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Wen interessierte das schon...?

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29.07.2005
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Wen interessierte das schon...?

Blinzelnd öffnete sie die Augen. Die Sonne wanderte schon fröhlich strahlend über den Himmel, lachte ihr ins Gesicht und versprach einen schönen Tag. Draußen erwachte das Leben. Autos krochen fauchend vorbei, Kinder schrieen lauthals, Hunde bellten wütend.
Die Frau lag einfach nur da. Atmete langsam. Blickte an die Wand. Eine Spinne suchte sich krabbelnd einen neuen Wohnort und huschte zielstrebig in die linke Schlafzimmerecke hinter den großen Kleiderschrank. ‚Ich mag keine Spinnen’, dachte sie und drehte sich auf die andere Seite. Versuchte, noch einmal einzuschlafen. Die Sonne suchte sich ihren Weg durchs Fenster und kitzelte sie an der Nase. Schließlich gab sie den Kampf gegen den hereinbrechenden Tag auf und setzte sich aufrecht, zog ihre Pantoffeln an, schlürfte langsam ins Bad, betrachtete sich im Spiegel.. Sie erschrak etwas und blickte weg. ‚Ich sollte den Spiegel abnehmen..’, dachte sie und nahm ihre Tabletten. Sie waren ihr lästig, diese Pillen, aber der Arzt hatte sie ihr letztes Jahr verschrieben und sie musste sie nehmen, ob sie wollte oder nicht. Drei der grünen am Morgen, zwei blaue am Mittag, und drei rote am Abend, andernfalls „bestehe erhebliche Gefahr“ für ihr Immunsystem, hatte der Arzt gemeint. Sie hasste ihn, und dennoch nahm sie jetzt die Tabletten, wusch sich, kleidete sich an und ging in die Küche, nachdem sie der fremden Gestalt im Badezimmerspiegel eine letzten, traurigen Blick zugeworfen hatte.

Sie stand am Küchentisch, setzte sich, stand wieder auf, schaltete das Radio an., dann setze sie Wasser auf. Aß ihr Frühstück eine Scheibe Brot mit Honig, trank ihren Pfefferminztee wie jeden Morgen. Doch auch heute konnte sie es nicht genießen...seit Olaf fort war, machte das alles irgendwie keinen Sinn mehr.
Seit 60 Jahren bewohnte sie nun schon die gleiche Wohnung im selben Haus, die gleiche Straße, das gleiche Viertel in eben jener Stadt. So vieles war die Jahre über gleich geblieben und doch hatte sich alles verändert. Im unschuldigen Alter von gerade mal 20 Jahren waren sie hier eingezogen. Frisch verheiratet, zu zweit, glücklich. Schon nach kurzem Zusammenleben kündigte sich das erste Kind an, nur Augenblicke nach der Geburt, so schien es, das zweite. Es wurden letztendlich zwei Mädchen, die eine wirklich glückliche Kindheit erlebten. Klar gab es auch Streit, den gibt es überall. Doch diese Familie konnte nichts trennen, so schien es.
Und dann, Jahre später, die Kinder längst erwachsen, kam eine Zeit in der sich alles veränderte. Seit ihr Mann Olaf im vergangenen Jahr gestorben war, war alles anders, im Haus zunehmend dunkler geworden...

Abrupt riss sie die Postfrau, die gerade die heutige Tagespost durch den Briefschlitz in der Tür schob, aus den Gedanken. Aufgeregt ging sie an die Tür, hob die Briefe auf. Doch ernüchtert stellte sie fest, dass es wieder nur die Zeitung und eine Telefonrechnung waren. Wieder kein Brief von ihrer älteren Tochter Sarah, kein Lebenszeichen von Julia, Sarahs Schwester. Wie jeden Tag...
Dann stellte sie sich einen Stuhl ans Fenster, setzte sich darauf, und betrachtete die Straße. So tat sie es täglich. Setzte sich einfach hin und wartete. Worauf, das wusste sie nicht. Um 10 Uhr kam der dicke Herr mit den Früchten vorbei, die prall gefüllten Tüten schienen auch heute wieder unter seinen Händen zu zerreißen, vielleicht taten sie es auch eines Tages. Es war ihr egal. Um 10:30 Uhr kam die Frau mit den beiden Hunden, die wohl nichts Anderes im Sinn hatten, als sich gegenseitig anzubellen, vorbeigelaufen. Sie funkelte ihre Umgebung entnervt an, rannte hektisch über die Straße, ein Auto kam mit quietschenden Reifen gerade noch zum Stehen. Dann war sie um die nächste Ecke verschwunden. Um 10:40 Uhr kam die Kindergartengruppe die Straße entlanggewuschelt. So war es beinahe jeden Tag. Die Frau am Fenster zählte nach, zählte 19 Kinder, eins weniger als gestern. Musste wohl krank geworden sein. Oder es war weggezogen. Oder beides. Aber das war ja doch nicht von Bedeutung.

Müde legte sie ihren Kopf auf die Unterarme, schaute weiter. Die Sonne setzte ihre Wanderung fort, stand bald fast senkrecht und besonders dicht über dem Haus, als schien sie der Frau am Fenster einen ganz persönlichen Besuch abstatten zu wollen. Die Frau saß einfach nur da, saß, bis sie nicht mehr sitzen konnte. Aß um 12 Uhr Mittag (ein schnell warm gemachtes Dosengericht), vergaß die Tabletten nicht und las dann Zeitung, wieder nur Verbrechen, Unfälle, Tod, Baustellen. Der Wellensittich Rudi eines gewissen Fräulein Meier war entflogen, Herbert Müller hatte dieses Jahr größere Kartoffeln als sein Nachbar Erwin Krause gezüchtet. Das Wetter morgen: Gewitter. Sie schlug die Zeitung zu, beschloss, wie jeden Tag, das Abo bald zu kündigen.
Die Stunden kamen, gingen ebenso schnell wieder, sie saß längst wieder am Fenster, die Augen monoton auf die Straße gerichtet, sah alles und doch nichts.

Da war er wieder, der wichtig aussehende Mann mit dem grauen Anzug und der viel zu kurzen Hose, die er wohl mehrfach zuhause im Schrank hängen hatte. Wie immer war er in Eile. Wohin er ging, woher er kam, das wusste sie nicht. Aber er tat ihr Leid. Er war immer im Stress, immer auf den Beinen. Solch ein Leben hätte ihr nicht mehr gefallen. Sie saß einfach nur da, schaute, lauschte dem monotonen Ticken der Küchenuhr. Fand, dass es im Hause wirklich still geworden war. Irgendwie starb es langsam vor sich hin. Nicht dass ihr dieser Vorgang bewusst geworden wäre, aber sie konnte es fühlen, spürte es tief in ihrem Innersten. Das machte sie krank.

Sie schaltete den Fernseher ein, fünf Minuten später wieder aus. Die Sendungen gefielen ihr nicht, das hatten sie nie. Im MDR wurde gerade der Zuschauer mit der längsten Nase gewählt. Und gewonnen hat: Uwe Fischer. Applaus aus dem Off, dann Zoom auf den Moderator. Mit seinem strahlendsten „Ich-bin-toll-und-die-ganze-Welt-solls-sehen-Lächeln sprach er die seit 10 Jahren gleiche Abschiedsformel: “Machen Sie’s gut, wir sehen uns morgen wieder wenn sie wollen!“ Wollte sie nicht.

Um 18 Uhr versuchte sie, ihre Tochter Sarah anzurufen. Nachdem sie eine Minute den Hörer ans Ohr gehalten, gewartet und angestrengt gelauscht hatte, legte sie auf, versuchte es bei Julia, gab es auf, sie waren ja doch nie zu erreichen. Aß Abendbrot, ging dann ins Bett. Nachdem sie viele Minuten wach liegend an die Decke gestarrt hatte (die Spinne hatte sich mittlerweile ein mittelgroßes Eigenheim errichtet) taumelten ihr die Tabletten ins Bewusstsein. Die drei Roten, sie hatte sie nicht vergessen. Sie fand, dass es vielleicht besser war, sie von jetzt an nicht mehr zu nehmen. Dann schlief sie ein. Vielleicht für immer. Doch wen interessierte das schon?

 

Hallo Novus87,

und zunächst erstmal herzlich Willkommen hier. :)

Die Eintönigkeit des Alltags der alten Frau bringst du gut rüber. Fast so gut, dass es gegen Ende ein wenig langweilig wird. Denn natürlich kann in der Geschichte kaum etwas geschehen, das würde nicht zum Leben ihrer Protagonistin passen. Und in der Kürze der Geschichte ist das durchaus hinnehmbar. Dennoch habe ich ein wenig auf irgendein Ereignis gewartet, und am Schluss gibt es ja zumindest dann doch eine kleine Variation ihres Alltags - wenn auch eine folgenreiche. Hat mir ganz gut gefallen.

Kleinigkeiten:

Sie stand am Küchentisch, setzte sich, stand wieder auf, schaltete das Radio an., dann setze sie Wasser auf.
den ersten Punkt musst du streichen
Aß ihr Frühstück eine Scheibe Brot mit Honig, trank ihren Pfefferminztee wie jeden Morgen.
Komma nach Frühstück, außerdem fände ich es schöner, wenn du zu Beginn ein "Sie" ergänzt.

Liebe Grüße
Juschi

 

Ich habe keine Ahnung, wo die Grenze zwischen Gesellschaft und Alltag verläuft, in diesem Fall kommt mir beides plausibel vor. Je nach Blickwinkel.

Die Monotonie eines Lebens am Ende, der die Protagonistin nichts entgegenzubringen weiß. Ihre einzigen Bindungen sind familiärer Natur, diese verloren oder so lose, daß sie sich allein fühlen muß.

Ja, ein wenig einschläfernd (ob des Themas), aber gelungen, finde ich. Vielleicht liest Du noch einmal über die Sätze, ein wenig Schliff kann nicht schaden, und hier noch eine kleine Liste mit Textkram:

  • auf und setzte sich aufrecht - "auf" doppelt; "sich aufrecht setzen" kenne ich nicht, schlage "sich aufrichten" oder "sich aufrecht hinsetzen" vor
  • stand wieder auf, schaltete das Radio an., dann setze sie Wasser auf - wieder ein doppeltes "auf"
  • Aß ihr Frühstück eine Scheibe Brot mit Honig, trank ihren Pfefferminztee wie jeden Morgen. - Bereits von Juschi angemerkt. Möglich wäre auch ein Doppelpunkt nach "Frühstück".
  • Klar gab es auch Streit, den gibt es überall. - Das "Klar" will mir nicht in die Sprache der Protagonistin passen. Ebenso ergeht es mir mit "Off" und "Zoom".

 

Hi Novus,

kennst du das? Du schreibst eine Kritik und plötzlich streikt dein Computer und alles war umsonst. Vielen Dank auch.

Ok nochmal: Deine Geschichte gefällt mir gut. Leise, unaufdringlich und ohne große Worte erzählst du vom Alltag dieser alten Frau. Vielleicht inhaltlich ein wenig langweilig, aber das ist ja genau das, was du erzählen wolltest. Wie cbrucher kann man die Geschichte vom alltäglichen oder gesellschaftlichen Aspekt betrachten. Für mich hat der gesellschaftliche Aspekt überwogen, denn das Leben deiner Prot. ist ja bei Weitem kein Einzelfall. Die gesellschaftlichen Strukturen haben sich so stark verändert, das ältere Leute oft auf sich gestellt sind und keinerlei Zuspruch haben. Viele klammern sich dann an die Hoffnung, das ihre Kinder sich des Öfteren melden, vorbeikommen, sich kümmern. Die Kinder ihrerseits sind meistens viel zu stark von ihrem eigenen Leben in Anspruch genommen.
Obwohl man einiges über deine Prot. erfährt, hältst du ihren Charakter doch eher allgemein - das gefällt mir gut, denn es unterstreicht - wie ich finde - den gesellschaftlichen Aspekt noch stärker.

LG
Bella

 

Hallo Novus,

das Leben plätschert trostlos dahin. Wen interessiert es schon. Und in dieser Eintönigkeit ist es vielleicht konsequent, das Leben nur noch durch ein Fenster zu beobachten, nicht mehr daran teil zu nehmen. Das Leben besteht und bestand für deine Prot aus der Familie. Mit ihrem Fortgang hat sie auch das Leben verlassen. Keine Interessen, die sie aus dem Haus treiben würden.
Die kleine Studie ist dir gut gelungen. Und manchmal möchte man die Frau packen und sagen, dass es mehr gibt als das, auch jenseits der Seniorenkreise, für die wir uns meistens zu jung fühlen.

Ein (für mich) großes Manko:

seit Olaf fort war, machte das alles irgendwie keinen Sinn mehr.
bitte nicht in so einer schonen Beschreibung so eine falsche Formulierung. Passender fände ich ohnehin: seit Olaf fort war, war alles sinnlos geworden trotz des doppelten war

Lieben Gruß, sim

 

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