:
"Was Sie wissen sollten, bevor Sie sich über kulturelle Aneignung aufregen". Gönnt euch.

Reingehauen.

Dante

 

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