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Welke Ikone
Sie wartete geduldig in ihrem Hotelzimmer.
Das streng nach hinten gekämmte, graue Haar war zu einem Dutt geknotet, was ihrem Gesicht eine gewisse Härte verlieh, gleichzeitig aber auch die Falten an Stirn und Schläfen ein wenig glättete.
Ihre tiefbraunen Augen blickten nachdenklich und auch etwas unsicher auf die Kaffeekanne aus Porzellan, die auf dem Tischchen vor ihr stand.
Schon am Abend zuvor hatte sie heißen Kaffee und grünen Tee geordert, sowie kühle Milch, puren Kristallzucker, eine aufgeschnittene Zitrone und ein Kaffeeservice für zwei Personen.
Die alte Dame blickte auf die Uhr.
Die Journalistin ließ auf sich warten.
Früher war sie es, die warten ließ.
Manchmal stundenlang.
Heute war ihre große Zeit längst vorbei.
Ab und an gab man ihr noch eine mehr oder weniger bedeutende Nebenrolle in einem kleinen Film.
Große Auftritte blieben ihr jedoch verwehrt.
Nachdenklich spielte sie mit einem losen Faden ihres Wollpullovers.
Wer von den jungen Leuten würde denn Eintritt bezahlen, um eine Ikone des Films aus einer Zeit zu sehen, als man ihre Zeugung noch nicht einmal in Erwägung gezogen hatte?
Aber wozu mürrisch werden?
Sie erinnerte sich noch zu gut daran, wie es den alternden Stummfilmhelden ging, als ihre Karriere in Schwung kam.
Was sie störte war, dass sie die aktuelle, junge Schauspielergeneration als ihrer Lorbeeren unwürdig empfand.
Die jungen Männer mit ihren Knabengesichtern, die stolz auf ihre vegetarische Lebensweise waren, sich halbherzig karitativ und kaum politisch engagierten, bei Interviews auswendiggelernte Sätze aufsagten, während sie ihre gestählten Körper präsentierten.
Männer, die ihren Erfolg nur ihrem Äußeren zu verdanken hatten, das zufällig irgendeinem populären, stereotypen Charakter entsprach oder einfach nur von einer großen Anzahl pubertierender Mädchen als attraktiv empfunden wurde.
Noch ernster wurde ihre Miene, als sie an die jungen Frauen dachte, die in ihren Filmen entweder als charakterloses Beiwerk, farblose Hauptattraktion oder Masturbationsanimateurin auftraten, wenn sie nicht gerade in Designerkleidchen und dezent mit Designerschmuck behängt über einen roten Teppich stakten oder in einer Talkshow vor Millionen Zusehern ihr Herz ausschütteten und ihr enttäuschendes Liebesleben beklagten.
Ihre gesamte Karriere hindurch hatte sie sich gegen stereotype Rollenbilder verwehrt und sich stets einer Benachteiligung gegenüber ihren männlichen Kollegen widersetzt.
Auch das man sie auf ihre äußere Erscheinung reduzierte, hatte sie immer zu vermeiden gewusst.
Sie verspürte ein Verlangen nach einer Tasse grünen Tees, schenkte sich aber keinen ein, um den Eindruck von Trotzigkeit zu vermeiden.
„Es wird nicht mehr lange dauern.“
Die junge Frau, die gemeinsam mit ihr wartete, schien ihre Unruhe bemerkt zu haben.
Sie war die Assistentin der PR-Frau, die im Nebenzimmer die Hauptdarstellerin des Films betreute.
„Ich habe es nicht eilig.“, antwortete sie, um einen gleichgültigen Tonfall bemüht.
Sie blickte wieder auf die Wanduhr.
Siebzehn Minuten Verspätung!
Reflexartig erhob sie sich von ihrem Sessel, setzte sich aber gleich darauf wieder nieder.
Sie spürte den mitfühlenden Blick der Assistentin, erwiderte ihn aber nicht.
Siebzehn Minuten!
Eine Minute hätte sie verzeihen können, fünf wären beleidigend, aber siebzehn!
Siebzehn waren demütigend.
Wahrscheinlich hatte man sie längst vergessen.
Sie sah die Journalistin, die Hauptdarstellerin und die PR-Frau vor ihrem geistigen Auge beisammensitzen und über die neueste Kollektion irgendwelcher schwuler Italiener tratschen.
Vielleicht redeten sie sogar über sie.
Machten sich einen Spaß daraus, sie warten zu lassen.
„Soll ich nachsehen, ob sie schon fertig sind?“
„Nein.“
Ihr Tonfall war etwas zu aggressiv gewesen, ihre Stimme zu laut, als sie antwortete.
Die junge Frau hatte ein feines Gespür.
Sie versuchte die Situation zu entspannen.
„Wollen Sie vielleicht etwas trinken?“
Im gleichen Moment wurde ihr ihr Fehler bewusst.
„Nein, danke.“, war die höfliche Antwort.
Sie fühlte sich unbehaglich, überlegte, ob sie gehen sollte.
„Mir gefällt ihr Film sehr gut. Sie haben einen wunderbar tiefen Frauencharakter geschaffen.“
Die Kleine las in ihrem Gesicht, wie in einem Buch!
„Danke.“, etwas verlegen.
Im nächsten Moment klopfte es kurz an der Tür, die gleich darauf energisch geöffnet wurde.
Die PR-Frau und die Journalistin betraten das Zimmer, scheinbar erheitert.
Einundzwanzig Minuten zu spät.
Die Journalistin entschuldigte sich, ohne den Grund ihrer Verspätung zu nennen und nahm ungefragt gegenüber der alten Frau Platz.
Die PR-Frau verabschiedete sich von der Interviewerin und sagte der alten Nebendarstellerin, dass sie mit der jungen Hauptdarstellerin Essen gehen würde.
Natürlich nur, wenn ihr das Recht war.
Sie nickte teilnahmslos, ohne die Frau anzublicken und gab ihrer Assistentin zu verstehen, dass sie mit ihr gehen sollte, woraufhin sich diese mit einem leichten Nicken und einem schüchternen Lächeln verabschiedete.
Die Journalistin hatte mittlerweile ihr Aufnahmegerät aufgebaut und sich ungefragt eine Tasse lauwarmen Tee eingegossen.
Sie trug einen weißen Kaschmirpullover zu schwarzen Designerjeans und ledernen Halbstiefeln mit Bleistiftabsätzen.
Um ihren Hals hatte sie überflüssigerweise einen Seidenschal gewunden.
Das brünette Haar war etwa schulterlang und modisch geschnitten.
Die gekränkte Schauspielerin sagte sich, dass Alter, Figur und Gesicht der Frau, die ihr gegenübersaß, wohl nicht mit der Vorstellung der Designer übereinstimmte, die diese von der idealen Trägerin hatten, als sie ihre Kleidung entwarfen.
Bevor die Journalistin das Aufnahmegerät einschaltete, konnte sie es nicht unterlassen ihr, der alten Nebendarstellerin, zu sagen, was für eine begabte Schauspielerin und erfrischende Persönlichkeit die junge Hauptdarstellerin doch war.
Dann begann das Interview.
„Sie spielen in ihrem neuen Film eine verbitterte, alte Frau, die sich weigert mit ihrer Tochter zu sprechen.“
Die Journalistin fragte nicht, sie stellte fest.
„Ja, das stimmt.“, antwortete die alte Frau gelassen.
Ihr Gegenüber schien ein wenig überrascht.
Scheinbar hatte sie von ihr eine ausführliche Inhaltsangabe erwartet.
„Sie wurden für ihre Darstellung von den Kritikern mit viel Lob bedacht.“
Eine weitere Feststellung.
„Allerdings.“, antwortete die alte Dame entspannt.
Die Frau in Kaschmir versuchte es anders.
„Sie haben mit einem der kommenden Stars des Films gedreht. Hat Sie die Zusammenarbeit mit ihr inspiriert?“
„Nein.“
Sie musste ein Lächeln unterdrücken.
Die Journalistin schien verärgert.
Man sah ihr an, dass sie lieber mit der PR-Agentin und ihrer geliebten Aktrice zu Mittag essen würde, statt mit dieser spröden Alten in deren Hotelzimmer ein Interview zu führen.
„Sie gelten als Filmlegende. Welchen Eindruck haben Sie vom heutigen, modernen Kino?“
Dabei betonte sie die Wörter „Legende“, „heutig“ und „modern“.
„Ich gehe selten ins Kino. Die aktuellen Filme interessieren mich nicht. Sie sind oberflächlich, substanzarm und belanglos. Selbst die sogenannten Independentfilme können mich kaum überzeugen.“
„Widersprechen Sie sich da nicht gerade?“
„Inwiefern?“
„Einerseits sagen Sie, dass sie kaum noch ins Kino gehen, andererseits werten sie den modernen Film generell ab.“
„Wie ich bereits gesagt habe, gehe ich selten ins Kino. Ich bin aber oft zu Festivals eingeladen, bei denen ich die Möglichkeit habe mir einen Überblick über das gegenwärtige Kino zu verschaffen.“
„Nun gut. Themenwechsel.
Sie drehten ihren ersten Kinofilm in einer Zeit, als der Tonfilm längst etabliert war, aber immer noch überwiegend in Schwarzweiß gedreht wurde. Ihre erste Rolle war die einer naiven Tochter eines konservativen Rinderbarons.
Es ist bekannt, dass Sie selbst auch auf dem Land aufgewachsen sind und unter einem herrischen Vater litten.“
Die alte Dame hatte die Journalistin die ganze Zeit mit ihrem Blick fixiert, doch jetzt senkte sie den Kopf, zögerte, setzte zu einer Antwort an, brach ab.
Die Journalistin merkte, dass sie einen wunden Punkt getroffen hatte und fragte ein wenig zu freundlich: „Würden Sie unseren Lesern ein wenig über die damalige Zeit erzählen?“
Die Schauspielerin antwortete nicht gleich, sondern nahm erst wieder Haltung an, erwiderte den bewusst dümmlichen Blick der Journalistin und sagte: „Da gibt es nicht viel zu erzählen. Das Leben auf dem Land war damals nicht viel anders als heute, abgesehen von den technologischen Standards. Mein Vater behandelte mich nicht anders, als andere Väter ihre Töchter. Die Männer waren damals, speziell am Land, eben dominanter als heute. Das mussten sie sein, wenn sie sich und ihre Familien ernähren wollten.“
„Das mag sein, dennoch gab es immer Gerüchte darüber, dass ihr Vater . . .“
Die alte Dame unterbrach sie.
„Mein Vater ist, als ich fünfzehn Jahre alt war verstorben. Die diversen Gerüchte, die sie vernommen haben, wurden von den Klatschreportern der damaligen Zeit in die Welt gesetzt und in unautorisierten Biographien zusammengefasst. Ich vermute, dass sie als Vorbereitung auf das Interview mit mir eine dieser sogenannten Biographien gelesen und jede Behauptung darin für wahr genommen haben.
Falls Sie vorhaben diese Unterhaltung weiterhin auf diesem fragwürdigen Niveau zu führen, können Sie nicht mit meiner Teilnahme an diesem Gespräch rechnen.“
Die Journalistin war sichtbar verärgert über die Weigerung der Alten mit ihr über Vergangenes zu reden, als wäre sie eine langjährige Freundin.
Die Frau in Kaschmir schien der Meinung zu sein, dass sie einen Anspruch darauf hatte und dass es für die alte Schauspielerin als öffentliche Person eine Selbstverständlichkeit, wenn nicht sogar Pflicht, war, Fremden gegenüber ihr Privatleben darzulegen.
Da ein Meinungsumschwung seitens der vergangenen Ikone nicht zu erwarten war und sie noch einiger Wortmeldungen der alten Dame brauchte, überwand sie sich und fuhr fort.
Das Interview verlief von nun an ähnlich einer mündlichen Prüfung.
Die Journalistin stellte einige chronologisch geordnete Fragen über die Karriere der Schauspielerin und der Entwicklung des Films im Lauf der Zeit an sich und die distinguierte Dame berichtete wohlformuliert und emotionslos.
Danach nahm die modebewusste Frau ihr Aufnahmegerät vom Tisch, verstaute es in ihrer Tasche und verabschiedete sich.
Nun war sie allein.
Die Vormittagssonne schien durch die bogenförmigen, überdimensionalen Fenster ihres Hotelzimmers und erwärmte die abgestandene Luft, die nach alten Polstermöbeln roch.
Die alte Dame versuchte ihre Gedanken zu ordnen, die zwischen den verschiedenen Abschnitten ihres Lebens unkontrolliert wechselten.
Sie betrachtete ihre Hände, ihre Finger.
Die kleinen Finger, mit deren Nägeln sie das Kokain aufgenommen hatte.
Den Ringfinger, der von einem eleganten Platinring umfasst war.
Den Mittelfinger, den sie ihrem zweiten Mann beim Sex immer in den Anus einführen musste.
Den Zeigefinger, der damals den Abzug zurückgezogen hatte.
Den Daumen, an dem sie in der kurzen Zeit der Unschuld gelutscht hatte.
Sie stützte ihre Ellbogen auf ihre Oberschenkel, schloss die Augen und legte ihre Stirn in die Handflächen.