Hallo Wilhelm, Du weißt ja, wie gern ich streite. In den letzten Tagen habe ich noch ein wenig über Deinen Text und die dazugehörigen Kommentare nachgedacht und möchte noch mal nachhaken. Vieles von dem, was Du sagst, leuchtet mir ein. Da Du aber von den anderen Kommentatoren schon ausreichend bestätigt wurdest, möchte ich mich auf ein paar Punkte des Widerspruchs beschränken:
1) Die Bibel hat es gesagt
Ich habe die Darstellung und Interpretation menschlicher Verhaltensweisen in Deinem Text kritisiert und Du antwortest unter anderem sinngemäß: Ja, aber so steht´s in der Bibel. Ich verstehe nicht, wie die Bibel Behauptungen eines Textes von 2015 legitimieren kann. Ist die Bibel neuerdings eine unantastbare Referenz für geistes- oder naturwissenschaftlich belegbare Erkenntnisse? In der Bibel wird der Hase als Wiederkäuer bezeichnet, die Fledermaus als Vogel, ganz zu schweigen von den biblischen kosmologischen Vorstellungen und dem Verhältnis, das die darin beschriebene Lehre zu Darwin Evolutionstheorie hat.
Natürlich ist deshalb (naturwissenschaftlich betrachtet) nicht alles falsch, was im Alten Testament steht, aber eine Portion Skepsis wird wohl angebracht sein. Mit anderen Worten: Wenn Dein Text Behauptungen aufstellt, muss er diese mit den Grundlagen heutigen Wissens belegen oder zumindest begründen können. Anderenfalls ist das, was er behauptet, so beliebig wie die Aussage, auf dem Mars lebten grüne Männchen. Dann kann man nicht ernsthaft darüber diskutieren. Und ich gehe doch davon aus, Du wünschst Dir, dass man Deinen Text ernst nimmt.
2) Was ein Text behauptet
Ein Autor besitzt in der Regel nicht die völlige Kontrolle über die Behauptungen, die sein Text aufstellt. Wäre es anders, dann gäbe es keine Diskussionen darüber, was der Subtext einer Geschichte bedeutet oder bedeuten kann. Tatsächlich geht man in der Literaturkritik davon aus, dass dem Autor viele Aspekte seines Schreibens deshalb verborgen bleiben, weil er viel zu dicht an der Sache dran ist, um sie zu sehen. Allein schon Stärken oder Mängel in der Ausdrucksfähigkeit können dazu führen, dass eine Geschichte bei der Mehrzahl der Leser ganz anders ankommt, als sie vom Autor gemeint war. Wir besitzen keine völlige Kontrolle über die Wirkung unseres Verhaltens auf andere, und das gilt auch für unsere Äußerungen und Texte.
... denn - sprechen wir es aus – der Mensch ist böse. Das jedenfalls behauptet Dein Text.
Nachdem ist nicht weiß, was ein böser und dann auch ein guter Mensch ist, kann das gar nicht sein.
Natürlich ist das eine Interpretation, die ich herauslese. Aber, dass man sie nicht herauslesen könnte, weil Du nicht wüsstest, was böse oder gut ist, kann nicht stimmen. (Ohnehin ist das ein etwas eitles Understatement, denn bereits Kinder wissen, wer beim Rotkäppchen oder Schneewittchen die Rolle des Bösen einnimmt und was das dem allgemeinem Empfinden nach bedeutet.) Ein Autor kann frauenfeindlich schreiben, ohne dass er weiß, was das ist. Er kann auch pathetisch, sentimental, wertend, großkotzig schreiben, ohne eine genaue Vorstellung von diesen Einfärbungen zu haben.
Ich habe übersteigert, sicherlich, ich hoffe es, aber die Wirklichkeit übertrifft manchmal die Übersteigerungen.
Es geht mir nicht um die Kritik von Übersteigerungen. Ich kritisiere, dass Dein Text Zusammenhänge falsch (im naturwissenschaftlichen und historischen Sinne) darstellt und dass er (Ab-)Wertungen vornimmt, die nicht dazu beitragen, das Verhalten der Menschen besser zu verstehen:
Der Geist Gottes schwebte über dem Dreckklumpen namens Erde und suchte Trost. Wo fand er ein Quäntchen Gutes in der Katastrophe?
Dieses Beispiel ist nicht eine Übertreibung, sondern eine Abwertung. Und hattest Du nicht behauptet, der Text würde nicht über gut und böse reflektieren, weil Du nicht wüsstest, was das ist?
Es nützte nichts: Die Stärkeren rafften alles zusammen, was sie kriegen konnten.
Historisch falsch. Wir wissen heute beispielsweise, dass die menschlichen Urgemeinschaften nicht etwa eine auf Handel und Geschäft basierende Güterverteilung pflegten. Lange Zeit wurde behauptet – auch gern von dem Neoliberalismus nahestehenden Philosophen – die Menschen hätten schon immer nach dem Motto gehandelt: Wenn du mir dieses gibst, gebe ich dir jenes. Wir wissen jetzt, dass das nicht stimmt. In urzeitlichen Gemeinschaft wurde nicht nach dem quid pro quo Prinzip geteilt, sondern auf Vertrauensbasis. Es gab keine Aufrechnung - die Sammler sammelten, die Jäger jagten, alles kam allen zugute.
Natürlich wird es immer wieder Anwandlungen von Gier, von Hass und Gewalt gegeben haben. Wäre die Menschheitsgeschichte aber so, wie Du sie beschreibst, hätte sie es erst gar nicht bis in die Antike geschafft. Aus der historischen Forschung wissen wir eins mit Sicherheit: Der Mensch ist deshalb so erfolgreich, weil er vor allen anderen Dingen ein Teamplayer ist.
3) Das Leiden am Tragischen
Weshalb sind wir so beindruckt von den Katastrophen, vom Leiden, von den grausamen Aspekten der Geschichte, von den Tragödien, die sich in der Welt abspielen? Weshalb reagieren wir darauf so irrational und beschuldigen Gott (der es vermasselt hat), Satan (dessen destruktive Geistesverfassung die Welt brennen lassen will) oder den Menschen an sich (der unvernünftig, aggressiv, feindselig ist) für diese schlimmen Zustände verantwortlich zu sein?
Während jeden Tag schlechte Nachrichten (Unfälle, Krisen, Terroranschläge, Kriegsausbrüche) durch die Medien flimmern, bleiben viele Ereignisse unerwähnt, die zeigen, dass Menschen sinnvoll, uneigennützig, manchmal sogar weise handeln können. Diesen Job übernimmt dann Hollywood, kitscht es auf und macht daraus eine Helden- oder Liebesgeschichte.
Wir nehmen schlechte Nachrichten deshalb intensiver wahr, weil sie uns angst machen, verunsichern. All das Negative ist viel stärker in unserem Bewusstsein, weil eine schlechte Nachricht subjektiv als wichtiger empfunden wird: Wenn sich mein Nachbar freut über den wunderbaren Waldspaziergang, den er heute nachmittag gemacht hat, ist das weniger wichtig, als die Nachricht von meinem anderen Nachbarn, der im Wald von einer Schlange gebissen wurde. Denn diese Nachricht warnt mich, bezieht sich scheinbar auf meine eigene Sicherheit.
Darüber hinaus zeigt auch gerade das Mitgefühl für die Menschen, die unter schrecklichen Ereignissen (Flugzeugabstürze, Kriege, Hungerkatastrophen) leiden, dass wir eben nicht die Menschen sind, von denen Deinen Text spricht.
4) Die Mär vom "bösen" Menschen und den "guten" Tieren
Dein Text beschreibt den Menschen in der Summe als gierig, aggressiv, feindselig, gewalttätig, rücksichtlos in ihrer Lustbefriedigung. Da der Text die Ursachen dieser Verhaltensweisen im Menschen selbst verortet und auch nicht auf andere Eigenschaften hinweist, ordnet er – ob gewollt oder nicht - dem Menschen das Attribut des Bösen zu. Das Böse wird gerade in religiösen Kontexten als eine das Weltgeschehen beeinflussende Grundkraft verstanden und als Quelle des Übels beschrieben. So läuft es auch in Deinem Text, ob Du nun das Wort "böse" aussprichst oder nicht.
Kill or get killed bei den Tieren dient der Ernährung. In den menschlichen Kriegen essen sie sich nicht gegenseitig auf.
Naturwissenschaftlich betrachtet ist das falsch. Tiere töten in unterschiedlichen Situationen, aus vermutlich vielen verschiedenen Gründen. Büffel zertrampeln Löwen (in direkter oder vorweggenommener Selbstverteidigung), Löwen töten Löwenjungen anderer Männchen, um die Löwinnen zu erneuter Paarung anzuregen, Löwen töten Hyänen, Leoparden und Geparden (vermutlich, weil sie diese als Nahrungskonkurrenten und potenzielle Bedrohung ihres Nachwuchses ansehen), Elefantenmännchen töten sich manchmal gegenseitig im Kampf um die Weibchen, Flusspferde kämpfen bis aufs Blut aus territorialen Gründen, Schimpansen verletzen und töten einander häufig allein aufgrund von aggressiven Affekten (die Motive dafür sind nicht immer offensichtlich).
Wir wissen, dass Delphine und Menschenaffen vergewaltigen, dass sexuelle Gewalt innerhalb bestimmter Tiergruppen ein Mittel zur Durchsetzung von Rangordnungen ist. Natürlich beurteilen wir das anderes als bei Menschen, ganz einfach, weil wir bei Tieren nicht von den gleichen ethischen Grundlagen ausgehen. Aber dass sich Tiere untereinander niemals oder nur zum Nahrungserwerb feindselig und aggressiv verhalten, stimmt ganz sicher nicht. Der Mensch ist nicht deshalb zur Aggression fähig, weil er ein Mensch ist. Der Mensch ist fähig zur Aggression, weil er (wie Millionen anderer Lebewesen) ein Tier ist und Teil einer langen natürlichen Entwicklungsgeschichte darstellt.
5) Der Text versteht die Welt und den Menschen nicht
Dem Text liegt einerseits die (aus naturwissenschaftlicher, historischer, empirischer und logischer Sicht) falsche Annahme zugrunde, all das Üble, Schlechte, Beklagenswerte wäre dem Menschen gewissermaßen eingeschrieben. Gott versucht immer wieder den Menschen zu verbessern, aber er schafft es nicht. Das heißt, der Mensch ist unverbesserlich, er ist an und für sich und in sich selbst schlecht.
Es gibt noch eine zweite fehlerhafte Grundannahme, nämlich, dass die Vernunftbegabung des Menschen (eigentlich) all die destruktiven psychischen Impulse auflösen müsste.
Falsch sind die Berichte, Gott habe am siebten Tag geruht. Nein, er verrichtete Schwerstarbeit: Er musste den sechsten Tag aufarbeiten und die Menschen zur Vernunft bringen!
Im Schweiße ihres Angesichts ließ er sie hart arbeiten, dann hatte er fast alle ertränkt, der Feuersturm über Sodom und Gomorrha sollte sie an bessere Sitten heranführen.
Es nützte nichts: Mit Mord und Totschlag fielen sie übereinander her.
Der Text begreift überhaupt nicht, dass er damit unmögliches fordert. Selbstverständlich kann die Kultivierung von Vernunft – betrachtet man einen einzelnen Menschen – dazu führen, dass dieser seine destruktiven Motivationen immer genauer durchschaut. Bei entsprechendem Training kann er lernen, diese Impulse schrittweise zu überwinden. Aber das ist ein Prozess, den jeder Mensch durchlaufen muss. Die Kinder von Weisen und Friedfertigen werden nicht automatisch weise und friedfertig. Man kann den Mensch überhaupt nur verstehen, wenn man ihn im Kontext seiner Auseinandersetzung mit destruktiven Impulsen betrachtet. Zu fordern, der Mensch müsse von vornherein friedliebend, mitfühlend, uneigennützig sein und zu beklagen, dass dies nicht so ist, heißt die menschliche Psyche in ihrer Prozesshaftigkeit und Bedingtheit überhaupt nicht zu erkennen.
Das heißt, es wird immer – gerade junge – Menschen geben, die grausam und verantwortungslos handeln. Das ist kein Defekt. (Wir wissen beispielsweise, dass die Mehrzahl islamischer Terroristen und Gewalttäter in Afrika jünger als 18 Jahre und somit rechtlich gesehen Kinder und Jugendliche sind.)
Und eine dritte Fehlannahme des Textes geht dahin, dass die Vernunft des Menschen es doch zustande bringen müsse, ein gerechtes Gesellschaftssystem zu entwickeln, das dann in der Lage wäre, die destruktiven Impulse der Menschen irgendwie aufzufangen und umzuwandeln. Der Fehler dieser Annahme basiert auf der Unterschätzung der ungeheuren Komplexität sozialer Gesetzmäßigkeiten.
Immer wieder überraschen Professoren ihre Studenten der Politik- und Sozialwissenschaften mit einem erstaunlichen Experiment: Die Studenten sollen sich zusammensetzen und eine ideale, gerechte Gesellschaft entwerfen. Sie dürfen sich alle Mittel dazu ausdenken. Das Ergebnis dieses Experiments ist immer gleich: Selbst in der Theorie ist eine ideale, gerechte Gesellschaft unglaublich schwer zu konstruieren. Gerade wenn man glaubt, alle Stellschrauben korrekt justiert zu haben, wird bei tieferer Analyse klar, dass es Lücken gibt, durch die Ganze dann doch wieder in Frage gestellt wird.
Wenn Menschen also bisher keine gerechte, ideale Gesellschaft entwickelt haben, dann liegt das nicht an ihrer grundeigenen, exklusiven Schlechtigkeit, sondern (neben der Tatsache, dass man eine Gesellschaft nicht einfach am Reißbrett entwerfen kann) unter anderem daran, dass das rein organisatorisch extrem schwierig ist und die menschlichen Kenntnisse und Methoden dafür bislang nicht ausreichen.
6) Warum passt der Elefant ins Auge?
Auf einer tieferliegenden Ebene hat der Text und die ihm zugrunde liegende Weltsicht ein philosophisches oder genauer gesagt erkenntnistheoretisches Problem. Er schließt aus Beobachtungen auf Zusammenhänge, was ja zunächst einmal die Grundlage von Erkenntnis ist. Das Problem ist, dass er erstens nicht genau genug beobachtet und zweitens, dass er dem Augenscheinlichen auf den Leim geht: Der Mensch handelt in diversen Situationen aggressiv, gewalttätig, gierig, lustorientiert. Daraus wird geschlossen, dass das dem Menschen innewohnt, die Weltgeschichte dominiert sowie das Schicksal/ die Zukunft des Menschen besiegelt.
Wir hatten ja kurz die buddhistische Lehre als Gegenentwurf. Bereits die ersten buddhistischen Meister waren von einer tiefen Skepsis gegenüber dem sogenannten gesunden Menschenverstand, gegenüber dem Augenscheinlichen geprägt. Wenn wir die Welt so wahrnehmen, wie sie ist, wie kann es dann sein, fragten sie, dass der riesige Elefant in das kleine Auge des Menschen passt? Wir nehmen die Welt nicht so wahr, wie sie ist. Wir spiegeln, wir skalieren, wir färben, filtern, drehen, lassen weg, fügen hinzu, wählen aus, deuten. In Wirklichkeit ruht nichts in sich selbst. Alles steht mit allem in Verbindung. Deshalb kann es auch nichts "an sich Böses", "an sich Gewalttätiges" geben. Es gibt überhaupt kein "an sich".
Diese Sichtweise gestattete es sehr früh in der Menschheitsgeschichte, Situationen nicht als Zustände, sondern als bedingte Prozesse zu begreifen. Nichts ist aus sich selbst heraus so, wie es ist. Alles ist Produkt von Bedingungen und selbst wiederum Bedingung von neuen Prozessen. Die Idee, der Mensch könnte "an sich", exklusiv irgendwie, irgendetwas sein (egal ob gewalttätig oder mitfühlend) stellt sich vor dieser tieferen Sichtweise als Illusion heraus.
Demjenigen, der anklagen oder verurteilen will, sind solche Zusammenhänge natürlich egal. Demjenigen, der verstehen will, können sie nicht egal sein.
Alles Leben ist Leiden: Da hockt uns der Teufel doch im Genick. Alles Leben ist Freude! Was spricht dagegen?
Dagegen spricht eine ganze Menge. Wenn man sich mit der buddhistischen Lehre auseinandersetzt, taucht diese Frage mit großer Sicherheit früher oder später auf: Wenn die Erfahrung von Freude ebenso sicher zu unserem Leben gehört, wie die Erfahrung von Leid, weshalb macht Siddharta dann das Leiden zur Grundlage seiner Lehre? Weshalb sagt er nicht "Leben ist Freude" ?
Man kann sich dieser Frage nähern, indem man versteht, dass der Buddhismus nicht allein Philosophie ist. Er sucht nicht lediglich nach Erkenntnis. Es ist eine Weisheitslehre, die fragt, welche Erkenntnisse wichtig sind, um die Grundlagen für ein gelingendes Leben zu entwickeln. Und da aus psychologischer Sicht nicht das Streben nach Glück problematisch ist, macht Siddhartha die Freude auch nicht zum Ausgangspunkt seiner Lehre. Das Problem ist die Illusion (die auch in Deinem Text präsent ist), es könne ein Leben ohne Leid geben.
Unser Neigung, positive, glücklich-machende Impulse zu suchen und festzuhalten und frustrierende, schmerzhafte Erfahrungen zu vermeiden, zu ignorieren, umzudeuten führt dazu, dass wir uns immer wieder täuschen und falsch entscheiden und um so stärker leiden. Jemand, der Leiden, Schmerz und Verlust als vermeidbar ansieht, wird immer wieder enttäuscht werden. So wie der enttäuschte Gott in Deiner Geschichte. Siddhartha hätte ihm helfen können 
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Gruß Achillus