Wen interessierte das schon...?
Blinzelnd öffnete sie die Augen. Die Sonne wanderte schon fröhlich strahlend über den Himmel, lachte ihr ins Gesicht und versprach einen schönen Tag. Draußen erwachte das Leben. Autos krochen fauchend vorbei, Kinder schrieen lauthals, Hunde bellten wütend.
Die Frau lag einfach nur da. Atmete langsam. Blickte an die Wand. Eine Spinne suchte sich krabbelnd einen neuen Wohnort und huschte zielstrebig in die linke Schlafzimmerecke hinter den großen Kleiderschrank. ‚Ich mag keine Spinnen’, dachte sie und drehte sich auf die andere Seite. Versuchte, noch einmal einzuschlafen. Die Sonne suchte sich ihren Weg durchs Fenster und kitzelte sie an der Nase. Schließlich gab sie den Kampf gegen den hereinbrechenden Tag auf und setzte sich aufrecht, zog ihre Pantoffeln an, schlürfte langsam ins Bad, betrachtete sich im Spiegel.. Sie erschrak etwas und blickte weg. ‚Ich sollte den Spiegel abnehmen..’, dachte sie und nahm ihre Tabletten. Sie waren ihr lästig, diese Pillen, aber der Arzt hatte sie ihr letztes Jahr verschrieben und sie musste sie nehmen, ob sie wollte oder nicht. Drei der grünen am Morgen, zwei blaue am Mittag, und drei rote am Abend, andernfalls „bestehe erhebliche Gefahr“ für ihr Immunsystem, hatte der Arzt gemeint. Sie hasste ihn, und dennoch nahm sie jetzt die Tabletten, wusch sich, kleidete sich an und ging in die Küche, nachdem sie der fremden Gestalt im Badezimmerspiegel eine letzten, traurigen Blick zugeworfen hatte.
Sie stand am Küchentisch, setzte sich, stand wieder auf, schaltete das Radio an., dann setze sie Wasser auf. Aß ihr Frühstück eine Scheibe Brot mit Honig, trank ihren Pfefferminztee wie jeden Morgen. Doch auch heute konnte sie es nicht genießen...seit Olaf fort war, machte das alles irgendwie keinen Sinn mehr.
Seit 60 Jahren bewohnte sie nun schon die gleiche Wohnung im selben Haus, die gleiche Straße, das gleiche Viertel in eben jener Stadt. So vieles war die Jahre über gleich geblieben und doch hatte sich alles verändert. Im unschuldigen Alter von gerade mal 20 Jahren waren sie hier eingezogen. Frisch verheiratet, zu zweit, glücklich. Schon nach kurzem Zusammenleben kündigte sich das erste Kind an, nur Augenblicke nach der Geburt, so schien es, das zweite. Es wurden letztendlich zwei Mädchen, die eine wirklich glückliche Kindheit erlebten. Klar gab es auch Streit, den gibt es überall. Doch diese Familie konnte nichts trennen, so schien es.
Und dann, Jahre später, die Kinder längst erwachsen, kam eine Zeit in der sich alles veränderte. Seit ihr Mann Olaf im vergangenen Jahr gestorben war, war alles anders, im Haus zunehmend dunkler geworden...
Abrupt riss sie die Postfrau, die gerade die heutige Tagespost durch den Briefschlitz in der Tür schob, aus den Gedanken. Aufgeregt ging sie an die Tür, hob die Briefe auf. Doch ernüchtert stellte sie fest, dass es wieder nur die Zeitung und eine Telefonrechnung waren. Wieder kein Brief von ihrer älteren Tochter Sarah, kein Lebenszeichen von Julia, Sarahs Schwester. Wie jeden Tag...
Dann stellte sie sich einen Stuhl ans Fenster, setzte sich darauf, und betrachtete die Straße. So tat sie es täglich. Setzte sich einfach hin und wartete. Worauf, das wusste sie nicht. Um 10 Uhr kam der dicke Herr mit den Früchten vorbei, die prall gefüllten Tüten schienen auch heute wieder unter seinen Händen zu zerreißen, vielleicht taten sie es auch eines Tages. Es war ihr egal. Um 10:30 Uhr kam die Frau mit den beiden Hunden, die wohl nichts Anderes im Sinn hatten, als sich gegenseitig anzubellen, vorbeigelaufen. Sie funkelte ihre Umgebung entnervt an, rannte hektisch über die Straße, ein Auto kam mit quietschenden Reifen gerade noch zum Stehen. Dann war sie um die nächste Ecke verschwunden. Um 10:40 Uhr kam die Kindergartengruppe die Straße entlanggewuschelt. So war es beinahe jeden Tag. Die Frau am Fenster zählte nach, zählte 19 Kinder, eins weniger als gestern. Musste wohl krank geworden sein. Oder es war weggezogen. Oder beides. Aber das war ja doch nicht von Bedeutung.
Müde legte sie ihren Kopf auf die Unterarme, schaute weiter. Die Sonne setzte ihre Wanderung fort, stand bald fast senkrecht und besonders dicht über dem Haus, als schien sie der Frau am Fenster einen ganz persönlichen Besuch abstatten zu wollen. Die Frau saß einfach nur da, saß, bis sie nicht mehr sitzen konnte. Aß um 12 Uhr Mittag (ein schnell warm gemachtes Dosengericht), vergaß die Tabletten nicht und las dann Zeitung, wieder nur Verbrechen, Unfälle, Tod, Baustellen. Der Wellensittich Rudi eines gewissen Fräulein Meier war entflogen, Herbert Müller hatte dieses Jahr größere Kartoffeln als sein Nachbar Erwin Krause gezüchtet. Das Wetter morgen: Gewitter. Sie schlug die Zeitung zu, beschloss, wie jeden Tag, das Abo bald zu kündigen.
Die Stunden kamen, gingen ebenso schnell wieder, sie saß längst wieder am Fenster, die Augen monoton auf die Straße gerichtet, sah alles und doch nichts.
Da war er wieder, der wichtig aussehende Mann mit dem grauen Anzug und der viel zu kurzen Hose, die er wohl mehrfach zuhause im Schrank hängen hatte. Wie immer war er in Eile. Wohin er ging, woher er kam, das wusste sie nicht. Aber er tat ihr Leid. Er war immer im Stress, immer auf den Beinen. Solch ein Leben hätte ihr nicht mehr gefallen. Sie saß einfach nur da, schaute, lauschte dem monotonen Ticken der Küchenuhr. Fand, dass es im Hause wirklich still geworden war. Irgendwie starb es langsam vor sich hin. Nicht dass ihr dieser Vorgang bewusst geworden wäre, aber sie konnte es fühlen, spürte es tief in ihrem Innersten. Das machte sie krank.
Sie schaltete den Fernseher ein, fünf Minuten später wieder aus. Die Sendungen gefielen ihr nicht, das hatten sie nie. Im MDR wurde gerade der Zuschauer mit der längsten Nase gewählt. Und gewonnen hat: Uwe Fischer. Applaus aus dem Off, dann Zoom auf den Moderator. Mit seinem strahlendsten „Ich-bin-toll-und-die-ganze-Welt-solls-sehen-Lächeln sprach er die seit 10 Jahren gleiche Abschiedsformel: “Machen Sie’s gut, wir sehen uns morgen wieder wenn sie wollen!“ Wollte sie nicht.
Um 18 Uhr versuchte sie, ihre Tochter Sarah anzurufen. Nachdem sie eine Minute den Hörer ans Ohr gehalten, gewartet und angestrengt gelauscht hatte, legte sie auf, versuchte es bei Julia, gab es auf, sie waren ja doch nie zu erreichen. Aß Abendbrot, ging dann ins Bett. Nachdem sie viele Minuten wach liegend an die Decke gestarrt hatte (die Spinne hatte sich mittlerweile ein mittelgroßes Eigenheim errichtet) taumelten ihr die Tabletten ins Bewusstsein. Die drei Roten, sie hatte sie nicht vergessen. Sie fand, dass es vielleicht besser war, sie von jetzt an nicht mehr zu nehmen. Dann schlief sie ein. Vielleicht für immer. Doch wen interessierte das schon?