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Weiter, immer weiter
Er begann zu rennen. Er musste rennen. Er wollte rennen, denn wenn er nicht rannte, dann wäre es umsonst gewesen. Alles wäre umsonst gewesen, nicht nur der heutige Tag, nicht nur sein Leben, das Leben als solches wäre umsonst, wenn er aufhörte zu rennen.
Das Seitenstechen bohrte sich tief in seine Niere. Aber aufzuhören kam für ihn nicht in Frage. Manchmal muss man rennen, um nicht zu vergehen. Ein solcher Tag war heute. Heute? Das war eine viel zu lange Ewigkeit. Dieser Moment, weiter durfte er nicht denken.
Er rannte, nicht um des Rennens willen oder weil es ihm Freude breitete, er rannte, weil er es musste. Wer stehen bleibt, steht still.
Er war, noch immer, viel zu langsam, musste sich schneller bewegen. Er musste alles um sich ausblenden. Es gab nur ihn, nichts um ihn herum. Nichts war wichtig. Nichts. Nur das Laufen, das war wichtig. Das Laufen und er selbst.
Sein Fleisch schrie. Seine Beine schmerzten. Er konnte nicht mehr und doch musste er weiter machen. Weiter rennen, um ja nichts zu verlieren. Kein Wort, keine Silbe durfte er verlieren. Ein Schreibender hat nicht dass Recht Worte zu verlieren. Worte. Jetzt waren es schon mehrere, nicht eines durfte er verlieren.
Wenn er am Ende zusammenbricht und mit dem Blut, das er spuckt, seine Geschichte nieder schreibt, bevor er stirbt. Dazu hat er das Recht. Nein, die Pflicht.
Wer verblutet ohne zu schreiben, der darf sich nicht wahrer Schreibender nennen. Geschichten sind überhaupt nur dann etwas wert, wenn der Schreibende daran zerbricht. Dafür zugrunde geht. Alles andere ist höchstens zweitklassig. Er war nicht zweitklassig, wollt es nicht sein.
Sein Atem ging so schwer. Er musste eine Pause machen, doch er tat es nicht, zwang seine Beine weiter zu laufen. Schneller, noch schneller. Je schneller er rannte, desto schneller konnte er denken. Alles, was in seinem Kopf war, musste zu Papier.
Vor ihm ragte eine rote Ampel aus dem Nichts. Sie zwang ihn zu dem, was er nicht durfte: Halt zu machen. Seine Füße trippelten auf der Stelle, damit er den Gedanken nicht verlor. Immer weiter, bloß nicht aufhören. Aufhören bedeutete das Ende. Wer aufhört, kann nie wieder anfangen.
Vor seinen Augen wurde es schwarz. Nein, er musste sich zwingen. Durfte nicht versagen. Wer schreiben muss und sich stattdessen vorm Ertrinken rettet, verdient das Leben nicht, das er rettet.
Die Ampel war noch immer rot, aber es fuhren keine Autos mehr. Zumindest konnte er mit dem Wenigen was seine Schwärze getrübten Augen noch sehen konnten, keine Autos erkennen. Und er konnte keine hören. Er rannte weiter.
Die Ampel war genau so ein Hindernis wie alles andere, was ihm begegnete. Natürlich war er froh, dass es diese Dinge gab, waren sie doch ebenso Quelle für Inspiration. Doch jetzt, in diesem Augenblick, waren sie nur Hindernisse.
Ein Auto führ haarscharf an ihm vorbei. Der Fahrer schrie und fluchte. Was musste der Kerl auch so rasen? Konnte der nicht… NEIN der Fahrer, das Auto, die Ampel, sie alle waren ohne Bedeutung, von Bedeutung war nur er, das heißt sein Geschichte. Er durfte nicht vergessen.
Sein Magen drehte sich in seinem Bauch und forderte eine Atempause. Aber er konnte nicht halt machen. Es war nicht seine Wahl. Er hatte keine freien Willen. Durfte keinen haben. Der freie Wille ist der Feind des Schreibenden. Wer Inspiration sucht, darf nicht wählen können. Darf nicht denken. Die Gedanken müssen ungehinder, unkontrolliert fließen.
Die Muskeln seiner Beine brannten wie Feuer. Schon lange hatte er zu atmen aufgehört. Keuchte, spuckte und röchelte nur noch vor sich hin. Aber er hatte es fast geschafft. Es war nur noch ein ganz kleines Stück. Immer noch dieselbe Lüge, mit der er seinen Körper zum weitermachen brachte.
Er konnte die Tür schon sehen. Hatte sie erreicht. Er dachte nicht da rüber nach, wie sich der Schlüssel im Schloss drehte. Dachte nur an seine Geschichte. Eine Geschichte, die geschrieben gehörte.
Ohne Schuhe oder Jacke auszuziehen humpelte er durch den Flur. Dem Schreibtisch entgegen. Er nahm ein leeres Blatt. Seine zitternden, schwachen Finger brachen fast unter dem Gewicht des Bleistifts. Aber er schrieb. Sein Verstand raste, versuchte verzweifelt all die einzelnen Teile seiner Geschichte zusammen zu tragen. Vergebens marterte er seinen Verstand. Doch er schrieb. Er schrieb seine Geschichte zu Ende.
Vor seine Augen wurden es schwarz. Sein Körper brach schwach und ohne Bewusstsein zusammen.