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Weihnachtslüge

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03.08.2003
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Weihnachtslüge

„Weih-nachts-lüge, Weih-nachts-lüge, Weih-nachts-lüge …“

Der Sprechchor hallt durch die Gassen der Innenstadt, untermalt von dumpfem Trommelschlag. Demonstranten wälzen sich vorwärts, ausnahmslos jeder in grinchiges Grün gehüllt. Mützen, Schals, selbstgestrickte Pullover verziert mit Weihnachtsmann-, Elfen- und Rentierkarikaturen. Transparente ragen in die kalte Dezemberluft, darauf krakelige Parolen, mit Filzstiften geschrieben. „Weihnachten – missachten!“ „X-mas für X-ioten“ …
Ihr Ziel ist der Marktplatz, wo der Feind bereits zugange ist – früher als sonst, wie jedes Jahr – mit seinem ekelerregenden Glühwein, der klebrigen Zuckerwatte und gebrannten Mandeln die harmlosen, aber dummen Schlafschafe zu bestechen und auf seine Seite zu ziehen.
Vor der Weihnachtstanne – über und über behängt mit Kugeln, Lichtern und falscher Besinnlichkeit – kommt der Zug zum Stillstand. Die Demonstranten formieren sich um sie herum, als wollten sie einen Bannkreis bilden. Jemand stolpert über ein Kabel, eine Lichterkette flackert kurz

Herr Barth, einer der Initiatoren der Demonstration, ergreift das Mikrofon, steigt auf ein wackliges Behelfspodest aus Europaletten, zieht die grüne Jacke glatt und lässt den Blick über die Menge schweifen. Seine Augen glänzen – vor Wut, vor Erregung oder beidem.
„Liebe Freunde, liebe Wahrheitssucher, liebe Leute, die WhatsApp-Nachrichten mehr vertrauen als der Lügenpresse“, beginnt er.
Zustimmendes Gemurmel, vereinzeltes Klatschen.
Barth räuspert sich, holt tief Luft, als müsse er gleich unter Wasser sprechen, und fährt fort:
„Wir stehen hier, weil wir uns nicht länger belügen lassen! Jahr für Jahr um diese Zeit, liebe Freunde, will man uns weismachen, es gäbe den Weihnachtsmann.“
Empörtes Raunen.
„Man fährt abertausende von Schokoladenweihnachtsmännern auf, berieselt uns mit Weihnachtsfilmen, in denen er fröhlich durch Schornsteine rauscht, unterzieht unsere Kinder einer Gehirnwäsche, zwingt sie dazu, Wunschzettel zu schreiben! Ist das noch mit unserem Grundgesetz vereinbar?“
Er macht eine wohlberechnete Pause. Buh-Rufe, Pfiffe und Beifallsbekundungen branden auf, einige schütteln die Fäuste.
Bestärkt fährt er fort: „Aber, liebe Freunde, wir kennen doch keinen, wirklich keinen, der den echten Weihnachtsmann je gesehen hat. Und ich frage euch: Wie kann etwas existieren, das man nicht sehen kann? Ich sehe ihn nicht, ihr seht ihn nicht. Ich sehe übrigens auch die Ursachen für meine Mietpreiserhöhung nicht – aber das ist eine andere Geschichte.“
Gelächter in der Menge.
Barth wartet, bis Ruhe einkehrt. Dann hebt er die Stimme. Sie wird schneidend, kämpferisch: „Alles, was wir sehen, sind die da oben, die uns verdummen wollen!“ Er reckt die Faust in den glühweinduftgeschwängerten Himmel. „Wir aber, liebe Freunde, wir lassen uns nicht verarschen. ‚Er wohnt am Nordpol‘, sagen manche‚ ‚und was ist mit den Geschenken unter dem Weihnachtsbaum?‘ Ich bitte euch!“
Er schnaubt verächtlich. „Wir dürfen uns nicht von sogenannten Fakten blenden lassen. Fakten sind schließlich nur Meinungen von Leuten, die viel gelesen haben. Und ich sage: Nur wer nicht liest, lässt sich nicht beeinflussen!“
Tosender Applaus.
„Deshalb lasst uns heute ein Zeichen setzen. Wir sind hier, weil wir die Wahrheit kennen. Und wenn wir die Wahrheit nicht kennen, dann erfinden wir sie eben! Im Kampf für die Wahrheit, gegen die Lüge: Es gibt keinen Weihnachtsmann!“
Den letzten Satz schreit er heraus, so laut er kann. Die Menge greift ihn gierig auf, vielstimmig, triumphierend:
„Es gibt keinen Weihnachtsmann! Es gibt keinen Weihnachtsmann!“

„Ho, ho, hoooo!“, dröhnt es da von oben.

Für einen Sekundenbruchteil ist es still. Dann saust ein von Rentieren gezogener Schlitten mit wildem Schellengetöse heran. Ein weißbärtiger Hüne im roten Mantel hält die Zügel und lacht, dass es wie Donner klingt.

„Ho, ho, hoooo!“

Der Schlitten pflügt über die Köpfe der Demonstranten hinweg, dreht Spiralen, Schleifen und waghalsige Loopings.
Panik bricht aus. Transparente fallen, grüne Mützen fliegen. Der Schlitten nimmt erneut Kurs auf Herrn Barth und seine Schar. Die Masse zerstiebt in alle Himmelsrichtungen, stolpert, rennt, verschwindet in den Gassen.

„Ho, ho, hoooo!“

 

Hallo @Sturek

Und noch eine Weihnachtsgeschichte! Diesmal als bissige Satire auf die Querdenker-Szene.

Und ehrlich gesagt: Wenn es jemand verdient hat, vorgeführt zu werden, dann diese Figuren!

Die größte Stärke liegt für mich im zielgerichteten Spott auf Verschwörungsdenken und Populismus.
Da findest du gute Bilder und die effekthaschende Sprache des Redners ist authentisch. Es ist ja auch nicht schwer derartig dumme und reduzierte Dialoge zu kopieren.
Schwieriger ist es wohl, sich in einen solchen Wirrkopf hinein zu denken. Das sind sicherlich Widerstände, die man da als Autor überwinden muss. Insofern hast du das sehr gut formuliert.

Die Pointe handelst du allerdings etwas zu knapp ab. Da hätte ich mir ein wenig Vertiefung gewünscht. Aber dazu komme ich noch.

… ausnahmslos jeder in crinchiges Grün gehüllt – als hätten missgelaunte Weihnachtsbäume beschlossen, auf die Straße zu gehen.
Die bewusste Jugendsprache („crinchiges“) finde ich sehr passend und ironisch.

Harmlos wirkende Buden, doch für die Demonstranten sind sie nichts anderes als Vorposten eines Systems, das die harmlosen, aber dummen Schlafschafe mit Zimt und Nelken gefügig macht.

Finde ich auch stark. Zeigt die paranoide Wahrnehmen und Realitätsverzerrung der Gruppe.

Liebe Freunde, liebe Wahrheitssucher, liebe Leute, die WhatsApp-Nachrichten mehr vertrauen als der Lügenpresse

Die Ironie ist hier sehr schön eingeflochten.

Fakten sind schließlich nur Meinungen von Leuten, die viel gelesen haben. Und ich sage: Nur wer nicht liest, lässt sich nicht beeinflussen!

Das ist einer der stärksten Sätze des Textes. Antiintellektualismus der feinsten Art! Und man wünscht sich wirklich, dass so etwas nur erfunden wäre.

Für einen Sekundenbruchteil ist es still. Dann saust ein von Rentieren gezogener Schlitten mit wildem Schellengetöse heran.
Ho, ho, hoooo!

Die Pointe ist dann klar, fast zu klar: Die Wahrheit fällt buchstäblich vom Himmel. Das ist witzig, aber nicht ganz auserzählt. Du blendest nämlich genau dort aus, wo es interessant werden könnte.

Der Weihnachtsmann erscheint und alle laufen davon. Das reicht mir persönlich nicht ganz.

Entweder du hältst es märchenhaft weihnachtlich. Zum Beispiel dass einige in der Gruppe anfangen umzudenken, sobald sie mit der Erscheinung konfrontiert werden.
Oder - Und das würde mir persönlich mehr zusagen - du bleibst konsequent fies. Das würde bedeuten, dass sich die Meute wutentbrannt auf den Mann im Schlitten stürzt. Die Geschenke verbrennt usw.

Da der Text ja von Anfang an als bittere Satire aufgebaut ist, würde so ein literarischer Kinnhaken zum Schluss durchaus passen.

Davon abgesehen ist dir eine unterhaltsame und im positiven Sinn gemeine Weihnachtsgeschichte gelungen. Mit einem besseren Ende würde sie sich gut in einer Sammlung machen!

Liebe Grüße und Ho Ho Ho,

Rainbow Runner

 

Hallo @Rainbow Runner,

danke für dein Feedback und schön, dass du die Satire bissig findest. Das ist doch bei einer Satire das Allerwichtigste. Ich meine, am besten schreibt sich so etwas mit Wut im Bauch, und die habe ich mir geholt, als ich mir zwecks Recherche einige Youtube-Videos aus der Szene angesehen habe. Es ist einfach unglaublich. Sich in solche Wirrköpfe hineinzudenken, ist fast unmöglich, glaube ich. Sie sind in ihrer Blase, und sie dort herauszuholen, selbst durch den Weihnachtsmann, ist schwer vorstellbar. So viel zu deinem ersten Vorschlag, die Story weiterzuführen.

Den zweiten Vorschlag mit dem literarischen Kinnhaken finde ich reizvoll.

Für mich ist die Story mit dem jetzigen Ende allerdings auserzählt. Ich wollte ein Abschlussbild, in dem angesichts der übermächtigen Wahrheit die Grinche in alle Winde zerstieben. Außerdem ist das doch auch ein Ende ganz im Sinn einer positiven Weihnachtsgeschichte.

Die bewusste Jugendsprache („crinchiges“) finde ich sehr passend und ironisch.
Ziemlich cringe von mir! :shy: Ich meinte eigentlich grinchig – abgeleitet vom Weihnachtsgrinch, der ja traditionell grün ist. Muss ich ändern.
Die ersten beiden von dir genannten Stellen habe ich inzwischen etwas gestrafft. Das war mir teilweise einen Tick zu blümich. Aber der Sinn bleibt derselbe.

Vorweihnachtliche Grüße
Sturek

 

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