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Weihnachtslüge
„Weih-nachts-lüge, Weih-nachts-lüge, Weih-nachts-lüge …“
Der Sprechchor hallt durch die Gassen der Innenstadt, untermalt von dumpfem Trommelschlag. Demonstranten wälzen sich vorwärts, ausnahmslos jeder in grinchiges Grün gehüllt. Mützen, Schals, selbstgestrickte Pullover verziert mit Weihnachtsmann-, Elfen- und Rentierkarikaturen. Transparente ragen in die kalte Dezemberluft, darauf krakelige Parolen, mit Filzstiften geschrieben. „Weihnachten – missachten!“ „X-mas für X-ioten“ …
Ihr Ziel ist der Marktplatz, wo der Feind bereits zugange ist – früher als sonst, wie jedes Jahr – mit seinem ekelerregenden Glühwein, der klebrigen Zuckerwatte und gebrannten Mandeln die harmlosen, aber dummen Schlafschafe zu bestechen und auf seine Seite zu ziehen.
Vor der Weihnachtstanne – über und über behängt mit Kugeln, Lichtern und falscher Besinnlichkeit – kommt der Zug zum Stillstand. Die Demonstranten formieren sich um sie herum, als wollten sie einen Bannkreis bilden. Jemand stolpert über ein Kabel, eine Lichterkette flackert kurz
Herr Barth, einer der Initiatoren der Demonstration, ergreift das Mikrofon, steigt auf ein wackliges Behelfspodest aus Europaletten, zieht die grüne Jacke glatt und lässt den Blick über die Menge schweifen. Seine Augen glänzen – vor Wut, vor Erregung oder beidem.
„Liebe Freunde, liebe Wahrheitssucher, liebe Leute, die WhatsApp-Nachrichten mehr vertrauen als der Lügenpresse“, beginnt er.
Zustimmendes Gemurmel, vereinzeltes Klatschen.
Barth räuspert sich, holt tief Luft, als müsse er gleich unter Wasser sprechen, und fährt fort:
„Wir stehen hier, weil wir uns nicht länger belügen lassen! Jahr für Jahr um diese Zeit, liebe Freunde, will man uns weismachen, es gäbe den Weihnachtsmann.“
Empörtes Raunen.
„Man fährt abertausende von Schokoladenweihnachtsmännern auf, berieselt uns mit Weihnachtsfilmen, in denen er fröhlich durch Schornsteine rauscht, unterzieht unsere Kinder einer Gehirnwäsche, zwingt sie dazu, Wunschzettel zu schreiben! Ist das noch mit unserem Grundgesetz vereinbar?“
Er macht eine wohlberechnete Pause. Buh-Rufe, Pfiffe und Beifallsbekundungen branden auf, einige schütteln die Fäuste.
Bestärkt fährt er fort: „Aber, liebe Freunde, wir kennen doch keinen, wirklich keinen, der den echten Weihnachtsmann je gesehen hat. Und ich frage euch: Wie kann etwas existieren, das man nicht sehen kann? Ich sehe ihn nicht, ihr seht ihn nicht. Ich sehe übrigens auch die Ursachen für meine Mietpreiserhöhung nicht – aber das ist eine andere Geschichte.“
Gelächter in der Menge.
Barth wartet, bis Ruhe einkehrt. Dann hebt er die Stimme. Sie wird schneidend, kämpferisch: „Alles, was wir sehen, sind die da oben, die uns verdummen wollen!“ Er reckt die Faust in den glühweinduftgeschwängerten Himmel. „Wir aber, liebe Freunde, wir lassen uns nicht verarschen. ‚Er wohnt am Nordpol‘, sagen manche‚ ‚und was ist mit den Geschenken unter dem Weihnachtsbaum?‘ Ich bitte euch!“
Er schnaubt verächtlich. „Wir dürfen uns nicht von sogenannten Fakten blenden lassen. Fakten sind schließlich nur Meinungen von Leuten, die viel gelesen haben. Und ich sage: Nur wer nicht liest, lässt sich nicht beeinflussen!“
Tosender Applaus.
„Deshalb lasst uns heute ein Zeichen setzen. Wir sind hier, weil wir die Wahrheit kennen. Und wenn wir die Wahrheit nicht kennen, dann erfinden wir sie eben! Im Kampf für die Wahrheit, gegen die Lüge: Es gibt keinen Weihnachtsmann!“
Den letzten Satz schreit er heraus, so laut er kann. Die Menge greift ihn gierig auf, vielstimmig, triumphierend:
„Es gibt keinen Weihnachtsmann! Es gibt keinen Weihnachtsmann!“
„Ho, ho, hoooo!“, dröhnt es da von oben.
Für einen Sekundenbruchteil ist es still. Dann saust ein von Rentieren gezogener Schlitten mit wildem Schellengetöse heran. Ein weißbärtiger Hüne im roten Mantel hält die Zügel und lacht, dass es wie Donner klingt.
„Ho, ho, hoooo!“
Der Schlitten pflügt über die Köpfe der Demonstranten hinweg, dreht Spiralen, Schleifen und waghalsige Loopings.
Panik bricht aus. Transparente fallen, grüne Mützen fliegen. Der Schlitten nimmt erneut Kurs auf Herrn Barth und seine Schar. Die Masse zerstiebt in alle Himmelsrichtungen, stolpert, rennt, verschwindet in den Gassen.
„Ho, ho, hoooo!“
Ich meinte eigentlich grinchig – abgeleitet vom Weihnachtsgrinch, der ja traditionell grün ist. Muss ich ändern.