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Weihnachtsstimmung ad infinitum
In einem fernen Land namens Lamettanien regierte einst König Rudolph I. Um die klammen Staatskassen zu füllen, beschloss er eines Tages, die königlichen Weihnachtsmärkte das ganze Jahr über stattfinden zu lassen und sorgte dafür, dass sie stets mit frischen Marzipankartoffeln, Lebkuchenherzen und Dominosteinen beliefert wurden. Von nun an duftete es selbst im Sommer nach Glühwein und das „Ho, ho, ho“ der vielen hauptamtlichen Weihnachtsmänner war ständig zu hören. Über das Getümmel an den Marktständen flogen Elfen hinweg und ließen statt richtigem Schnee Puderzuckerschnee auf die Kauflustigen herabrieseln, Zwerge jonglierten mit glühenden Weihnachtskugeln und Rentiere mit Silberschellen an den Geweihen stolzierten zwischen den Besuchern umher. Dazu gab es ganz umsonst die durchdringenden Stimmen der Marktschreier: „Feinste Zuckerwatte, kauft, ihr Leute … Lebkuchenherzen, heute im Dutzend für nur fünf Dukaten … kandierte Äpfel, kommt, ihr Kinderlein…“, und käufliche Weihnachtstannen sprachen die Vorübergehenden an: „Na, wie wärs? Sieh nur, wie gut gewachsen ich bin. Und voll im Saft. Nimm mich mit und schmücke mich, du wirst es nicht bereuen.“
Das Volk indessen wurde des Trubels zunehmend überdrüssig und der Umsatz sank. Wegen der vielen Süßigkeiten bekamen die Leute Besuch von der bösen Zahnfee und die Zahnbrecher hatten alle Hände voll zu tun. Die frei herumlaufenden Rentiere blockierten des Öfteren die Straßen und die fluchenden Fuhrleute durften sie nicht anrühren, da die Tiere unter dem Schutz des Königs standen. Außerdem wurde das Gequengel der Kinder immer lauter: „Mama, Papa, wann kommt denn nu der Weihnachtsmann mit den Geschenken zu uns?“ Niemand hatte mehr Lust auf Lebkuchenherzen, Marzipanstollen und mit Weihnachtskugeln jonglierende Zwerge. Die Marktschreier brüllten ihre Botschaften über verödete Weihnachtsmärkte, auf die der Puderzuckerschnee unbeachtet herabrieselte und die hauptamtlichen Weihnachtsmänner mussten gewärtig sein, schon nach dem ersten „Ho“ einen Tritt in den Allerwertesten zu bekommen.
Dem Reich drohte der Ruin.
Ruhelos wanderte König Rudolph in seinen Gemächern umher. Die goldenen Girlanden, das Tafelsilber, die Sammlung seltener Weihnachtsengel, die funkelnden Edelsteine, die seinen Weihnachtsbaum schmückten, sein ganzer schöner Reichtum, vielleicht bald dahin, weil alles an diese geldgierigen Gläubiger aus Marzipanien verkauft werden müsste, um die Schulden zu tilgen.
„Warum tut mir mein Volk das an?“, fragte er händeringend die Damasttapete an der Wand, „ich will doch nur, dass es allen gut geht.“
„Den einen mehr, den anderen weniger und dir am allermeisten“, ergänzte seine innere Stimme.
„Sei still. Ich bin ein guter König. Ich bin ein guter König. Ich bin ein guter König“, sagte er schnell und niemand widersprach. Sein derzeitiger Lieblingsweihnachtsengel trat zu ihm, gab ihm einen Kuss und hauchte ein „Ja, du bist ein ganz toller König“ in sein Ohr, doch das vermochte ihn nicht zu trösten. Wie sollte es bloß weitergehen? Ihm fiel nichts Besseres ein, als den Thronrat einzuberufen.
Nachdem der Schatzmeister seinen Bericht vorgetragen hatte, fragte der König: „Nun, was können wir tun? Irgendwelche Vorschläge?“, und blickte in die Runde.
Schweigen. Betretene Gesichter.
„Eine Glühweinsteuer erheben?“, wagte sich der Schatzmeister vor.
„Sapperlot!“, donnerte der König, „die Leute kaufen doch jetzt schon immer weniger von dem Zeug.“
„Dann vielleicht den Glühwein billiger machen?“
„Hinaus!“, brüllte der König, dessen Knollennase inzwischen zornesrot leuchtete, und der Schatzmeister schlich mit eingezogenem Kopf aus dem Saal.
Ein alter Mann mit Glatze und grauem Haarkranz aus der hinteren Reihe hob die Hand.
„Ah, unser Hofzauberer. Lassen Sie hören“, sagte der König.
„Also Majestät, erlasst ein Gesetz, das jeden Bürger Eures Reiches verpflichtet, täglich mindestens zehn Weihnachtslieder zu singen.“
„Sind Sie noch bei Trost? Weihnachtslieder?“
„Ja, Majestät. Weihnachtsliedern wohnt eine ganz eigene Magie inne. Durch sie vergessen die Menschen ihre kleinen Kümmernisse und Ängste, lieben einander und wollen sich an Weihnachten erfreuen. Es wird wie ein Rausch sein. Singen und hören Eure Untertanen Weihnachtslieder, dann strömen sie auch wieder in Massen zu den Weihnachtsmärkten.“
„Und, und werden sie auch kaufen?“
„Kaufen? Aber ja. Ich muss die Magie der Weihnachtslieder nur ein klein wenig verstärken.“
Der Hofzauberer stieß ein meckerndes Lachen aus, dann hob er seinen Zauberstab, der sogleich zu leuchten begann. Goldene Sterne, vermischt mit Schneeflocken stoben daraus hervor und plötzlich erfüllte ein Duft von gebrannten Mandeln, Glühwein und Räucherkerzen den Saal. Heller Glockenklang ertönte und aus dem Nichts tauchten hunderte von winzigen Weihnachtsmännern auf. Sie schwebten in der Luft und flogen waghalsige Kapriolen. Allmählich formierten sie sich vor dem Hofzauberer zu einem Chor.
Der Hofzauberer hob abermals den Zauberstab. Nun huben die kleinen Weihnachtsmänner mit quäkenden Stimmchen an zu singen und die staunenden Zuhörer vernahmen äußerst seltsame Weihnachtslieder. Die Melodien kannten sie wohl, aber was waren das für Worte? „… Tiefstpreisliche Weihnacht überall … Ihr Käuferlein kommet, oh kommet doch all … Leise rieselt der Preis … Bald nun ist Einkaufszeit … Geschenke finden, Freude schenken … Oh du fröhliche, oh du glänzende …“
Immer schneller und schneller sangen die Weihnachtsmänner, bis die Töne zu einem einzigen Missklang verschmolzen. Dann verschmolzen auch die Sänger selbst zu einem rotweißen Wirbel, der um sich selber kreiste, immer kleiner wurde und verschwand.
„Nun Majestät, wenn Eure Untertanen von jetzt an Weihnachtslieder singen, werden sie nur noch an eines denken: Kaufen. Ihr werdet mit dem Liefern kaum nachkommen, Majestät.“
„Ahhh. Was würde ich nur ohne Sie anfangen.“
Der Hofzauberer verbeugte sich.
„Aber Majestät, bedenkt, viele eurer Untertanen können gar nicht singen“, warnte der Kämmerer.
„Papperlapapp“, sprach der König, „dann müssen sie es eben lernen“, und das Gesetz ward beschlossen. Unter dem Schmettern der Fanfaren verkündeten es Herolde überall im Reich.
Um die Einhaltung des Gesetzes zu kontrollieren, mischten sich Büttel in Alltagskleidung unters Volk, lauschten an den Türen und führten penibel Strichlisten. Wehe dem Übeltäter, der dem Befehl des Königs nicht nachkam. Ihm drohten saftige Geldbußen und im Wiederholungsfall gar der Kerker. Bei den meisten Einwohnern Lamettaniens hätte es dieser Kontrollen nicht bedurft, denn sie waren ohnehin recht sangesfreudig, wenn sie auch nur gelegentlich den richtigen Ton trafen. Die übrigen beugten sich, sei es aus Bequemlichkeit, sei es aus Angst, dem königlichen Willen. Wie es der Hofzauberer vorausgesagt hatte, stieg die Weihnachtsstimmung wieder und auch die Kauflust der Menschen. Nur eine kleine Gruppe aufsässiger Weihnachtsmuffel leistete Widerstand.
Ihrem Anführer Hans, einem dünnen Männchen mit Ziegenbart, bereitete die Weihnachtsstimmung, in der jeder jeden zu lieben schien, nahezu körperliche Pein. „Wie verlogen das alles ist“, knurrte er und seine Mitstreiter nickten.
Nicht nur, dass Hans und seine Helfer nicht sangen, nein, sie sannen auch auf Mittel und Wege, die Weihnachtsstimmung zu sabotieren. Sie drängten den Besuchern der Weihnachtsmärkte kostenlose Probeexemplare ihrer selbstgefertigten Ohrstöpsel aus Bienenwachs auf oder versperrten die Wege zu den Märkten durch Sitzblockaden. Im Schutze der Nacht überfielen sie die Büttel des Königs, nahmen ihnen die Strichlisten weg und verbrannten sie. Und das alles, ohne einen Mucks zu sagen, geschweige denn zu singen. Immer wieder gelang es ihnen, sich dem Zugriff der Büttel zu entziehen.
Mit gerunzelter Stirn hörte sich der König den Bericht seines Marschalls darüber an.
„… Majestät, sie nennen sich selbst die „Stummen Helden“ und wenn ihr Beispiel Schule macht …“
„Unerhört!“, empörte sich der König. „Wie können sie es wagen, sich meinem Befehl zu widersetzen, das … das …“ Vor Zorn verhaspelte er sich und seine Nase leuchtete schon wieder gefährlich rot.
„Nur die Ruhe, mein König. Ich weiß, wo sie sich verstecken, und habe auch schon eine Idee, wie ich sie zur Raison bringe.“ Der Marschall lächelte schmallippig.
„Gut, ich verlasse mich auf Sie.“
„Wollt Ihr gar nicht wissen, wie?“
„Einzelheiten kümmern mich nicht.“ Der König winkte gnädig, zum Zeichen, dass die Audienz beendet war, und der Marschall zog sich mit einem tiefen Bückling zurück.
Der Zustimmung seines Königs gewiss hatte der Marschall schon alles vorbereitet und schickte seine Schergen aus. In den Katakomben der Hauptstadt ergriffen sie die „Stummen Helden“, entfernten ihre Ohrstöpsel und sperrten sie in ein Verließ in den Kellergewölben des königlichen Schlosses. Meistersänger wechselten sich vor ihrer Kerkertür darin ab, sie drei Tage lang ununterbrochen mit „Oh, du fröhliche …“ zu beglücken. Dem hätte selbst der miesepetrigste Weihnachtshasser nichts entgegensetzen können. Die solcherart geläuterten „Stummen Helden“ benannten sich nach ihrer Entlassung in „Chor der ersten Strophen“ um, da sie mangels Übung nicht textsicher waren, und stimmten in den Gesang der anderen ein. Nun sorgten auch sie dafür, dass die Straßen des Landes Tag für Tag widerhallten von mehr oder weniger schiefen und schrillen Weihnachtstönen: „Stille Nacht … Es ist ein Ros entsprungen … Bald nun ist Weihnachtszeit … Fröhliche Weihnacht überall … Kommet, ihr Hirten …“ Sie sangen und kauften, kauften und sangen. Und wenn sie nicht gestorben sind, dann singen und kaufen sie noch heute.
Halt, da fehlt doch noch jemand! Richtig. Der echte Weihnachtsmann. Als er sich mit seinem Schlitten Heiligabend den Grenzen Lamettaniens näherte, hielt er sich die Ohren zu. „Was für ein grässlicher Lärm“, sagte er und machte fortan einen großen Bogen um das Land.