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Weit fort
Ein Metterschling
Mit flauen Bügeln
Log durch die Fluft.
Er war einem Computer entnommen,
dem war was durcheinander gekommen,
irgendein Rädchen,
irgendein Drähtchen, und als man es merkte,
da war's schon zu spätchen.
Da war der Metterschling schon feit wort.
Wanz geit.
Mir tut er leid.
Mira Lobe: Der verdrehte Schmetterling
Schon als sie noch ganz klein gewesen war, hatte Elena das Gedicht von dem Schmetterling geliebt. Besonders das "feit wort". Weit fort.
Wenn sie sich die Worte auf der Zunge zergehen ließ, dann füllte ein seltsames und wunderbares Gefühl ihren Kopf und ihre Brust. Weit fort. Weg von zu Hause. Weg von der Welt.
Erst viel später hatte sie verstanden, dass es Sehnsucht war, die sie spürte.
Es regnet. Der böige Wind treibt den Regen in Schwaden über das Tal zwischen den grünen Bergflanken. Die winzigen Tropfen dringen durch Elenas Regencape, schleichen sich unter ihre Kleidung, durchnässen sie bis auf die Haut. Es macht ihr nichts aus. Sie schiebt die ohnehin nutzlose Kapuze in den Nacken und legt den Kopf zurück. Kühles Wasser rinnt über ihr Gesicht, nässt die dunklen Haare, fließt in den Kragen ihres Pullovers. Walisischer Regen.
Die Luft riecht nach Bergen und ein wenig nach nassen Schafen. Durch die Schleier kann Elena ab und zu die Häuser auf der anderen Talseite erkennen. Geduckt, dichtgedrängt, einsam.
"Wo bist du gewesen?"
Immer die selbe Frage, immer in dem selben Tonfall gestellt. Die Augen ihrer Mutter, dunkel vor Sorge.
"Bei Claudia"
Immer die selbe Lüge, lässig erzählt. Elena hängte ihre Jacke im Flur auf und drängte sich an der Mutter vorbei ins Esszimmer. Sie wusste genau, wenn sie jetzt sofort auf ihr Zimmer ginge, würde ihre Mutter niemals Ruhe geben, würde ihr folgen, die Zimmertür aufhalten und ihr in weinerlicher Stimme erzählen, dass sie sich ja nur Sorgen machen würde. Elena ließ sich am Esstisch nieder und wartete, bis ihre Mutter sich ebenfalls gesetzt hatte.
"Du weißt doch, dass ich mir Sorgen mache"
Sie hatte gewusst, dass das kommen würde.
"Ich war doch nur bei Claudia. Du brauchst dir keine Sorgen machen. Es ist ja noch nicht einmal neun durch. Ich bin doch heil nach Hause gekommen." Sie fragte sich, warum sie es immer wieder versuchte. Sie wusste, dass es ihre Mutter nicht beruhigen würde.
"Ich mag es nicht, wenn du draußen herumläufst, wenn es schon dunkel ist."
"Es ist noch nicht dunkel."
"Trotzdem kann etwas passieren." Ihre Mutter ließ sich nicht beirren. "Bitte ruf das nächste Mal an, dann kann ich dich doch abholen."
Elena nickte ergeben. Sie wusste genau, dass sie nicht anrufen würde.
"Wenn dir auch etwas passiert, dann bin ich ganz alleine."
Auch das hörte sie nicht zum ersten Mal. Sie stand auf und küsste ihre Mutter auf die Wange. "Mir passiert schon nichts, Mama!"
Der Bus kommt die steile Kurvenstraße empor gebrummt, grün und weiß in dem ewigen Grau des Regens. Elena schultert den Rucksack, tritt an die Straße und streckt die bandagierte Hand aus. Leise quietschend hält der Bus.
"One single to Holyhead, please"
Der Busfahrer lächelt und reißt das Ticket ab. "You're on holiday?"
Elena lächelt zurück, nickt, greift sich die Karte und lässt sich auf einen Sitz fallen. Weit fort. Bald.
"Warum darf ich nicht mitfahren?" Elena sprach ganz ruhig. Wenn sie ihre Mutter aufregen würde, dann hätte sie gleich verloren. "Ich kann es doch auch bezahlen. Ich habe gespart"
Ihre Mutter sah sie mit traurigen braunen Augen an. "Ich möchte nicht, dass du in ein Flugzeug steigst. Stell dir vor, es stürzt ab!"
"Flugzeuge stürzen nicht einfach so ab"
"Aber wenn doch, dann wäre ich ganz alleine"
Elena spürte Wut in sich aufsteigen. Wie sie diesen weinerlichen Tonfall verabscheute. Wenn ihre Mutter wüsste, wie sehr Elena sie hasste, wenn sie in diesem Ton mit ihr sprach. Sie biss sich auf die Lippen, schloss für einen Moment die Augen und atmete tief durch. Dann gelang es ihr, ruhig weiter zu sprechen.
"Es ist doch die Studienfahrt. Was soll ich Frau David sagen?"
Plötzlich war ihre Mutter ganz eifrig. "Ich schreibe dir eine Entschuldigung. Ich sage, dein Blinddarm muss rausgenommen werden. Dann hast du eine ganze Woche frei, ist das nicht toll? Ich nehme mir auch frei, dann können wir etwas zusammen unternehmen. Nur wir beide, ja?"
Elena sah den Glanz, den Eifer in ihren Augen. Langsam nickte sie. "Ja, Mama. Toll!"
Ihre Mutter schien ihre mangelnde Begeisterung gar nicht wahrzunehmen.
Die Straße windet und krümmt sich, wie ein Lebewesen. Ein verletztes Lebewesen. Der Bus torkelt um die Kurven wie ein flügellahmer Schmetterling. Nur blau ist er nicht, denkt Elena bei sich und lächelt.
Der Regen wird dünner und sie kann die Landschaft draußen vorbei ziehen sehen. Schafe auf den Hügeln, Hecken, Bruchsteinhäuser, weiße Felsen. Dann passieren sie eine machtvolle Burg. Elena verdreht den Hals, um bis zur Turmspitze hinauf sehen zu können. Eine Fahne mit rotem Drachen flattert im Wind. Der Drache streckt ihr die Zunge heraus.
Geduldig blieb Elena vor dem Fernseher sitzen, bis ihre Mutter mal wieder in der Mitte des Filmes eingeschlafen war. Dann schlich sie die Treppe hinauf in ihre Zimmer. Sorgsam schloss sie die Tür hinter sich ab. Erst dann inspizierte sie ihre Schätze.
Rucksack, Schlafsack, Trekkingjacke, Wanderstiefel, sorgfältig zusammengespart von dem Geld, das sie heimlich verdient hatte. Für ihre Nachhilfeschüler hat sie den Sportunterricht am Dienstagnachmittag geschwänzt. Und wenn ihre Mutter geschlafen hatte, war sie aus dem Küchenfenster gestiegen, um das Kind der Nachbarin zu hüten.
Bald würde es losgehen. Claudia, die ihr Praktikum im Reisbüro gemacht hatte, hatte ihr mit den Karten für die Fähre geholfen. Das Interrailticket hat Elena sich selber besorgt. Bald wäre sie fort. Weit fort. Ganze zwei Wochen Wales für sich alleine. Ihre Mutter würde Zustände kriegen, aber das nahm Elena in Kauf. Sie würde es überleben. Ganz sicher würde es ihr gut tun. Bestimmt würde sie merken, dass sie auch ohne ihre Tochter auskam. Letztendlich tat sie ihr nur etwas Gutes.
Elena ließ sich rücklings auf ihr Bett fallen und starrte an die Decke. Selbst dort klebte die lächerliche Tapete, die sie sich als Kind ausgesucht hatte. Schmetterlinge auf einer Blumenwiese. Sie konnte sich noch erinnern, dass Anja, ihre Schwester, und sie selber unheimlich viel Spaß gehabt hatten, als sie das Zimmer selber tapezieren durften. Sie hatten die Blumenwiese überall hin geklebt. An manchen Stellen saß die Tapete schief, oder schlug Wellen, aber Elena gefiel sie so.
Nach dem Unfall, als Anja fort war, war Elena eines Nachts aufgestanden und hatte alle blauen Schmetterlinge aus der Tapete geschnitten, oder einfach nur herunter gekratzt. Die, die dabei heil geblieben waren, bewahrte sie in einer alten Keksdose unter dem Bett auf, zusammen mit dem Gedicht. Ihre Mutter hatte es noch nicht einmal bemerkt.
Der Bus ruckt, bleibt stehen, der Fahrer wendet seinen Kopf zu Elena. "Holyhead" sagt er. "You're going on to Ireland?"
"Sure" Sie ist Lügen gewohnt. Einige Momente lang blickt sie dem Bus nach, der davon schwankt, dann dreht sie sich um und steigt die Straße hoch. Sie weiß genau, wohin sie gehen muss, sie hat im Reiseführer sorgfältig nachgelesen.
Es regnet nicht mehr. Der Pfad verlässt die Straße und klettert den kleinen Berg hinauf, der sich hochtrabend "Holyhead Mountain" nennt. Schwarzverbrannte Heide, weiße Felsen, gelber Stechginster. Die Farben scheinen Elena entgegen zu springen. Ihre Beine sind ganz leicht und bewegen sich beinahe von alleine.
Leise, ganz leise schlich sie die Treppe hinunter, die Wanderschuhe in der rechten Hand, die linke am Handlauf. Sie kannte jede knarrende Stufe, jede lockere Bohle. Erst in der Küche zog sie die Schuhe an. Sie stieß das Fenster auf, warf den Rucksack hinunter, wollte grade hinterher klettern, als das Licht anging.
Ihre Mutter, fassungslos auf der Schwelle. Was hatte sie geweckt? Elena konnte es nicht sagen. Vielleicht spürte sie ja inzwischen, wenn Elena sie betrog.
"Wo willst du hin?" Diese Angst, diese abgrundtiefe Verwunderung in ihrer Stimme. Elena wusste, dass sie Mitleid haben sollte, aber alles, was sie in diesem Moment spürte war eine unbändige Wut und Enttäuschung.
"Ich fahre in Urlaub!" Ihre Stimme war schroff. Sie wollte verletzen. Sie sah, wie die Augen ihrer Mutter feucht wurden.
"Alleine?"
"Auf jeden Fall ohne dich" Sie genoss die Angst in den Augen ihrer Mutter und schämte sich dafür. Gleich glaubte sie wieder, sich rechtfertigen zu müssen. "Schau, Mama, ich fahre nur für zwei Wochen weg. Dann bin ich wieder hier. Ich fahre nach Wales, siehst du? Ich fahre mit der Bahn. Da passiert nichts"
Einen Moment lang entspannte sich die Miene ihrer Mutter. Jetzt sah sie fast so aus, wie früher.
"Anja wollte immer nach Wales"
"Ich weiß Mama. Schau, ich muss los, sonst bekomme ich meinen Zug nicht mehr" Elena machte sich daran, aus dem Fenster zu klettern. Irgendwie kam ihr das komisch vor, mit ihrer Mutter, die noch in der Küche stand, aber sie wusste nicht, was sie sonst tun sollte. Für einen Augenblick schien es tatsächlich zu funktionieren. Dann schrie ihre Mutter auf, stürzte zum Fenster und bekam Elenas linkes Bein zu packen.
"Geh nicht! Lass mich nicht allein!"
Wieder stieg die Wut in ihr auf, grob versuchte sie sich loszureißen, trat nach ihrer Mutter und spürte, dass sie traf. Doch ihre Mutter klammerte sich wie eine Ertrinkende an Elenas Bein, schrie und jammerte. Und sie war stärker. Langsam wurde Elena wieder in die Küche gezogen. Wütend trat sie weiter. Es klirrte, Scherben regneten auf den Boden. Elena krallte sich am Fensterrahmen fest, Glassplitter bohrten sich in ihre Handflächen, aber die Angst, alleine zu bleiben, schien ihrer Mutter Bärenkräfte zu verleihen. Elena wurde vom Fenster los gerissen und stürzte heftig auf den gefliesten Boden.
Ihre Mutter war ebenfalls gestürzt, hockte nun gekrümmt und jammernd auf dem Boden, umgeben von Fensterglas. "Bitte geh nicht, ich bin doch sonst ganz alleine."
Sie erreicht South Stack, den Vogelfelsen an der zerklüfteten Küste. Es ist zu spät im Jahr für Papageientaucher. Unter ihr auf einer kleinen Halbinsel steht ein blitzendweißer Leuchtturm. Niemand ist unterwegs. Es hat wieder zu regnen begonnen, dazu windet es und das Meer schlägt unter ihr ungebändigt an die Küste.
Vorsichtig kletterte sie so weit auf die Felsen hinaus, wie man eben klettern kann, ohne abzustürzen. Der Wind nimmt ihr jetzt beinahe den Atem. Sorgsam setzt sie den Rucksack zu Boden, holt die Dose heraus. Ohne noch einmal hinein zu blicken, schleudert sie sie aufs Meer hinaus. Der Deckel springt auf und Dutzende von blauen Schmetterlingen flattern in den Wind. Weit fort.
Sie stand wieder auf und sah auf ihre Mutter herab. So traurig, so einsam. Elena spürte, wie alle Gefühle sie verließen. Alle bis auf eins. Die Sehnsucht.
"Ich werde jetzt gehen, Mama, und du wirst mich nicht daran hindern. Wenn du es doch tust, dann bringe ich mich um, das schwöre ich dir. Und dann bist du wirklich ganz alleine. Für immer!"
Ihre Mutter schluchzte, presste die Hände auf ihre Ohren und wiegte ihren Körper langsam vor und zurück.
"Mama?"
Sie reagierte nicht. Vielleicht hörte sie Elena nicht. Vielleicht spielte sie es aber auch nur vor. Sie wollte Mitleid, doch Elena war nicht mehr bereit, Mitleid zu geben.
"Mama, ich gehe jetzt" Dann war sie aus dem Fenster und auf dem Weg zum Bahnhof. Die Verkäuferin in der Drogerie musterte sie fragend, als sie Verbandszeug für ihre Hände kaufte. Elena kümmerte sich nicht weiter darum. Sie schwang den Rucksack auf den Rücken und rannte, um ihren Zug noch zu bekommen.
Das Meer ist ungerührt. Irgendwo in den Hügeln blökt ein Schaf. Der Wind fegt durch Elenas Haare. Sie fragt sich, ob Anja sie verstanden hat, wo auch immer sie ist. Weit fort.