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Weine nicht
Das Haus schien kleiner geworden zu sein, zumindest aber war es älter. Es war zweistöckig, vollunterkellert und hatte ein grünes Dach, grüne Fensterläden und eine grüne Eingangstür. Eigentlich hatte es zwei Eingänge, aber der zweite wurde erst nachträglich eingebaut, als das Haus vor Jahren zwischen seinen Eltern räumlich aufgeteilt wurde und befand sich auf der anderen Seite des Hauses. Die Sonne schien und sein Vater arbeitete hinten im Garten.
"Ich kann mir dich noch immer nicht als pensionierten Gärtner vorstellen", spöttelte Ludwig, als er ums Haus kommend seinen Vater das Unkraut jäten sah. Dieser lächelte ihn an, seine kräftigen Zähne waren nicht sichtbar, lediglich das Zahnfleisch. Er ist eigentlich noch immer sehr gut in Form, dachte Ludwig.
"Komm, ich zeig Dir das Haus. Du warst ja schon seit Jahren nicht mehr hier."
Sein Vater führte ihn hinein. Die schweren Bauernkästen aus dem Vorraum waren weg.
"Ja, ich hab' sie in den Keller bringen lassen. Es ist ja doch nicht mehr zeitgemäß, aber du oder deine Schwester könnt sie haben. Julia hat schon gesagt, sie würde sie nehmen, wenn du nicht willst."
Der Vorraum und die Gänge waren in pfirsichcreme ausgemalt worden und die Zeichnungen, die die Mutter bei jeder Reise gemacht und dort angebracht hatte, waren auch schon weg. "Alles im Keller. Geh nachher runter und such dir aus, was du brauchen könntest. Du solltest auch mal mit Alice kommen, damit sie dir helfen kann. Ich hab meine Schwiegertochter eh schon so lange nicht mehr gesehen."
Sie gingen weiter durch das Haus. Ludwigs früheres Kinderzimmer war zu einer Bibliothek umgebaut worden, doch in den Kästen befanden sich nur wenige Bücher. Der Rest war mit Gerümpel aller Art vollgeräumt. "Da muss noch soviel gemacht werden", seufzte sein Vater. "Deine Mutter hat ja nie etwas wegwerfen können, dabei sind das bloß Sachen, hab' ich ihr immer gesagt."
"Du scheinst es ja ziemlich eilig mit dem Renovieren zu haben", murmelte Ludwig. "Wann werden Julia und ich eigentlich in das Grundbuch als neue Eigentümer einverleibt werden?"
"Das dauert noch, obwohl ich mir noch immer nicht sicher bin, ob das eine gute Idee ist. Ich habe das ganze so aufgesetzt, dass ihr zwei eine Gesellschaft bildet und so Eigentümer werdet. Der Gesellschaftsvertrag ist schon notariell beglaubigt, aber die Unbedenklichkeitsbescheinigung des Finanzamtes fehlt noch."
"Bei einem Anwalt als Vater, was soll da schon schief gehen?", spöttelte wieder Ludwig. Er wollte das Schlafzimmer seiner Eltern nicht sehen und sagte: "Lass uns in die Küche gehen. Ich habe keine Lust mehr das Haus weiter zu inspizieren."
"Du willst so schnell wie möglich Eigentümer werden, aber das Haus interessiert dich kein bisschen!" rief sein Vater ärgerlich.
"Was hab ich von dem Haus, du wirst ja eh noch lang darin leben! - Und wie ich dich kenne, sicherlich nicht allein!"
Schweigend gingen sie in die Küche. Der Vater setzte Wasser für den Kaffee auf und deckte den Tisch. "Es haben so viele Leute geschrieben. Aus aller Welt, wie mir scheint. Deine Mutter war ja auch so beliebt." Der Vater brachte eine braune Schuhschachtel, die mit Briefen gefüllt war. "Wenn du willst, schau's dir an."
Lieber Johannes! Mit Bedauern haben wir vom Tod Deiner Frau Maria erfahren. Noch im Frühling haben wir ja mit Euch in Eurem Garten einen solch' netten Nachmittag verbringen dürfen, als es ihr schon wieder besser zu gehen schien. Bei aller Güte und Wärme, die sie zeitlebens ausstrahlte, war sie aber auch eine Kämpfernatur, und sie hat wahrlich tapfer gegen den Krebs gekämpft! Mit diesem Schreiben wollen wir nicht nur unser herzlichstes Beileid ausdrücken, sondern vor allem sicherstellen, dass Du immer auf uns zählen kannst, wenn Du etwas brauchst. Zögere nicht, Dich an uns zu wenden! Herzlich, Anna und Gustav Rath
"Weine nicht", sagte sein Vater und legte ihm eine Hand auf die Schulter. Ludwig legte das Schreiben zurück in die Schachtel und wischte sich die Tränen mit dem Hemdsärmel weg. "Es hat ja auch keinen Sinn jetzt." Sein Vater räumte die Schuhschachtel weg und servierte den türkischen Kaffee. Er schnitt dazu zwei Scheiben Mohnstrudel ab. "Du weißt, ich brauche immer etwas Süßes zum Kaffee", entschuldigte sich lächelnd sein Vater. Während sie Kaffee tranken, holte sein Vater Dokumente hervor, und sie besprachen, was zu tun sei. Als alles gesagt zu sein schien, saßen sie noch ein bisschen schweigend, dann fragte sein Vater: "Wie geht's Alice und der Kleinen?"
"Gut. Sie hat ja jetzt viel zu tun, mit dem Kind und so."
"Du musst stolz sein auf die Kleine. Wenn sie sich so rasend schnell entwickeln, man glaubt es kaum."
"Ja, nach jeder Geschäftsreise ist sie schon wieder jemand anders. Und ich bin ja dauernd weg. Geschäft. Du kennst das ja."
"Du darfst Alice nicht vernachlässigen. Das passiert so leicht", sagte sein Vater eindringlich.
"Ja, ich weiss."
Der Vater schenkte noch zwei Tassen Kaffe ein.
"Weißt du noch mein erster Schultag?", fragte Ludwig.
"Natürlich, Deine Mutter und ich waren ja so glücklich!"
"Damals habe ich mit Mama, Julia und Oma vor der Schule auf Dich gewartet. Als ich gefragt habe, wo du wärst, hat Oma gesagt, dass du uns verlassen hättest und nicht mehr mit uns leben würdest", warf er seinem Vater brutal ins Gesicht.
"Ich …", stammelte sein Vater.
"Lass es. Es hat ja auch keinen Sinn jetzt", unterbrach ihn Ludwig. Sie saßen minutenlang schweigend zusammen und hatten die Blicke in ihre Häferl gesenkt.
"Als deine Mutter die Diagnose erfahren hat, hat der Arzt ihr gesagt, dass er den Krebs rausschneiden könne. Das sei kein Problem, hat er gesagt, das mache er tagtäglich, aber dass sie es sei, die sich gesund machen müsse. Sie war damals sehr depressiv. Hat viel nachgedacht. Du weißt ja, wie sie war."
"Ärzte kommen ja immer mit dem Psychologischen, wenn sie keine Antwort wissen."
"Zwei Monate nach der Operation habe ich sie weinend vor dem Fernseher gefunden. Ich habe sie umarmt und gesagt, dass alles gut gehen würde. Sie hat mich angeschaut mit ihren verquollenen Augen und gesagt: 'Jede Träne, die ich runtergeschluckt habe in meinem Leben, ist nun in meiner Brust gefangen und ich hab' das nie rausgelassen. Und gerade du weißt, wie oft ich hätte weinen müssen, und ich hab's nie getan, weil ich stark sein musste. Für Julia und Ludwig. Für meine Eltern - und eigentlich auch für dich.'"
Die letzten Worte hatte sein Vater nur noch rauspressen können. Sein schmerzverzogenes Gesicht versteckte er hinter seinen Händen und diesmal sagte Ludwig, während er seinen Arm um die Schultern des Vaters legte: "Weine nicht."