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Weit fort

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19.03.2003
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Weit fort

Die Erde riecht nach Feuchtigkeit. Über Nacht ist viel Laub gefallen. Ein Eichhörnchen vergräbt Nüsse und Eicheln im Garten. Ich denke daran, wie viel ich davon im Frühling wieder ausgraben werde. Das Eichhörnchen hamstert weiter, ohne sich um meine Gedanken zu scheren.
Gerne hätte ich den Gedanken weitergesponnen, aber ich verliere den Faden. Weiß sogar für einen kurzen Moment nicht, warum ich hier draußen stehe. Dann sehe ich die Schale in meiner Hand. Ich wollte zum Komposter laufen, erinnere ich mich.
„Mama?“, höre ich Hannes rufen. Ich drehe mich um, will ihm zuwinken. Doch er steht schon nicht mehr in der Tür.
Vermutlich Telefon, also stapfe ich zurück. Meine Schritte sind noch ein wenig unbeholfen. „Das gibt sich“, hat die Krankengymnastin gesagt. Tatsächlich ist es auch schon besser geworden. Letzten Monat konnte ich noch gar nicht laufen. Am Telefon angekommen bemerke ich, dass es wohl doch kein Anruf gewesen ist, der mich ins Haus zurückgeholt hat. Der Hörer liegt auf. Ich nehme ihn dennoch ab. Das Freizeichen ertönt. Ich bin enttäuscht, weiß aber nicht warum. Dafür klingelt es an der Haustür. Ich erkenne meine Nachbarin.
„Hallo Karin“, sagt sie, als ich öffne. „Klaus hat bei mir angerufen, weil du nicht ans Telefon gegangen bist.“
Also doch, denke ich.
Sie sieht mich an. Was soll ich ihr antworten? Nicke in die Stille hinein. Dann fällt es mir ein.
„Ich war draußen“, sage ich und zeige ihr die rosafarbene Abfallschüssel für den Kompost.
„Ach so“, antwortet sie, sieht an mir vorbei ins Wohnzimmer. Der Fernseher läuft und es ist nicht aufgeräumt.
„Du sollst zurückrufen“, sagt sie. Sie verzieht ihre Mundwinkel, als sie es zu mir sagt. Ich werde wütend, möchte, dass sie geht, sage: „Ja, natürlich, gleich“, obwohl ich genau weiß, dass ich nicht zurückrufen werde.
„Ich finde, du solltest dich nicht so gehen lassen!“, sagt Maren plötzlich.
Ich finde, dass es sie nichts angeht.
Höflich antworte ich: „Maren, ich weiß deine Hilfe zu schätzen.“
Ich will, dass Maren geht. Doch sie steht wie ein Felsblock in der Tür und mustert mich. Ihre Lippen sind dünn wie ein Strich, verraten das Gegenteil, auch wenn sie sagt: „Ich will dir doch nur helfen!“
Ich will ihre Sensationslust nicht teilen, schon gar nicht Floskeln abspulen. Darum sage ich eine Spur schärfer als beabsichtigt: „Ich habe zu tun, Maren.“
Sie schiebt die Unterlippe vor, als sie antwortet: „Sage Klaus, dass ihr einen Anrufbeantworter braucht!“
Ich weiß, sie meint es nicht böse. Sie kann es nicht verstehen. Hat es nicht erlebt. Sie hat keine Kinder.
Ich habe immer noch die Abfallschüssel in der Hand, als ich nach oben zu Hannes gehe. Obwohl ich ihm tausendfach gesagt habe, er möge sein Zimmer aufräumen, empfängt mich sein verplantes Chaos. Klaus hat mich gebeten, das Zimmer aufzuräumen. Doch ich bleibe stur. Auf dem Boden liegt Hannes Lieblingsjeans. Ich sollte sie waschen, hat er mich gebeten. Aus Prinzip habe ich es nicht getan. Er ist alt genug. Ganz schön sauer ist er gewesen, als er zur Fete eine andere Hose anziehen musste. Kein Wort hat er mit mir geredet, als ich ihn gefahren habe.

Irritiert bemerke ich die rosa Schüssel in meiner Hand. Verstehe nicht, warum ich vergessen habe, sie in die Küche zu bringen. Seit dem Unfall fällt mir die Hausarbeit schwer. Mir fehlt der nötige Schwung. Statt mit leichter Hand abzuwaschen, spritzt der Wasserhahn gegen Teller und überschwemmt alles. Anstatt sauberen Geschirrs finde ich Brotkrumen in den Schubladen. Letzte Woche sind mir sogar die Kartoffeln angebrannt. Klaus hat gesagt, er müsse die Küche neu streichen.
In seiner Stimme schwingt ein ewiger Vorwurf mit.
„Kannst du dich nicht zusammenreißen?“, fragt er. Stoisch füllt er die Geschirrspülmaschine. Es sieht so einfach aus, wenn er es tut.
Ich fühle mich schrecklich, fühle mich eckig, wo andere rund sind. Einzig Hannes steht zu mir.
„Ich esse eine Pizza“, sagt er, als ich mittags nicht aus dem Sofa hochkomme, weil meine Beine schmerzen.
Hannes ist gerne mein Held. Schon als Vierjähriger hat er bestimmt, dass er, als Ritter verkleidet, mich, die Prinzessin, beschützen will. Mein Herz lächelt bei dieser Erinnerung.
„Ich mache dir heute Pfannkuchen, Hannes“, rufe ich nach oben. Freue mich wie ein Kind, das aus purer Lust einen Sandkuchen backt.
Klaus kommt nach Hause. Ich küsse ihn auf den Mund. Seine Haare werden grau vom Mehl, als ich darüber streiche.
„Schau“, sage ich aufgeregt, als hätte ich Amerika entdeckt. Zwanzig Teller biegen sich unter der Last der Apfelflinsen. „Ich hoffe, du und Hannes habt Hunger.“
Ich sehe wie Klaus' Gesicht zu einer Maske erstarrt. Erkenne, sein Haar ist schlohweiß geworden, fühle wie er mich ein Stück davon schiebt. Mir wird kalt. „Es wird Winter“, sage ich, wie um mich zu beruhigen. Danach kommt wieder Frühling, flüstert die gelbe Farbe in meinem Kopf. Sie explodiert hinter meinen Lidern. Ich bin geblendet. Die Scheinwerfer rasen auf uns zu.
Es schmerzt, Klaus so verletzt zu sehen. Er sagt: „Auch der Sommer kommt für Hannes nie wieder zurück. Ich möchte, dass du es endlich einsiehst, Karin.“
Ich verstehe ihn nicht. Es erdrückt mich.

 

Hallo Goldene Dame,

deine Geschichte hat mir gefallen. Obwohl "gefallen" hier sicherlich nicht das richtig Wort ist. Vielmehr ist die Geschichte ja beklemmend und traurig.
Die Frau kann ihren Sohn nicht loslassen. Es geht sogar soweit, dass glaubt, er würde weiterhin noch hier leben.
Ich kenne Eltern, die ihr Kind verloren haben. Ich glaube, dass ist eines der schrecklichsten Dinge, die es gibt. Ich kann Karin gut verstehen, die sich in ihre Traumwelt vergräbt und sich weigert den Tod zu akzeptieren. Über kurz oder lang wird sie es müssen.
Deine Geschichte war sehr einfühlsam erzählt.

LG
Bella

 
Zuletzt bearbeitet:

"Weit fort" ist aber der Titel einer Geschichte von Felsenkatze. Hoffe, du hast da mal dezent angeklopft. :)

Zur Geschichte: Der tragische Verlust einer geliebten Person ist ein Thema, das häufig gewählt wird. Deine Variante ist recht detailliert beschrieben - und doch bleibt die Atmosphäre seltsam steril. Kein Funke springt über...

Liebe Grüße

Der Dante

 

Hallo Bella,

Ich kann Karin gut verstehen, die sich in ihre Traumwelt vergräbt und sich weigert den Tod zu akzeptieren. Über kurz oder lang wird sie es müssen.
Karin glaubt den Tod Hannes`verantworten zu müssen. Ihr Leben zerbricht...

Danke fürs Lesen und deine Anerkennung

Hallo Dante

Deine Variante ist recht detailliert beschrieben - und doch bleibt die Atmosphäre seltsam steril. Kein Funke springt über...
Ich erwarte nicht, dass alle mit Karin mitleiden. Eigentlich erwarte ich es überhaupt nicht.
"Weit fort" ist aber der Titel einer Geschichte von Felsenkatze. Hoffe, du hast da mal dezent angeklopft.
Wenn Felsenkatze sich daran stört, werde ich den Titel ändern.

LG an Euch
Goldene Dame

 

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