Weihnachtsliebe
Leuchtende Formationen auf den Dächern der Weihnachtsstände auf dem alten Marktplatz. Kunstschneeapplikationen auf den Fensterinnenseiten der Cafés. Dampfende Glühweinbecher, bemalt mit idyllischen Winterlandschaften. Verschnupfte, rote Kindernasen, die Köpfe mit niedlichen Mützen vor der Kälte geschützt. Eltern, die sie mit frischem Schmalzgebäck für ihre Geduld während des langen Einkaufs belohnen. Kinderaugen, die strahlen. Junge Männlein und Weiblein, Arm in Arm, verliebt. Durch den Frost wie aneinander geschweißt. Sich zusammen Ringe kaufend, ihre Zugehörigkeit zueinander bekundend. Alle Welt soll es wissen. Wir sind für einander da. Studenten in CocaCola-farbenen Kostümen, Glocken schwingend, HoHoHo!-rufend.
Ich kaufe eine kleine Tüte Maronen. Andere Menschen auch. Herrlich kartoffelig, mollig warm, herzhaft lecker. Die Schalen lasse ich auf den Boden fallen. In den Schneematsch. Alternativ angehauchte Mädels und unrasierte Typen bieten indische Decken und Taschen zum Verkauf an. Dazwischen ich. Ich atme den Geruch von Patchouli ein, das Räucherstäbchen nimmt mich voll und ganz ein. Erinnerungen durchströmen meinen Kopf wie die Menschen die Kaufhäuser. Petra.
Ein Pärchen kommt mir lächelnd entgegen. Er ein Arbeitskollege, sie seine langjährige Freundin und meine Kommilitonin. Nie viel mir ihr zu tun gehabt, dennoch sympathisch. Kurze Plauderei, dann wieder allein. Ewig nicht gewesen und schon immer irgendwie. Meine braunen Lederstiefel sind schwarz vom Schnee. Mich friert. Ich finde doch nicht was ich suche.
Nüsse zur Weihnachtszeit, passend. Harte Schale loswerden um dem weichen Kern den Vorzug zu geben. Oder gegeneinander bis die eine Nuss die andere zerbricht. Selten so eine Verdichtung von Hass und Liebe gesehen. Extreme sind nah beieinander. Unter tausend Menschen und allein.
Ich betrete meine Lieblingskneipe, ordere Pizza und ein Getränk. Rauchend und lesend wartend, denkend und sitzend. Will ich sie? Ich werde wahnsinnig. Endlich kommt die bestellte Nahrung. Es ist nicht dasselbe, alleine. Man bekommt nicht das, was man verdient - so heißt es doch. Bekomme ich mehr oder weniger? Das Essen ist gut, die Lektüre eine Verpflichtung und die Kneipe warm.
Fürsorglich und liebevoll sollten Kinder ihr Weihnachtsfest erfahren. Werte wie Nächstenliebe, mal an die andern denken, für die Familie dasein. Wo ist sie? Menschen, die an Bettlern vorübergehen. Geld geben oder nicht, was ist richtig? Ein paar Jugendliche, die cool über den Markt schlendern. Mädels, die sie anhimmeln. Mehr oder weniger? Die Fenster der Wohnungen vermitteln Geborgenheit. Gemütlich muss es sein, hinter hübschen Gardinen und Lichtertreppchen. Ich hoffe doch.
Da ist sie! Der Zufall belohnt mich. Mehr? Hi, sagt sie und umarmt mich. Wollen wir was zusammen essen? Wärme, Zweisamkeit, ein zweites Mahl. Nicht mehr allein unter vielen. Erhöhter Puls, wohlige Wärme um's Herz, Universum im Gleichgewicht. Es fällt mir schwer, Ruhe zu bewahren. Ihre Stimme massiert mein Trommelfell. Ihr Blick streichelt meine Seele. Ich versuche zuzuhören. Erforsche deine Gefühle! Will ich es? Ist es richtig? Wer gibt mir Antwort? Ich beschließe, nicht töricht zu sein. Der Abschied ist wie gewohnt, ein herzliches Indenarmnehmen. Ein Ichhabdichlieb. Bedeutungsvoll?
Seit fast zehn Jahren kein zu Hause mehr. Nicht ganz richtig: Ein mehrjähriges Intermezzo, das mir alles bedeutete, bereicherte mein Leben. Dankbarkeit und Schuldgefühle. Ich habe nicht genug getan. Ich konnte es nicht und wollte doch. Geht das? Warum, warum. Vergangenheit, es geht weiter, es muss weiter gehen. Ich dulde keinen Stillstand, auch wenn oft gewünscht. Ruhe finden, sich ausruhen, im Schoße der Familie. Doch welche? Was ist meine Familie? Eltern und Geschwister sind schon lange nicht mehr da. Leben, aber nicht in mir. Ich freue mich für Kinder, die sich Weihnachten freuen können. Mir egal, ob über Geschenke oder über was auch immer. Hauptsache, sie können sich ehrlich freuen. Sie können nichts dafür. Ich denke zurück an sie. Sie könnte mir geben, was mir fehlt. Meine Leerstelle füllen. Möchte ich das? Oh ja! Wie verrückt sie mich doch macht. Lässt mich nicht klar denken. Die Dunkelheit gibt den Lichtern ihre Bedeutung. Was kann ich ihr schon bieten. Gewinn- und Verlustrechnung? Ist Liebe nicht mehr als die Summe ihrer Teile? Wie kann man nur so denken. Sie ist schuld.
Die Pflichtlektüre begleitet meine Heimfahrt. Sie vermag es nicht meine Gedanken bei ihr zu halten. Ich muss immer nur an sie denken. Was ist denn mit den anderen? Meine Freunde würden mich für verrückt erklären, wüssten sie von meinen Gefühlen. Doch wo die Liebe hinfällt, so sagt man doch. Ist es mir peinlich? Falls ja - oh mein Gott! Nicht drüber nachdenken. An gar nichts denken.
Komischer Mann mir gegenüber. Ob er wohl Familie hat? Was wünscht er sich zu Weihnachten? Ich möchte nicht mehr allein sein. Sie muss mir helfen, ich helfe ihr im Gegenzug. Quid pro quo eben. Meine Haltestelle, aussteigen, wenig Menschen. Viel weniger als noch bei den Maronen. Da wo's warm ist, ist man halt gerne. Wärme und Geborgenheit.
Die Autos spritzen den Schneematsch hoch, doch er trifft mich nicht. Bäume stehen in Reih und Glied. Sie gehören zusammen. Fühlt sich ein Baum einsam? Zu Hause: Niemand wartet auf mich. Nicht einmal mein Anrufbeantworter redet mit mir. Ich koche mir Tee, die dampfende Tasse erinnert mich an die Glühweintrinker. Die strahlenden Kinderaugen, Schmalzgebäck, Liebe und Wärme hinter beleuchteten Vorhängen, glückliche Familien am Heiligabend, liebevoll zubereitetem Essen. Melancholie, Einsamkeit, Verzweifelung, Verwirrung, Maronen.
Es steht geschrieben: Liebe deinen Nächsten wie dich selbst. Ich liebe sie mehr. Ist das ungerecht?
Frohe Weihnachten.