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Weiter nach dem Tod
Weiter nach dem Tod
„Du bist ein Vollidiot!“, Bernd wurde oft Vollidiot genannt. Aber auch andere Hänseleien musste er über sich ergehen lassen. Er war in der Schule nicht sonderlich gut, war etwas übergewichtig, trug eine Brille und hatte starke Akne. All das trug nicht gerade zu seiner Beliebtheit bei. Seine Eltern waren geschieden, er lebte bei seiner Mutter, die ihn wie ein kleines Kind behandelte, obwohl er bereits 16 Jahre alt war. Sie suchte für ihn die Kleidung aus, die er anziehen musste, jede Woche. Der sonntägliche Kirchgang war Pflicht. Bernd glaubte nicht an Gott. Sie schon. Eine Frau von 49 Jahren, mit blondem Haar, das sie stets zum Zopf gebunden trug. Die Farben die sie zu kleiden pflegten waren meist grau, braun oder andere düstere Farbtöne. Eine riesige Brille mit rechteckigen Gläsern zierte ihr schmales, schon leicht faltiges Gesicht, das Bernd allzu oft an einen Hund erinnerte. Hinter sic zog sie eine Duftfahne 4711 her. Ein Geruch den sie, seit Bernd denken konnte, auftrug. Er fand ihn abstoßend.
Seine Mutter hatte oft Angst um ihn. Bis zur 5. Klasse brachte sie ihn persönlich zur Schule. Die anderen Kinder lachten über ihn und machten Späße auf seine Kosten.
Einmal hatte sie ihn gefragt: „Was würdest du tun, wenn ein Klon von dir existieren würde?“
Bernd musste lachen und fragte ebenfalls: „Warum sollte mich jemand klonen? Ein Versager reicht wohl nicht?“; Er war aufgestanden und in sein Zimmer gegangen.
Heute hatte er es vor. Den Entschluss hatte er schon lange gefasst. Er hatte das Seil bereits auf dem Dachboden, an einem stabilen Balken aus Eichenholz befestigt. Bernd kaufte es im Baumarkt um die Ecke. Es hatte einen Durchmesser von rund einem Zentimeter und war genau ein Meter fünfzig lang: „Ein gutes Seil.“, hatte der Mann im Baummarkt gesagt: „Und absolut reißfest.“ Genau das, was er brauchte.
Jetzt war er hier in der Wohnung. Seine Mutter war auf Arbeit, Bernd ging heute nicht in die Schule. Noch einmal lief er ins Wohnzimmer, wollte sich ein Bild aus alten Tagen ansehen. Es zeigte seinen Vater, seine Mutter und ihn selbst, er war sechs Jahre, kurz vor seiner Schuleinführung.
Das Wohnzimmer indem er stand war sehr aufgeräumt und sauber. Bernd musste zweimal in der Woche Staubsaugen: „Wenigstens etwas, was ich beherrsche.“, dachte er.
Da stand ein alter, brauner Sessel genau vor dem Fernsehgerät, den hatten sie von seiner Großmutter, gestorben vor drei Jahren. Das Sofa im rechten Winkel dazu war nach den Fenstern ausgerichtet, ebenfalls ein Geschenk.
Überhaupt stand alles parallel oder im rechten Winkel. Geometrie. Bernd hasste Mathe.
Ihm stieg der Geruch von Möbelpolitur in die Nase. Er hatte den süßlichen Geruch schon immer gemocht. Seine Mutter hatte wohl gestern Abend die Schränke geputzt. Typisch.
Bei all der Ordnung fiel der Haufen Zettel, der auf dem Tisch lag, welcher von Sessel und Sofa eingekreist war, umso mehr auf. Bernd wusste, das seine Mutter heute Morgen verschlafen hatte, sie wollte den Stapel wohl heute wegräumen.
Er setzte sich in den bequemen Sessel und nahm den ersten, der ungefähr zwanzig Papierstücke und las.
Ihm stockte der Atem. Als er fertig war legte er ihn wieder auf den Haufen, und lehnte sich zurück. Er dachte nach. Das also hatte seine Mutter gemeint, als sie fragte, was er tun würde falls es...
Sofort nahm Bernd das zweite Blatt und las auch dieses, dann das dritte.
Als er fertig war lehnte er sich erneut zurück und sagte laut zu sich: „Es passt alles genau zusammen. Einmal im Jahr fährt sie ohne mich fort, ich geh zu Opa.: Sie besucht ihn. Einmal die Woche Post ohne Absender, die ich nicht öffnen darf. Die Briefe sind von ihm.“
Bernd durchwühlte den Stapel Zettel.
Eine Foto. Darauf war ein Junge zu sehen, der aussah wie er. Er war bloß schlanker, trug keine Brille und hatte keine Akne. „Wahrscheinlich ist er auch besser in der Schule als ich?!“ Bernd legte das Foto weg und stand auf.
Das was er eben gelesen, gesehen hatte, festige seinen Entschluss.
Er ging in den Flur, dann ins Bad. Noch einmal auf Klo, Hände waschen, abtrocknen. Bernd hatte sich informiert. Es war besser den Darm und die Blase zu entleeren. Nachdem Tod erschlaffen die Muskeln.
Er lief der Treppe entgegen, völlig ruhig.
„Vielleicht hat er mehr Glück als ich?“, dachte Bernd während er die Stufen hochstieg.