Nabend @Dante,
puh, also da ist eine Menge drin im letzten Kommentar. Zunächst würde ich sagen, gehört das darüber reden zu deinem Text, denn er beinhaltet ja die 'sich verändernde Sprache' als Thema. Zum anderen sind wir ja ein Literaturforum; wer, wenn nicht wir, sollte anhand eines Textes, seiner Aussagen bzw. der Aussagen in den Kommentaren des Autors darüber diskutieren. Ja, natürlich noch viele andere. Ich kenne einen ehemaligen Mitarbeiter des Institutes der Deutschen Sprache ganz gut, stehe regelmäßig mit ihm in Kontakt. Auch dort wird sehr breit, lange und intensiv darüber diskutiert; wie fast überall.
Ich möchte erst mal berichten, was mir im Laufe meiner Lebenszeit begegnete. Noch sehr deutlich steht mir das Jahr 1977 in Erinnerung, in North-Carolina, der Kumpel meines Onkels. Mein Onkel stellte ihn als seinen 'Indianer-Freund' vor (sie waren zusammen in Vietnam). Aber er sagte am Barbeque-Abend, spät, als nur noch meine Cousine, er und seine Frau am Tisch saßen, er wäre ein Cherokee. Seine Vietnam-Kumpel dürften 'Indianer' sagen. Aber er sei nun mal nicht identisch mit den tausend anderen Stämmen, sondern ein Cherokee. Es war für ihn eine Frage des Stolzes und ich war vierzehn.
1991 war ich wieder dort drüben. Colorado, Wyoming, South-Dakota. Dort habe ich im Laufe der Wochen eine Menge Aluhüttendörfer in der Pampa gesehen, völlig vermüllt, mit betrunkenen und verwahrlosten Menschen. In Lander, WY, saß ich morgens nach dem Einkauf in einer Kneipe neben zwei Ureinwohnern, die völlig betrunken waren. Ein Gespräch war kaum möglich, aber sie sprachen mich an, weil sie hörten, dass ich nicht aus den USA komme. Es waren Sioux der Oglala-Stämme. Das war für sie wichtig. Trotz arbeitslos und warum auch immer keine Perspektive (ein Ranger erklärte mir später, sie säßen nur rum, tränken und täten nichts). Die Bezeichnung jedenfalls war ihnen wichtig.
In Denver traf ich eines Tages kurz vor Mitternacht ein, fand kein Hotel mehr und wollte schon draußen übernachten, als zwei schwarze Frauen mich in eine Kneipe voller Schwarzer mitnahmen. Als naives deutsches Weißbrot kam ich mir schon reichlich seltsam vor, aber reden half, mich denen um mich herum zu nähern - okay, und Alkohol. Bis ein Trupp Polizisten das Lokal mitten in der Nacht stürmte und ich in meinem Dunst dutzende Male verächtlich das Wort 'Nigger' hörte, ne Menge abgeführt wurden und man mich belächelte und auf die Straße setzte. Die beiden Frauen jedenfalls sagten deutlich: we are black people.
Ich erinnere mich an meine Großmutter, die Frau vom Nazi-Mann. Sie war bis zu ihrem Ende im Geiste beim BDM. Für sie waren schwarze Menschen Neger, die mit den langen Nasen Juden, die Zigeuner klauten alles, was nicht niet- und nagelfest war und da gab es noch etliche Worte für den nichtarischen Teil der Menschheit. Das war in den 60ern, 70ern, 80ern, dann starb sie. Ihre Worte haben sich bei ihren Kindern fortgepflanzt und auch die Bilder, die mit diesen Worten verknüpft waren.
Die Bilder, die von Worten transportiert werden und vielleicht nicht von @Dante so verstanden, aber von vielen anderen immer noch.
Als ich über meinen Nazi-Opa die ganzen Fakten ausgrub und eines Tages öffentlich präsentierte, bekam ich Zuspruch - und es hagelte Hass. Briefe, Postkarten, die Neger und Juden, die Zigeuner, leider nicht alle erwischt, der Untergang des Abendlandes, ich Verräter, Familienschande. Langsam wurde mir bewusst, dass, wenn ich diese Worte ebenfalls benutze, ich mich nicht vom Transport der darin versteckten Botschaften und Bilder trennen kann, sie also - trotz anderer Gesinnung - ebenfalls transportiere. Denn ich kann nicht sagen: Ich sage Neger, meine es aber anders ... das würde zu einer Relativierung führen und den Leuten, die es noch so meinen, eine Möglichkeit des Ausweges schaffen. Genau das finden wir heute ja sehr oft (Gauland > Boris Beckers Sohn oder der Fußballspieler); also das Wort sagen (damit wird es in Erinnerung gerufen, die Botschaft transportiert) und dann wird zurückgerudert und relativiert.
Als Landwirt habe ich im Winter oft Autos oder Anhänger aus Gräben gezogen, besonders auf dem Weg zum Sinti- und Roma-Parkplatz sind oft Wohnanhänger in den Graben gerutscht (Schnee, Glatteis), und sie baten mich, ihnen zu helfen. Dann gab es Tee, Kaffee, Kekse im Anhänger - und Musik. Sie sagten immer Sinti und Roma und deren Derivate. Ich dachte im Kopf immer das Wort Zigeuner, aber so nannten sie sich nicht. Kein einziges Mal. Es mag welche geben, die das tun, aber es ist nicht die Mehrheit. Es gibt auch den berühmten schwarzen Koch in Hamburg, dem es nix ausmacht, Neger genannt zu werden (und der natürlich von Poschards und BILD und dergleichen immer ausgegraben wird), aber es ist nicht die Mehrheit.
Im Übrigen hat man sich darauf geeinigt - und das wird auch so praktiziert - dass bspw. alte Filme aus den 60ern oder 70ern mit einem Vortext versehen werden, der in etwa so geht: In diesem Film werden Worte verwendet, die in ihrer Zeit Usus waren, aber dies und das Klischee enthalten, von den angesprochenen Menschen in der Mehrheit nicht akzeptiert werden usw. usf.
Das heißt, Film oder Buch werden durch einen solchen Hinweis in einen Kontext gestellt. Du liest das Buch, findest es gut (oder schlecht), und dir ist bewusst, dass es aus einer Zeit x ist und diese Worte dies und das bedeuten. Das nennt man einordnen. Den Menschen wird durch eine darauf bedachte Sprache die Möglichkeit gegeben, Begriffe einzuordnen IN ihre Zeit. Und das ist ein Teil von Bewusstmachung.
Und jetzt kommen wir zum Punkt: Menschen, die solche Worte benutzen, um auszugrenzen, herabzusetzen, zu entwürdigen, benutzen diese Worte BEWUSST. Und genau DESWEGEN nehmen die anderen Menschen, die das NICHT wollen, diese Worte a) bewusst heraus oder setzen sie BEWUSST in einen Kontext.
Ein anderer Punkt kommt noch erschwerend hinzu. Das Bewusstsein für Sprache, das Bewusstsein, WER zu sein in dieser Welt, wurde durch das Internet extrem befördert. Immer mehr Menschen spüren und erfahren, dass sie eine Familie sind, auf einer Welt, und dass Sprache eines der Mittel war, dies zu verhindern, zu trennen, genau durch solche Kategorisierung. Es ist nicht mehr nur den Sinti und Roma um die Ecke bewusst, sondern allen. Und allen Schwarzen. Und allen Ureinwohnern in Südamerika. Und genau deswegen beginnt Sprache sich zu verändern, um genau diese alten Kategorisierungen, Ausgrenzungsmethoden und -begrifflichkeiten zu beseitigen. Und genau DAS fürchten die Ewiggestrigen, die Besitzstandswahrer. Egal ob verkappte Ariernachfolger, Neoliberale, religiöse Fanatiker oder Faschisten aller Art. Sprache ist das Wahl der Mittel, um zu trennen, zu separieren.
Deswegen muss diese Sprache, müssen diese Worte erkannt und ertappt werden, um sie - wie ich es am besten finde - in einen Kontext zu stellen, WENN ich sie benutze. Und genau DAS ist meine Verantwortung als Autor oder Autorin. So wie du es argumentierst, schiebst du all die Entwicklungen einfach beiseite und sagst: Also ICH beleidige niemanden. Aber du bist eben nicht alleine auf diesem Planeten.
Grüße
Morphin