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Weltgeschichte
Gott besah sich Himmel und Erde. Sie waren wüst, leer und finster. Verwesungsgeruch benebelte die Sinne. Von allen Seiten quälten ekelerregende Schmatz- und Blubbergeräusche seine Nerven. Schmerzhaft zog Trauer seine Brust zusammen: Das war das Ende seines Werkes! Die Menschen hatten die Schöpfung zerstört.
Der Geist Gottes schwebte über dem Dreckklumpen namens Erde und suchte Trost. Wo fand er ein Quäntchen Gutes in der Katastrophe?
»Es werde Licht!«, schrie er in das Dunkel. Seine rechte Hand fuhr hoch, um dem Befehl Nachdruck zu verleihen.
Nichts geschah.
Hoffnungsfroh war er damals ans Werk gegangen. Sein Leben werde erfüllt sein mit der Freude über die Menschen und die Welt.
»Es werde Licht!« Er wiederholte die Zaubergeste.
Schwarze Wolken waberten herbei und nahmen ihm beinahe vollends die Sicht.
Wie anders hatte die Geschichte begonnen! Das Chaos verwandelte sich in den Kosmos. Das Licht schuf Hoffnung. Gott sprühte damals vor Schaffenskraft.
Was hatte er nicht alles in fünf Tagen erschaffen. In Gedanken wandelte er nochmals durch den Garten Eden mit seinen Gewässern, Hügeln, Gebirgen, Tälern. Die Frösche, Fische, Quallen, die Gazellen, Elefanten, Löwen, die Adler, Schmetterlinge und Bienen: Wo waren sie jetzt?
»Die Harmonie der ersten Tage machte mich übermütig«, dachte Gott. »Hätte ich nur aufgehört! Der verfluchte sechste Tag.«
Falsch sind die Berichte, Gott habe am siebten Tag geruht. Nein, er verrichtete Schwerstarbeit: Er musste den sechsten Tag aufarbeiten und die Menschen zur Vernunft bringen!
Im Schweiße ihres Angesichts ließ er sie hart arbeiten, dann hatte er fast alle ertränkt, der Feuersturm über Sodom und Gomorrha sollte sie an bessere Sitten heranführen.
Es nützte nichts: Mit Mord und Totschlag fielen sie übereinander her.
Moses brachte ihnen die Gesetzestafeln, David spielte Harfe, Salomon übte Gerechtigkeit.
Es nützte nichts: Die Stärkeren rafften alles zusammen, was sie kriegen konnten.
Propheten ermahnten zur Tugendhaftigkeit, Sibyllen prophezeiten die Zukunft, Johannes taufte und predigte.
Es nützte nichts: Die Menschen befriedigten gierig jede Lust.
Da griff Gott zur letzten Waffe: seinen Sohn. Sein Vorbild hätte den Geist der Menschen reinigen und bessern sollen.
Es nützte nichts: Sie haben ihn verlacht, gefoltert, getötet.
Als er sein eigen Fleisch und Blut am Kreuz hängen sah, dachte sich der schwebende Geist: »Das war die letzte Chance, meine Schöpfung zu retten.«
Von diesem Augenblick an saß er starr in einem Sessel und sah, wie die
Gläubigen die Ungläubigen,
die Reichen die Armen,
die Weißen die Farbigen,
die Kommunisten die Kulaken,
die Nazis die Juden,
die Herren die Sklaven,
die Intelligenten die Dummen,
die Starken die Schwachen,
die Banker die Sparer,
die Ärzte die Kranken,
die Besitzenden die Besitzlosen
die Männer die Frauen
die Erwachsenen die Kinder
beraubten, schlugen, vergasten, folterten, versklavten, quälten, erhängten, köpften, vierteilten, bespuckten, beschissen, zerquetschten, betrogen, ausbeuteten, verlachten, verachteten …
Was interessierte Musik, Wissenschaft oder Kunst die Menschen? Waffen waren ihre Leidenschaft. Die brauchten sie für die Erfüllung ihrer Wünsche. Darin steckten sie ihre Erfindungskraft, in ihnen fanden sie ihre Seele.
»Gut«, dachte Gott, »ich habe ihnen Waffen zugestanden. Aber doch nur Schwerter, Pfeile, Speere, harmlose Geräte zu eigenem Schutz und zum Jagen der Nahrung! Ehrenwerte Waffen.«
Dann aber erfanden sie das Schießpulver. Muskete: Hey, wie das knallte und blitzte: Tot war der Feind!
Immer schneller kamen die Kugeln. Maschinengewehr: dadadadadad … Hey, wie das ratterte: Viele Feinde tot.
Das Gas waberte über Schützengräben. Hey, wie das quält: Noch mehr Feinde tot.
Die Bomben fielen vom Himmel: Flugzeuge: Hey, wie das spritzt: Der Tod vieler Feinde von oben.
Die Erde wird aufgegraben: Minen: Hey, wie das zerfetzt: der Tod der Feinde aus der Erde.
In hohem Bogen bringen sie die Botschaft: Raketen: Hey, wie die ausradieren: der Tod vieler Feinde aus der Ferne
Dann die Atombombe: hey, der Tod aller Feinde.
Gott schaute auf die atomisierte Welt und rekapitulierte die Situation der letzten Minute noch einmal.
Zuerst meinte Ostland, das Westland hätte es bedroht, und schickte eine Atomrakete zur Hauptstadt Westlands. Noch bevor die Atomrakete über der Hauptstadt von Westland explodierte, schickte Westland eine Atomrakete zur Hauptstadt von Ostland und zugleich eine Atomrakete zur zweitgrößten Stadt Ostlands. Weil aber Ostland mit Südland verbündet war und Südland sich von Westland bedroht fühlte, schickte es eine Atomrakete zur zweitgrößten Stadt von Westland, hatte aber die Route falsch berechnet, sodass die Rakete in Richtung der Hauptstadt von Nordland flog, das sich bedroht fühlte und, noch bevor irgendeine Atomrakete explodiert war, eine Atomrakete in Richtung der größten Stadt Südlands abschoss und zeitgleich eine in Richtung der drittgrößten Stadt Ostlands und sicherheitshalber noch zur viertgrößten Stadt, sodass sich zu diesem Zeitpunkt sieben Atomraketen in der Luft befanden, die aber noch durch weitere Raketen, welche die Länder aufeinander abfeuerten, ergänzt wurden, sodass in der Minute Null, noch bevor eine Atomrakete explodiert war, siebenhundertsiebenundsiebzig Atomraketen todbringend durch die Lüfte schwebten - eine Zahl, die sinnlos war, denn jede einzelne Atomrakete hatte die Gewalt, die gesamte Menschheit in sechzig Sekunden zu töten. ob sie über Feindesland oder über dem eigenen explodierte.
Hey, wie das krachte.
Sinnend packte Gott seine Habseligkeiten zusammen, schulterte seinen Rucksack und verließ den Drecksklumpen Erde. An anderer Stelle wollte er es noch einmal probieren.