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Wenn der Wind weht

Beitritt
19.06.2001
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Wenn der Wind weht

WENN DER WIND WEHT

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Prolog

An jenem Tag redeten alle über den Mann, der Lee Harvey Oswald erschossen hatte. Die Radios und die wenigen Fernseher in unserer kleinen Stadt brachten nichts anderes. Für viele war es ein Sieg der Gerechtigkeit. Für uns war es des Tag, an dem wir unsere Kindheit endgültig hinter uns ließen. Es war Herbst. Es regnete. Und es gab einen toten Jungen, unten am See.

(Aus den Aufzeichnungen von Jeremy Plisken)

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01

Das Baumhaus war unser geheimer Treffpunkt, gleich nach dem quälend langen Unterricht in der Leverten-Highschool. Bereits zehn Minuten, bevor die seit dem von uns Schülern umjubelten Sabotageakt von Eddie Gambler nur noch kläglich klingelnde Schulglocke das Ende der letzten Stunde einläutete, warfen wir uns vielsagende Blicke zu und konnten vor Aufregung kaum stillsitzen. Die in unzähligen Stunden mit zahlreichen Schimpftiraden über die Beschaffenheit des Baumaterials errichtete Zuflucht vor der Tristesse, die Leverten fest in ihren Klauen hielt, war unser Ort, an dem wir noch das sein konnten, für daß wir uns immer noch hielten – Teenager. Wir wollten uns nicht mit Fragen beschäftigten, deren Antworten noch in weiter Ferne lagen, den ganzen Winter, den ganzen Frühling, den halben Sommer. Ob wir nächstes Jahr auf ein College gehen, einen Fließbandjob in der nahen Stahlfabrik antreten oder heiraten und den Haushalt führen würden. Wir wollten einfach wir sein, denn eines wussten wir: Der Zeitpunkt, an dem wir uns trennen und neue Wege gehen würden, rückte unaufhaltsam näher. Wir durchstöberten Tonnen von Schundcomics auf der Suche nach einer Bauanleitung für eine Zeitmaschine, aber entweder reichte das Geld für das Zubehör nicht, oder die selbst uns nicht völlig unbekannte Logik der Physik veranschaulichte auf ernüchternde Art und Weise die Grenzen der Machbarkeit. Es war zermürbend und niederschmetternd. Unsere fest verknoteten Bande lockerten sich jeden Tag ein kleines Stückchen mehr.

„Big J!“ Mit seiner tiefen Stimme riss mich Tony aus meinem Zustand. Es dauerte einige Sekunden, bis ich realisierte, daß ich im Schneidersitz an der Wand lehnend auf dem Boden saß. Tony nickte grinsend runter zu meinen Füßen. Der Geruch von verbranntem Gummi lag in der Luft. Ich sah zu meinen gerade mal drei Wochen alten Turnschuhen. Die glimmende Zigarette hatte ein kleines häßliches Loch in der Sohle verursacht. „Mist!“ fluchte ich, zog den Kippenstummel raus und schnippte ihn aus dem Fenster. „Wie lange war ich weg?“ Fragend sah ich zu Judy und Samuel.
Tony setzte sich neben mich und klopfte mir mit seinen riesigen Händen auf die Schulter. „Ich weiß von nichts, Big J. Bin gerade erst angekommen.“
Samuel sagte: „War nicht lange. Drei Minuten vielleicht.“
„Oh.“ Ich litt unter einer seltenen Krankheit. Bei mir konnte es von einem zum nächsten Moment vorkommen, daß ich einschlief. Nicht lange, aber es reichte, um mir nach dem Wiederaufwachen manchmal verwundert blaue Flecken anzusehen. Es störte mich nicht großartig, oft war es sogar wirklich hilfreich, bei Matheprüfungen beispielsweise. „Oh.“ murmelte ich erneut und zog mir eine Zigarette aus der Schachtel. „Möchte noch einer?“
Tony und Samuel schüttelten den Kopf. Judy dagegen stand auf und setzte sich zu mir. „Ich nehm eine, Big J.“
Ich reichte ihr die Packung und Streichhölzer. Meine drei Freunde, die einzig echten Freunde, wie ich sie nannte, hatten mit den Jahren gelernt, mit meiner Krankheit zurechtzukommen. Im Grunde genommen war keiner von uns normal, was die medizinische Ebene betraf: Tony Sambrusca hinkte auf dem linken Bein, Samuel Webber schielte auf eine sensationelle Art und Weise, und Judy Nicholsen hatte irgendwas im Kopf, einen Tumor oder was anderes. Während sie und ich an den Zigaretten zogen, sah ich ab und zu verstohlen zu ihr. Judy war wunderschön. Und ich fragte mich des öfteren, wie es wohl wäre, sie fest in den Arm zu nehmen und sie zu küssen.
Tony hatte sich inzwischen neben Samuel gesetzt. „Sag mal, Sam. Bei dir zu Hause alles in Ordnung?“
„Klar.“ antwortete Samuel. „Und bei dir?“
„Ja, auch.“ Er grinste. Es war sein typisches unwiederstehliches Grinsen. „Hab rechtzeitig die Kurve gekriegt, bevor der alte Sack seinen Gürtel gefunden hat.“ Tony sah zu mir. „Kann ich bei dir schlafen heute?“
Ich nickte. „Kein Problem. Meine Mom freut sich über jeden Besuch.“
„Hoffe nur, es gibt wieder diesen herrlichen Apfelkuchen, Big J. Da könnte ich mich reinlegen.“
Samuel legte einen Arm um Tonys Schulter. „Apfelkuchen, was? Da wirst du schwach, was?“
Judy und ich grinsten uns an. Sekunden später lagen wir lachend auf dem wackeligen Boden unseres Baumhauses. Schließlich sah ich Tränen aus den Augen wischend zu Tony und sagte: „Du mußt nicht fragen, ob du zu uns kommen kannst. Und das weißt du!“
Tony schluckte schwer und nickte. „Danke, Alter. Bin echt froh, daß es dich gibt.“
Ich zündete mir eine neue Zigarette an und lehnte mich an Judy. „He, kein Problem!“ Wir redeten und scherzten noch eine Weile herum, und als es langsam dunkel wurde, machten wir uns auf den Heimweg.

Meistens gingen wir zusammen bis zur Carnigan Street. Samuel mußte dann nach links, Judy nach rechts, ich geradeaus. Die Verabschiedung nahm nicht viel Zeit in Anspruch, da wir wußten, daß wir uns am nächsten Morgen wiedersehen würden. Außerdem waren wir uns einig, ein langwieriges Aufsagen von Phrasen und Floskeln verursachte genau die Wirkung, die wir bis zum bitteren Schluß so lange wie möglich verzögern wollten: Unsere endgültige Trennung. Ich sah Judy lächelnd hinterher. In ihren engen Jeans und der seidenen Bluse sah sie einfach überwältigend aus. Ich bekam Herzklopfen und einen leichten Schlag in die Rippen.
„Komm schon, Big J. Ich hab Hunger!“ brummte Tony.
„Ja, schon gut.“ Wir gingen an vielen Schaufenstern vorbei. „Glaubst du, Judy und ich... Naja. Glaubst du?“ Ich sah Tony nicht an. Ich wußte, daß er bis über beide Ohren grinste.
„Bist du in sie verknallt, Jeremy?“ fragte er.
„Weiß nicht...“
„Big J ist in unsere hübsche Judy verliebt.“ Er blieb stehen und lachte laut. „Du bist ein Spinner. Vergiß es. Da hast du keine Chance!“
Ich zuckte mit den Schultern und spukte auf den Bürgersteig. „Naja.“
„Jetzt zerbrech dir nicht dein hübsches Köpfchen. Los jetzt.“
„Ja, schon gut.“

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02

Das Haus, in dem meine Mom und ich wohnten, wurde meiner Schätzung nach in einer Zeit gebaut, in der Büffel noch existierten und Indianer sich als freie Menschen bezeichnen durften. Bei jedem Schritt knarrten die Holzdielen, die Treppenbenutzung zum ersten Stock glich einer Abenteuerexpedition für risikobereite Leute, und die Fenster sprangen beim kleinsten Windzug auf.
Meine Mom wartete bereits auf mich. Als sie Tony sah, lächelte sie freundlich, nahm erst ihn und dann mich in den Arm. „Tony Sambrusca! Welch eine Ehre, Eure Hohheit in unserer fürstlichen Residenz begrüßen zu dürfen.“ Dabei zwinkerte sie mir zu und ich verkniff mir ein idiotisches Grinsen.
Tony wurde knallrot im Gesicht. Er verlagerte das Gewicht auf sein gesundes Bein und stotterte, den Kopf gesenkt: „Äh... Äh... Danke, Mrs. Plisken.“
Der arme Kerl tat mir leid. „Jetzt hör schon auf, Mom.“ sagte ich und tat so, als ob ich meine Mom damit rügen wollte.
„Was ist? Vertragt ihr keinen Spaß mehr?“ Kopfschüttelnd stand sie auf und seufzte. „Na, wenn ihr schon mal da seid, das Essen ist fertig. Sollte gerade so reichen.“
Jetzt war Tony wieder in seinem Element. „Das ist schön zu hören, Mrs. Plisken.“ Er deutete zu mir und sagte: „Denn warum sonst sollte ich bei so einem Versager übernachten?“
„Ist ja gut!“ antwortete ich. „Na komm, wenn du dir schon bei uns den Bauch vollschlägst, kannst du wenigstens den Tisch decken.“
Meine Mutter stemmte ihre Arme in die Seiten und rief begeistert: „Hört! Hört!“
„Veralbern kann ich mich alleine!“ Tony sagte das irgendwie schmollend. Man konnte nicht wissen, ob es nur gespielt war. Bei Tony mußte man vorsichtig sein. Jemand, der seit frühester Kindheit geschlagen wurde, konnte vielleicht einige Scherze über sich verkraften, aber gewiss nicht jeden. Und sei er nur unbedacht in den Raum geworfen.
„He, Großer!“ sagte ich und zog ihn in das kleine Wohnzimmer. „Jetzt decken wir erst einmal den Tisch!“

Ich hörte jemanden meinen Namen rufen. Ich öffnete meine Augen und stellte fest, daß ich am Tisch saß, vor mir ein Teller mit Kartoffeln und etwas Gemüse. In meiner linken Hand hielt ich die Gabel, die rechte lag zur Faus geballt neben dem Teller. „Was?“ Jemand räusperte sich. Ich sah nach links. Tony stocherte mit seiner Gabel auf dem Teller herum und versuchte, eine der Erbsen mit den Zacken zu durchbohren. „Das ist ein sinnloses Unterfangen.“ sagte ich leise. Ich sah zu meiner Mom.
Ohne meine Frage abzuwarten, legte sie ihre Hand auf meine und sagte: „Zehn Minuten, Jeremy. Können auch mehr gewesen sein.“
„Na, das nächste Mal zählt ihr einfach laut mit!“ entgegnete ich ihr gelassen. Ich versuchte cool zu klingen, und obwohl mir klar war, dass einer wie ich niemals cool sein konnte, begannen die beiden zu lachen.
„Mensch, hab ich mir Sorgen gemacht, Big J!“ rief Tony prustend, dabei sich ein paar Kartoffeln aus der Schüssel schaufelnd.
„Na, und ich erst!“ sagte ich so ernst wie möglich. Jetzt hatte ich es endgültig geschafft. Meine Mom hielt sich kichernd die Hand vor den Mund, während Tony sich seinen dicken Bauch haltend fast das Glas Saft zum Umkippen brachte, so sehr wackelte der Tisch, an dem er sich festhielt.
Seelenruhig halbierte ich mit meiner Gabel eine Kartoffel. „Ein Glück, daß ich nicht beim Kauen eingeschlafen bin, was?“ Ich fühlte mich wie Jerry Lewis zu seinen besten Zeiten.

Später am Abend saßen Tony und ich in meinem Zimmer und redeten über alles Mögliche: Judy; das Attentat auf Kennedy; die bevorstehenden Prüfungen; hauptsächlich jedoch redeten wir über unsere Eltern.
„Weißt du, ich wäre froh, wenn ich eine Mom wie deine hätte.“ murmelte Tony. Er hatte sich aufs Bett gelegt und die Hände hinter seinem Kopf verschränkt.
Ich verzog das Gesicht. „Naja, sie kann manchmal einem den letzten Nerv rauben.“
„Wie meinst du das?“ Interessiert drehte sich Tony zur Seite und sah mich mit bohrendem Blick an.
„Naja...“
„Was? Erzähls mir!“
„Ich meine, sie ist die Liebenswürdigkeit in Person...“
Tony unterbrach mich. „Hättest sie mal vorhin sehen sollen, als du weg warst.“
„Was war denn?“
„Sie hat geweint.“
„Oh...“ Das war mir nicht aufgefallen. Normalerweise konnte ich gut erkennen, wenn jemand geweint hatte. Bei meiner Mutter an den leicht geröteten Augen, bei Tony an seinem kurzen Zucken mit den Mundwinkeln, wenn er zu Hause wieder einmal von seinem Vater erwischt wurde. „Ich hoffe, du hast ihr wenigstens ein Taschentuch gegeben, oder sowas ähnliches.“
„Ne, da hab ich gar nicht dran gedacht.“ Betroffenheit lag in seiner Stimme. „Mist!“
„Schon gut, Tony.“ Ich lächelte ihn an. „Wie sieht es bei dir aus? Mit deiner Mom?“
„Wie soll es da schon aussehen, Big J. Wie immer halt. Sie schweigt und hält sich aus allem raus.“ Er machte eine abfällige Handbewegung. „Ist doch auch egal. Wen interessiert das schon?“
„Mich. Judy und Samuel. Und meine Mom.“
„Ja...“ Tonys Mundwinkel begannen zu zucken.
Er drehte sich um, so dass ich sein Gesicht nicht mehr sehen konnte. „Tony?“ Manchmal ist keine Antwort auch eine Antwort, dachte ich. Ich sah zur Uhr. Noch eine Stunde bis Mitternacht. „Tony?“
„Du, Jeremy...“ Seine Stimme klang etwas gedämpft.
„Ja?“
„Schau mal in meiner Jackentasche nach. Die linke muß es sein, glaube ich...“
Ich stand auf und ging zur Tür, wo unsere Jacken hangen. Ich war vorsichtig. Bei Tony konnte man nie wissen, ob er einen Knallfrosch oder eine Mäusefalle mit sich rumschleppte. Aber ich mußte zugeben, daß ich im ersten Moment sprachlos war, als ich eine Pistole aus Tonys Jackentasche fingerte.
„Gefunden?“ fragte Tony.
Die Waffe lag schwer in meiner Hand. „Ich...“
„Von meinem Dad. Hab sie aus seinem Schrank geklaut.“ Immer noch lag er mit dem Gesicht zur Wand.
Ich stand an der Tür mit der Pistole in der Hand und sah zu ihm. „Sag mal, was willst du denn damit?“
„Keine Ahnung.“
Plötzlich bekam ich sowas wie Panik. „Tony? Wenn meine Mom...“
„Keine Angst, Big J! Keine Angst!“
„He, das ist verdammt noch mal eine Pistole!“ Langsam drehte sich Tony um. Ich konnte in seinen Augen kleine rote Linien erkennen, geplatzte Blutgefäße. „Hör mal, ich finde das nicht witzig!“
Tony setzte sich stöhnend aufrecht. „Mit einem Gürtel grün und blau geschlagen zu werden finde ich auch auch nicht witzig.“
„Jetzt sag mir, was du damit machen willst!“ fragte ich hartnäckig nach.
Er zog die Augenbrauen nach oben und grinste. „Morgen schießen wir mal ein bißchen. Ist doch nichts dabei, oder?“
„Ich...“ Das Gefühl, die Waffe in den Händen zu halten, war überwältigend. „Wahnsinn...“

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03

Auf dem Weg zur Schule am nächsten Morgen hatten Tony und ich nur ein Thema: Nach dem Unterricht sofort zum See und die Pistole seines Vaters ausprobieren. In der Nacht hatte ich schlecht geträumt und war ein paar Mal keuchend und klitschnaß aufgewacht. Mir fiel nicht ein, was in den Träumen passierte, vielleicht eine Art Vorahnung, oder was anderes. Ich verdrängte es.
„Bierflaschen...“ sagte Tony.
„Darauf willst du schießen?“
„Na klar, was dachtest du denn? Etwa auf Menschen?“
Ich winkte ab. „Ja, Bierflaschen sind okay.“
An Billshaws Krämerladen wartete Samuel auf uns. „Hey ihr!“
„Hi Sam!“
„Morgen, Samuel!“
Er musterte uns. „Was ist los? Habt ihr was ausgefressen?“
„Ne.“ sagte Tony. „Komm nachher mit zum See. Da gibt’s eine Überraschung.“
Ich grinste und raunte wichtigtuerisch: „Oh ja!“

Unsere Pläne wurden beinahe von Mr. Furlong untergraben, als dieses direkt aus der Mathematikhölle stammende, stets nach Alkohol riechende Ungeheuer es doch tatsächlich wagte, mich auszuwählen, den Kurs für die nicht ganz so guten Schüler zu leiten. Judy rettete mich, indem sie Mr. Furlong frech anlog und behauptete, dass Tony, Sam und ich bei ihrem Dad den großen Hof aufräumen mußten. Ich hätte sie auf der Stelle geheiratet, wenn es denn gegangen wäre. Die Stunden vergingen, der Unterricht zog an uns vorbei, und am Nachmittag standen wir vier endlich unten am See. Es hatte angefangen zu regnen.

„Also das nenne ich wirklich Überraschung!“ Fast feierlich hielt Samuel den Griff der Pistole umklammert und zielte auf ein imaginäres Ziel Richtung Wald. „Wenn dein Vater das rausbekommt, Tony. Mensch, da will ich gar nicht dran denken.“
Judy zog nervös an ihrer Zigarette. Im Gegensatz zu uns Jungs gefiel ihr die Sache überhaupt nicht. Irgendwie konnte ich sie verstehen. Der Gedanke, im Wald mit einer Pistole rumzuschießen, löste bei mir tief im Inneren etwas Unbehagen aus. Aber bei allen Überlegungen für das Wider, gewann letztendlich das Für. „Wird schon nichts passieren, Judy.“ sagte ich aufmunternd.
„Wenn du das sagst, Jeremy.“ Sie lächelte mich an.
Als ich „Ja.“ sagte, mußte das wohl auf eine höchst dämliche Art und Weise geschehen sein, denn Tony und Sam feixten, was das Zeug hielt. „Was?“
„Laß gut sein, Big J!“ Tony sah sich um. „Ah... Da hinten ist gut.“ Er zeigte auf einen umgestürzten Baum. „Gib mal die Flaschen.“
Ich gab ihm meinen Rucksack. „Komm nicht auf die Idee, den Rucksack mit aufzustellen!“
„Abwarten, Jeremy.“ Er ließ uns drei wortlos stehen und ging zu dem Baumstamm.
Samuel kratzte sich am Kinn und fragte Judy und mich: „Hat von euch schon mal einer geschossen?“
„Nein.“
„Nein, und das werde ich auch nicht.“ Judy verschränkte die Arme vor ihrer auf und ab bebenden Brust.
Ich mußte mich zwingen, nicht auf ihre kleinen, in meiner Phantasie oft liebkosten Brüste zu starren. „Nicht?“
„Nein, Jeremy. Und dabei wird es auch bleiben.“
Sam ging runter in die Hocke und hob einen kleinen Stein auf. Er ließ ihn spielerisch durch seine Finger gleiten. „Ich weiß nicht, hat schon einen Hauch von Abenteuer.“
„Yeah... Billy the Kid!“ Ich machte einen Ausfallschritt nach vorn, dabei streckte ich meine Hände nach vorn und tat so, als ob ich auf Tony schießen würde.
Tony war zurückgekommen und zeigte zufrieden auf die Reihe Bierflaschen, die er in einem Abstand von etwa zwanzig Zentimetern auf dem Baumstamm aufgestellt hatte. Ganz links stand mein Rucksack. „Sieht doch gut aus, oder?“ Dabei grinste er mich an.
„Okay...“ Sam sah sich die Pistole an. „Was ist mit Munition?“
„Gib mal her.“ Stirnrunzelnd sah sich Tony die Pistole an. „Na, da sind doch welche in der Trommel! Sechs Patronen, sechs Schuß!“ Er kramte in der Hosentasche seiner ausgebeulten Jeans. „Verdammt... Ah, da sind sie ja.“ In seiner Hand hielt er noch weitere zehn Patronen. „Macht für jeden... Na...“
Ich half ihm auf die Sprünge. „Macht für jeden vier, Tony.“
„Du sagst es, Big J!“
„Was ist mit Judy?“ fragte Sam. „Judy will nicht mitmachen.“
Erstaunt sah Tony zu Judy. „Echt nicht?“
„Nein!“ sagte sie kopfschüttelnd. „Und dabei bleibt es!“
„Okay.“ Er zuckte mit den Achseln. „Also, dann fangen wir mal an, was? Geht mal ein Stück zur Seite!“

In den Western, die bei uns in dem kleinen schäbigen Kino auf der Jericho Street liefen, redeten die Helden ganz normal, wenn sie so nebenbei ein paar hysterisch kreischende Rothäute von ihren Pferden holten. Nachdem Tony den ersten Schuß abgefeuert hatte und dabei durch den Rückstoß nach hinten umkippte, klingelte es in meinen Ohren und ich mußte schreien, um mich mit den anderen verständigen zu können.
„Wow!“ Tony rappelte sich auf. Sein Gesichtsausdruck sagte alles. Er hatte es genossen, den Schuß abzugeben. Daß er keine einzige Flasche, geschweige denn meinen Rucksack getroffen hatte, kommentierte er mit einem süffisanten „Übung ist alles, Leute!“.
Samuel knetete seine Finger. „Jetzt laß mich mal, Tony.“
„Ja, okay.“ Zögernd reichte er Sam die Waffe. „Den Hahn nach hinten runterdrücken, zielen...“
„Ja, ich weiß!“ entgegnete Sam barsch.
Irgendwie veränderte die Pistole uns. Ich wußte nicht, was es war, aber es geschah dennoch. Ich sah zu Judy, die sich mit beiden Händen die Ohren zuhielt und mit zusammengepreßten Lippen Sam zusah, wie der auf die Bierflaschen zielte. „Judy?“ Ich erhielt keine Antwort. Stattdessen ein weiterer Schuß und das Geräusch von zersplitterndem Glas. Sofort sah ich Richtung Baumstamm. Tatsächlich, Samuel, der am meist schielendste Mensch der nördlichen Halbkugel hatte es geschafft, einen Treffer zu landen.
„Cool!“ kommentierte Tony respektvoll Sams Leistung. „Bist ein Naturtalent, was?“
„Hm.“ Mehr sagte Sam nicht. Er schien vor Stolz größer geworden zu sein. „Wahrscheinlich nur Glück, Leute.“
„Was sonst!“ sagte ich. „Jetzt gib mir mal die Pistole. Wäre doch gelacht, wenn ich es nicht schaffen würde, meinen eigenen Rucksack zu treffen.“ Tony und Sam lachten über meine Bemerkung, doch Judy schüttelte nur leicht den Kopf. Für einen Rückzieher war es zu spät. Sam gab mir die Pistole. „Na, mal sehen...“ Seufzend spannte ich den Hahn. Jetzt oder nie. Ich zielte auf meinen Rucksack, schloß die Augen und drückte ab. Meine rechte Schulter wurde nach hinten gerissen, gleichzeitig fühlte ich, wie meine Arme nach oben gingen, meine Hände die Pistole fallen ließen und die Regentropfen wie kleine Meteoriten auf meiner ihnen zur Verfügung stehenden Haut einschlugen. Im Fallen sah ich in Judys Augen. Sie sahen wie kleine glitzernde Sterne aus...

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04

Gary Cooper stand vor mir, im Arm Grace Kelly, und hinter den beiden ein nostalgisch angehauchter Sonnenuntergang. Gary zwinkerte mir zu und sagte: „Wach auf, Big J!“ Ich nickte und hob die Hand zum Abschied. Die beiden lösten sich in Luft auf und das blasse Gesicht von Judy kam zum Vorschein. „He, Grace.“ Ich berührte sie sanft am Arm. „Nicht weggehen...“ Ich wurde gepackt und geschüttelt. „Wach auf, Alter!“ Tony... Benommen saß ich auf dem nassen Waldboden. „Was ist passiert?“ War ich etwa wieder eingeschlafen? Mist...
„Nachdem du die Waffe abgefeuert hast, bist du nach hinten umgefallen und... Naja, entweder war der Stein dran schuld...“ Tony zeigte auf einen hellen Stein, „Oder deine Krankheit...“
„Oh...“
Samuel half mir aufzustehen. „Geht’s wieder, Big J?“
„Ja, ich denke schon. Danke, Sam.“
„Ich hab mir Sorgen gemacht.“ sagte Judy leise.
„He, kein Problem.“
Tony klopfte mir den Dreck von meinen Sachen ab. „Blöder Regen! Wenn alles naß ist, ist es doppelt so schwierig, das Zeug runterzubekommen. Ach ja...“ Er grinste mich an. „Deinen Rucksack kannst du vergessen!“
Verwundert schüttelte ich den Kopf. „Was?“
Er nickte mit dem Kopf Richtung Baumstamm. „Ein astreiner Bauchschuß, würde ich sagen.“
Sam, Judy und ich starrten zu meinem Rucksack. Und zuckten zusammen.
„Was ist los, Leute?“ Tony drehte sich um. „Ist doch nur ein...“ Er verstummte und hielt sich an mir fest. „Was zum...“ Vor dem Baumstamm stand ein Junge. Er hielt sich eine Hand vor dem Bauch. Sein Gesicht war schmerzverzerrt.
„Seht ihr das?“ fragte ich entsetzt. Die anderen nickten. Keiner sagte etwas. Der Junge hatte ein weißes Shirt an. Und an der Stelle, wo er die Hand draufdrückte, konnten wir deutlich Blut erkennen.

Erstaunlicherweise war es Sam, der uns aus der steinernen Starre riss. „Los, kommt schon!“ Er rannte zum Baumstamm. Wir folgten ihm, wenn auch etwas zögerlicher.
„Das ist Justin Martins!“ schrie mir Tony zu.
„Ja.“ Keuchend erreichte ich den Baumstamm. Es war gespenstisch, ich fühlte mich wie in einen falschen Film versetzt, mit mir in der unbedeutendsten Nebenrolle der Welt. Der Junge, Justin Martins, lehnte am Baumstamm und hielt sich stöhnend den Bauch.
„Justin?“ fragte Samuel vorsichtig. „Kannst... Kannst du mich verstehen?“
„Muß mich setzen...“ flüsterte Martins und rutschte am Baumstamm runter. „Es schmerzt...“
Samuel ging in die Knie. Es war, als ob er und Martins vollkommen allein waren. Judy, Tony und mir blieb nur die Rolle des Zuschauers. Er berührte Justin am Arm. „Was ist passiert?“
Justin hustete und spuckte etwas Blut. „Ich war am See... Steine übers Wasser springen lassen...“ Er schluckte und hustete wieder. „Dann ein lauter Knall und ein Stich in den Rücken... Es schmerzt, Sam. Es tut weh. Es tut sehr weh...“
Fragend sah Sam zu uns. „Was sollen wir machen?“ Alles was wir tun konnten, war hilflos mit der Schulter zu zucken. „Verdammt!“ Er wandte sich wieder Justin zu. „Wir müssen dich hier wegbringen, Justin. Zu einem Arzt. Warte mal...“ Er legte eine Hand hinter Justins Kopf. „Ich...“ Als er Martins etwas nach vorne beugte, schrie dieser vor Schmerz auf. „Ich hab das mal im Fernsehen gesehen. Verdammt, die Kugel scheint noch drin zu sein.“ Samuel Webber, schüchterner Schieler, schien wie verwandelt. Er sah zu Judy, schüttelte den Kopf und sah dann zu mir. „Zieh deine Jacke aus, Jeremy!“ Als ich nicht reagierte, brüllte er mich an: „Zieh verdammt noch mal deine Jacke aus!“
Langsam zog ich meine Jacke aus und reichte sie ihm. „Was hast du vor?“
„Stell nicht solch dumme Fragen!“ antworte er barsch. Zu meinem verständnislosen Entsetzen riß er meine Jacke in zwei gleichgroße Stücke und band sie um Justins Bauch. „Wir müssen die Blutung stillen.“ Ohne uns anzusehen sagte er: „Eine Trage! Wir brauchen eine Trage! Geht lange Äste suchen, Tony, Jeremy! Judy? Du bleibst bei mir! Leg deine Hand hier vorne drauf... Na los!“
„Sam...“
Er sah Tony und mich wütend an. „Er stirbt, wenn wir uns nicht beeilen!“

Nach etwa zehn Minuten kamen Tony und ich schnaufend und keuchend zurück. Wir warfen lange dicke Äste auf den Boden. Tony stützte sich auf seinen Knien ab. „Da... Äste. Was jetzt?“
Ich legte eine Hand auf seine Schulter. „Zu spät.“ flüsterte ich. Sam und Judy saßen im Regen aneinandergeklammert auf dem Boden und weinten. Tony drehte sich um und übergab sich. Ich starrte in Justins tote, weit aufgerissene Augen. Und während ich mich fragte, ob sein Tod vielleicht mit meinem Schuß zusammenhängen könnte, sagte Sam stockend: „Wir haben ihn auf dem Gewissen. Wir haben ihn ermordet.“

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05

Ich hatte immer gedacht, der Tag, als mein Vater uns verließ, um oben im Norden einen besseren Job zu suchen, wäre der schlimmste Tag in meinem Leben gewesen. Ich mußte feststellen, daß dies nicht der Fall war. Stöhnend ging ich in die Knie und stützte mich mit meinen Händen im durchweichten Laub ab. Wir sollten ihn getötet, ja sogar ermordet haben? „Woher... Woher willst du das wissen?“ fragte ich mit brüchiger Stimme Sam. „Wieso wir?“
Er sah mich nicht an. „Wer sonst?“
„Was sollen wir tun?“ fragte Judy, die ihre Beine zu sich herangezogen hatte, und sie mit ihren Händen umhielt. „Was sollen wir denn jetzt tun?“
Tony stand neben Justins Leichnam. Er beugte sich runter und sagte: „Die Augen. Erst einmal die Augen.“ Vorsichtig fuhr er mit seiner Hand über Martins offene Augen. „Geschlossen...“
„Wir müssen zur Polizei!“ sagte Sam leise.
Ich stellte mir vor, wie wir vier mit Justins Leichnam im Vorzimmer des Office standen, wie die drei Hilfsheriffs uns mit offenen Mund anstarrten und Sheriff Kurgan uns unsere Rechte vorlas, während unsere Eltern sich angewidert von uns abwandten. „Was sollen wir denen sagen?“ wollte ich wissen.
Sam schluckte schwer. „Die Wahrheit.“
„Nicht mit mir!“ sagte Tony plötzlich. „Woher willst du überhaupt wissen, daß Jeremy ihn umgebracht hat?“
„Moment mal...“ fiel ich ihm ins Wort.
„Was willst du tun, Tony? Ihn im See versenken und alles vertuschen?“ Sam sah Tony ernst an, der unschlüssig hin und her wippte und sich dabei durch sein dichtes lockiges Haar fuhr. „Tony?“
Judy stand auf und kam zu mir. Wortlos nahm ich sie in den Arm und drückte sie an mich. Hier und jetzt ist der Wendepunkt in unserem Leben, durchfuhr es mich. „Jungs?“ Sie reagierten nicht. Sam und Tony standen sich gegenüber, zwischen ihnen Justin Martins. „Sam! Tony!“ Endlich sahen sie zu mir rüber. „Wenn wir zur Polizei gehen, dann ist alles aus!“ Judy schmiegte sich enger an mich.
Sam schüttelte wieder den Kopf und deutete zu Martins. „Wir haben hier rumgeschossen. Wir haben ‚Starker Mann‘ gespielt. Und jetzt liegt hier ein toter Junge. Justin Martins. Er war in der gleichen Stufe wie wir, Jeremy. Wir haben ihn umgebracht!“
„Es war ein Unfall!“ versuchte ich ihn zu beschwichtigen. „Ein Unfall...“
„Ach...“ Wütend winkte er ab und drehte sich um. „Mist!“
Tony hob die Pistole vom Boden auf, die ich fallen gelassen hatte. „Nichts von allem hier ist passiert. Wir werden Martins verschwinden lassen und alle Spuren beseitigen!“ Der Tonfall in seiner Stimme duldete keinen Widerspruch. „Also?“
Judy stieß sich von mir ab. Sie sah mich an, und ich direkt in ihre Augen. Wie Sterne... „Judy?“
„Ihr seid krank!“ brüllte sie plötzlich. Sie zeigte auf Sam. „Hört auf ihn!“
„Tony, Jeremy! Wir haben doch gar keine andere Wahl, verdammt!“ Beschwörend redete Sam auf uns ein. Doch Tony und ich hatten stillschweigend unsere Entscheidung längst getroffen. Vermutlich stand sie von Anfang an fest.
„Ich geh nicht ins Gefängnis!“ sagte ich schroff und stellte mich neben Tony.
„Dafür kommst du... wir kommen dafür in die Hölle!“ sagte Sam und legte Judy seine Hand auf die Schulter. „Wir können das doch nicht zulassen!“
„Es gibt keinen Gott!“ sagte Tony zu ihm. „Jedes Mal, wenn mein Alter den Gürtel über meinen Rücken zieht, bete ich, daß es vielleicht doch einen gibt.“ Obwohl es regnete, zog er seine Jacke und das Shirt aus. Dann drehte er sich um und wir konnten die vielen Narben und Streifen sehen. „Und da es keinen Gott geben kann...“ Langsam drehte er sich wieder zu uns. „Dann kann es erst recht keine Hölle geben, Samuel! Es war ein Unfall. Und wäre Martins nicht erst zu uns gekrochen, dann hätten wir das erst gar nicht mitbekommen. Es ist...“ Er hob seinen Kopf etwas nach oben und streckte seine Arme aus. „Ist es nicht Glück?“
Ich wußte, was er meinte. Justin Martins hätte auch an der Stelle sofort sterben können, an der ihn meine Kugel getroffen hatte. Oder war es die von Tony gewesen? Oder die von Sam? Irgendjemand hätte ihn gefunden, und die Polizei hätte festgestellt, daß er durch eine Kugel getötet wurde, die zu der Waffe von Larry Sambrusca passte. Einem kleinen Hebelchen folgte ein größeres. Und am Ende, wenn alle Hebel getätigt wurden, standen wir vier als Täter und Mittäter fest... Das Ende vom Lied. Aber der Zufall wollte es, daß Justin Martins nicht sofort an Ort und Stelle starb, sondern sich erst zu uns schleppte, um vor unseren Augen zu sterben. Auch wenn Tony nicht an einen Gott glaubte, so war ich davon überzeugt, daß irgendwer irgendwo diesen einen Hebel gezogen hatte, der uns diese einmalige Chance zur Bewahrung unseres bisherigen Lebens ermöglichte.
„Das ist Wahnsinn!“ sagte Judy.
„Es ist eine Chance!“ entgegnete ich ihr. „Wir können dafür sorgen, daß dies nicht passiert ist.“
„Die Polizei wird Fragen stellen.“ Sam sah mich trotzig an.
Tony zog sich das Shirt und die Jacke wieder an. „Und wir werden Antworten geben können.“
„Ja!“ Ich nickte. „Wir müssen nur zusammenhalten.“ Ich streckte meine Hand aus. „Wir müssen zusammenhalten. Anders geht es nicht.“ Tony legte seine Hand auf meine. Ich sah zu Judy. Sie seufzte und tat es Tony gleich.
„Zusammenhalten, was?“ sagte Sam verächtlich. „Wie sollen wir das schaffen?“ Er legte seine Hand auf Judys. „Können wir das schaffen?“
„Zusammenhalten!“ Ich sah Judy, Sam und Tony an. Das also war der Tag, an dem wir unsere wichtigste Entscheidung getroffen hatten. Ein jeder für sich, und doch alle irgendwie zusammen. Es war Herbst. Es regnete. Und zu unseren Füßen lag ein toter Junge namens Justin Martins.

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06

„Wie siehst du denn aus?“ fragte mich meine Mom, mit über den Kopf zusammengeschlagenen Händen. „Du bist ja völlig durchnäßt! Und wo ist deine Jacke, Jeremy?“
„Ist schon gut, Mom.“ sagte ich leise und ging nach oben. Ich wollte nur noch alleine sein.
„Oswald ist erschossen wurden.“ rief sie mir hinterher.
Ich blieb stehen und stützte mich am Treppengeländer ab. Warum freust du dich nicht, fragte ich mich. Ich kannte die Antwort. „Das ist... Das ist toll, Mom.“
„Alles in Ordnung mit dir, Jeremy?“
„Ja, Mom. Danke, mir geht es gut.“ Ich ließ sie stehen und schleppte mich in mein Zimmer.

Eigentlich hatte ich gehofft, daß mir meine Baseballkarten etwas Abwechslung verschaffen würden, doch nachdem ich in das dritte auf Anweisung des Fotographen freundlich lächelnde Gesicht blickte, schmiß ich die Karten in die Ecke. Abwechslung... Wir hatten Steine in Justins Jacke getan und ihn in den See geworfen. Uns blieb das Herz stehen, als er statt unterzugehen immer weiter raus trieb und sich dabei grotesk drehte. Als er im Regen fast nicht mehr zu sehen war, ging er plötzlich von einem Moment zum nächsten unter. Anschließend beseitigten wir alle Spuren und erdachten uns ein halbwegs glaubhaftes Alibi. Anstatt wie bisher über alles Mögliche plaudernd nach Hause zu gehen, schwiegen wir die ganze Zeit, bis wir die Carnigan Street erreicht hatten. Ohne uns anzusehen, verabschiedeten wir uns wortlos von einander. Abwechslung... Ich öffnete das Fenster und sog gierig die kalte feuchte Luft ein. Mit zittrigen Händen zündete ich mir eine Zigarette an. Im dichten Regen bäumte sich der Rauch kurz auf und wurde dann gandenlos von den Regentropfen in die Tiefe gerissen. Die Zigarette tat gut. Wie konnte das nur passieren? Wie nur? Ich hörte Schritte durch den Regen hindurch. Ich wußte, wer es war. Jahrelange Freundschaft verbindet. „Komm rauf!“ rief ich leise Judy zu, die sich sogleich anschickte, das rostige Abflussrohr hochzuklettern. In der Ferne konnte ich ein leises Grollen und Donnern hören. „Sei vorsichtig!“ bat ich sie und streckte ihr meine Hand entgegen. Dann zog ich sie mit einem kräftigen Ruck rauf.
Judy stützte sich auf der Fensterbank ab. „Hallo, Jeremy.“ sagte sie leise.
„Hallo, Judy.“ antwortete ich ihr. Diese Augen! Diese unglaublich funkelnden Augen.

Verlegen warf ich ihr ein ungebrauchtes Shirt zu, das sie gekonnt auffing. „Handtücher sind unten. Mußt damit auskommen.“
„Ist schon okay. Danke.“ Sie setzte sich auf mein Bett. „Wir müssen reden. Ich muß einfach mit jemandem reden.“
„Und da kommst du ausgerechnet zu mir?“ Ich setzte mich mit respektvollem Abstand zu ihr.
Judy rutschte näher an mich heran und ergriff behutsam meine Hand. „Ich habe es zu Hause nicht mehr ausgehalten. Die Sache schwirrt in meinem Kopf herum. Und...“ Sie seufzte leicht. „Der Tumor hat sich wohl zurückgemeldet. Ich hab starke Kopfschmerzen, ich...“
„Du solltest vielleicht zu Dr. Geffen gehen. Weißt du, ich...“
„Ich will zu keinem Arzt.“ Judy sah mir direkt in die Augen. „Ich will bei jemandem sein, der weiß, was ich jetzt brauche... Der mich... ich...“
Ich wußte nicht, ob ich sie richtig verstanden hatte, fragte aber auch nicht nach. Ich zog sie zu mir und gab ihr einen sanften Kuß. Ihre Reaktion bestätigte mich. „Ich bin bei dir, Judy. Die ganze Zeit schon.“
Sie fuhr mir durchs Haar und flüsterte: „Ich weiß. Ich weiß das, Jeremy.“
„Ja.“ Ich küsste sie wieder. Wir ließen uns nach hinten fallen und taten das einzig Richtige: Abwechslung...

„Glaubst du, daß Oswald der Mörder war?“ fragte sie mich später, als wir nackt nebeneinander im Bett lagen. „Glaubst du, daß er es war?“
Ich drehte mich zu ihr um und legte meinen Kopf auf ihren Bauch. Judys Atem war gleichmäßig, doch ihr Herz, das konnte ich hören und spüren, raste. „Ich weiß es nicht. Und...“ Ich überlegte kurz. „Er war es bestimmt, Judy.“
„Hm, ja.“ Sie streichelte meinen Kopf. „Wie wird das alles enden, Jeremy? Das mit Martins?“
„Ich weiß es nicht. Ich will da jetzt auch nicht drüber nachdenken. Nicht jetzt, Judy.“
„Jeremy?“
„Ja?“
„Ich habe meine Unschuld verloren.“
„Das haben wir alle, Judy. Das haben wir alle.“ Ich erhielt keine Antwort.

-
07

„Judy?“ Als ich aufwachte, war Judy verschwunden. Das ferne Grollen und Donnern war zu einem mächtigen Gewitter angewachsen, das direkt über Leverten wütete. War ich eingeschlafen? Hatte sie mich einfach so liegen gelassen? Ich hörte, wie Glas zu Bruch ging, ein abstoßendes Geräusch. Ich sah zum Fenster. „Mist!“ Der Wind war so stark, daß die Fenster heftig gegen die Rahmen schlugen. Offenbar bestätigte sich meine Theorie über den Bau unseres Hauses. „Mist!“ Fluchend stand ich auf und sah mich suchend nach etwas um, mit dem ich die Glasscherben aufsammeln konnte. Draußen donnerte und blitzte es. Als ich endlich den Mülleimer inmitten eines chaotischen Wäschehaufens ausmachen konnte, krachte es draußen so gewaltig, daß ich vor Schreck erstarrte. Sekunden später hörte ich das Geräusch von berstendem Holz, etwas Gewaltiges durchschlug das Dach, von der Decke fielen Steine und Holzbalken, eine dichte Staubwolke umnebelte mich, ich fühlte ein Kitzeln an meinem Gesicht, und ich merkte, wie etwas Warmes an meinen Beinen herunterlief. Unfähig mich zu bewegen schloß ich meine Augen und betete, daß das alles nur ein böser Traum war. So reagierte ich auch nicht, als jemand an meiner abgeschlossenen Tür rüttelte und meinen Namen rief. Erst als der Staub sich etwas gelegt hatte, als ich mit weit aufgerissenen Augen realisierte, daß die nach verbrannten Blättern riechende Krone des seit Jahrzehnten vor unserem Haus wachsenden Baumes in meinem Zimmer lag, mich nur Millimeter von spitzem Geäst trennten, wankte ich langsam zur Tür und schloß sie auf. Ich wußte nicht, was mich mehr ängstigte: Der unsagbar panische Gesichtsausdruck meiner Mutter; die Tatsache, daß ich mir vor Angst in die Hosen gemacht hatte; der Baum, der mein Zimmer verwüstete; der plötzliche Gedanke, daß das mit Judy nur ein Traum gewesen sein könnte; oder der tote Junge im See, Justin Martins. Hilflos hob ich meine Arme. „Mom?“ Das alles wurde zuviel für mich. Ich schloß meine Augen und wartete auf die gnädige Ohnmacht, die mich wenige Augenblicke später wohlwollend in ihre Arme nahm...

Ich saß mit Tony am Küchentisch, während Polizei, Feuerwehr und noch Dutzende andere Hilfskräfte aufgeregt durch unser Haus rannten und wild gestikulierend miteinander stritten, wer wie was machen sollte und in wessen Zuständigkeitsbereich was und warum zu fallen hatte.
„Schöner Mist!“ brummte Tony und füllte mein leeres Glas mit Saft nach. „Tut mir leid, Big J.“
„Warum bist du eigentlich hier?“ Ich nickte schwach zu der kleinen Uhr, die hinter uns an der Wand hing. „Es ist vier Uhr morgens!“
„Ich weiß.“ Mehr sagte Tony nicht.
„Das ist alles?“
„Ja.“ Er trank einen Schluck Saft. „Das ist alles.“
„Das ist ein Zeichen!“ Ich war über mich selbst erschrocken, daß ich das gesagt hatte.
Tony stellte sein Glas ab und räusperte sich. „Jetzt werd nicht albern, Big J! Genausogut hätte der Blitz auch bei den Farellys nebenan einschlagen können.“
Ich lehnte mich etwas nach vorne. „Hat er aber nicht! Und weißt du was? Ich...“ Kopfschüttelnd trank ich das Glas Saft aus. „Als der Baum da mitten in meinem Zimmer lag, ich... Es war beinahe so, als ob er versucht hat, mich zu erschlagen!“
„Wer? Der Baum?“ fragte Tony belustigt nach.
„Du kannst mich mal!“ sagte ich mürrisch und stand auf. „Oswald ist erschossen wurden. Wußtest du das schon?“
„Ja, hab ich mitbekommen. Aber hör mal, Jeremy! Das war nur ein Zufall! Wir müssen Ruhe bewahren, oder wir kommen in Teufels Küche, verdammt!“ Er sagte das auf eine fast drohenden Art und Weise.
Ich zuckte mit den Schultern und sagte: „Ich dachte, du glaubst nicht an Himmel und Hölle?“
„Es ist nur eine Redensart. Versuch nicht, mich als dumm darzustellen. Das kann ich nicht leiden!“
„Das...“
„Schon gut, Big J. Schon gut.“ Er sah zur Uhr. „Ich werde jetzt gehen. Schätze, morgen kommst du nicht in die Schule.
Ich winkte ab. „Nein, gewisse Umstände lassen das nicht zu.“ Ich versuchte zu lächeln. Hoffnungslos.
„Also bis bald, Jeremy.“
„Ja. Danke, daß du da warst, Tony.“
„Wozu sind denn Freunde da?“

Zwei Stunden und einen ungewollten Schlafanfall später saß ich mit meiner Mom in unserer Küche. Die vielen Leute von der Feuerwehr und Polizei waren inzwischen verschwunden. Der Baum, der durch das Dach geschlagen war, lag hinterm Haus. Notdürftig waren Planen angebracht wurden, damit der Regen unserem Haus nicht den Rest gab. Die obere Etage war nicht mehr begehbar. Einige Zeit würden wir wohl nun auf engstem Raum es miteinander aushalten müssen. Mir war bewußt, wie sehr sich alles verändert hatte. Meine Beziehung zu Judy. Zu Tony. Zu Sam. Zu mir selbst. Die Ereignisse der letzten zwölf Stunden hatten mein Leben gehörig über den Haufen geworfen. Es zählte nicht mehr, wie ich mich vor dem monotonen Job in der Stahlfabrik drücken oder einen der wenigen heißbegehrten Studiumplätze ergattern konnte. Was zählte, waren die nächsten Tage und Wochen. Wie wir es schaffen würden, alles irgendwie unbeschadet zu überstehen. Wobei ich daran natürlich zweifelte. „Mom?“ Sie rührte gedankenverloren in ihrem Kaffee. „Mom!“
Wie aus einem dunklen Traum aufgewacht, schreckte sie hoch. „Ja? Jeremy?“
Ich rutschte näher heran und kuschelte mich an sie. „Ist Dad damals wirklich wegen eines neuen Jobs von uns weggegangen?“ Ich rechnete mit keiner Antwort, aber...
„Es war nicht nur wegen der Arbeit, Jeremy.“ Sie fuhr mir durchs Haar. „Da war so vieles. So vieles. Hm, wo soll ich anfangen? Hm?“
Ich schloß meine Augen. „Ganz am Anfang?“ Ich hörte das Donnern und Krachen des Gewitters. Dennoch wollte ich mich in diesem Moment nicht mit den Problemen auseinandersetzen, die sich in jüngster Vergangenheit ereignet hatten. Ich wollte vielmehr etwas über mich selbst wissen. Ob ich vielleicht Schuld hatte, daß Dad uns verlassen hatte. „Das ist der schlimmste Tag in unserem Leben, Mom. Sag einfach, was du denkst. Okay?“
Sie gab mir einen Kuß und sagte leise: „Okay.“
„Okay.“ Ich spürte den Wind, der sich leise pfeifend seinen Weg durch das Haus bahnte. Und dieses leise Pfeifen hatte etwas Bedrohliches an sich. Ich schmiegte mich enger an meine Mom, während sie mir das erste Mal erzählte, warum Dad in Wahrheit nicht mehr mit uns zusammen sein wollte.

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08

Drei Tage später schickte mich meine Mom gegen meinen Willen wieder in die Schule. Ich ließ mir Zeit und kam ungefähr zehn Minuten zu spät. Ich klopfte an die Tür meines Klassenraumes, und ohne eine Antwort abzuwarten öffnete ich die Tür und trat ein. Wo vorher noch ein aufgeregtes Durcheinander zu hören war, herrschte augenblicklich Stille. Mit gesenktem Kopf schlich ich durch die Reihen und vermied den Blickkontakt mit meinen Mitschülern.
„Schön, daß du wieder da bist, Jeremy.“ sagte Mr. Norten, unser Englischlehrer.
Ich setzte mich und nickte kurz angebunden. „Ja.“ Mehr sagte ich nicht.
Mr. Norten lächelte freundlich, runzelte aber gleichzeitig die Stirn. „Was du in den letzten Tagen verpaßt hast, kannst du dir sicherlich von einem deiner Mitschüler erklären lassen. Und...“
„Uns geht es gut. Danke, Mr. Norton.“
„Fein. Ich war gerade dabei…” Er deutete hinter sich zur Tafel. „Englische Literatur.“
„Das ist toll, Mr. Norten.“ Ich hoffte, ihm mehr als deutlich mein Desinteresse klar gemacht zu haben. Mr. Norten drehte sich um und ging wieder nach vorn. Ich erhaschte den Blick von Judy, die mich anlächelte. Tony grinste vielsagend. Und Sam? Sam saß über einem Sück Papier gebeugt und kritzelte irgendwas mit dem Bleistift. Dann knüllte er das Papier zusammen und warf es mir schnell zu. Gekonnt fing ich es auf und faltete es unter dem Tisch auseinander. ‚Nach dem Unterricht Treffen im Baumhaus’ stand da. Ich sah zu Sam und nickte ihm zu.

Am Nachmittag saßen wir vier in unserem Baumhaus und lauschten dem Regen. Irgendwie hatte es etwas Feierliches an sich. Kleine Tropfen fielen vom oberen Rand des Fensters nach unten, so langsam, daß der dichte Regen im Hintergrund fast wie ein Wasserfall anmutete. Meine drei Freunde klärten mich auf, was in den letzten drei Tagen passiert war.
„Sie suchen jetzt im Umkreis von fünfzig Meilen nach Martins.“ sagte Sam leise.
Judy und Tony saßen stumm da und rauchten. „Seit wann rauchst du, Tony?“ fragte ich verwundert.
Er winkte ab. „Unwichtig. Hör dir lieber an, was Sam zu sagen hat, Big J!“
„Danke.“ sagte Sam sarkastisch. „Also die Eltern haben Justin als vermißt gemeldet. Wie gesagt, im Umkreis von fünfzig Meilen suchen sie das Gebiet ab. Für morgen hat sich das FBI angekündigt.“
„Das FBI?“
„Ja. Nicht nur das. Sie wollen jeden Schüler einzeln vernehmen. Nicht nur die Schüler, praktisch die ganze Stadt.“
„Woher weißt du das?“
„Mußte nachsitzen. Und da hab ich ein Telefonat von Direktor Gershwinson belauscht. Daher weiß ich das.“
„Oh...“ Zitternd holte ich mir eine Zigarette aus der Packung und zündete sie mir an. Der Rauch, der durch meine Lungen wanderte, und nicht ganz vollständig wieder zurück kam, tat gut. „Man, das ist ja was.“
„Du sagst es.“ Tony schnippte seine Zigarette aus dem Fenster. „Also wir haben drei Schüsse gemacht, unten am See.“ Er legte seinen Kopf etwas quer. „Die Trommel hab ich wieder aufgefüllt. Die restliche Packung irgendwo in den Keller gehauen... Bei der Unordnung ist das ziemlich egal. Außerdem hab ich mich kundig gemacht. Die Pistole, die wir benutzt haben, hat so gut wie jeder. Ihr versteht, was ich meine?“ Herausfordernd sah er uns an.
„Ja, schon.“ sagte Judy leise. „Was ist mit deinem Rucksack, Jeremy?“
„Mein Rucksack? Der liegt bei mir zu...“ Ich verstummte und schluckte schwer. „Werd ich heute Nacht entsorgen, okay?“
„Unsinn!“ schnaufte Tony und sah uns kopfschüttelnd an. „Deinen Rucksack haben wir mit den Bierflaschen entsorgt. Also, wenn wir uns jetzt schon widersprechen, wie soll das dann erst morgen und die nächsten Tage werden?“
Sam stand auf und ging zum Eingang des Baumhauses. „Alles wie besprochen! Wir waren die ganze Zeit hier im Baumhaus und haben Karten gespielt. Wie Big J schon sagte: Zusammenhalten!“
Ich verzog das Gesicht. „Wie konnte ich...“ Weiter kam ich nicht.

Wenn ich einen Schlafanfall bekam, war das wie ein tiefer, fester und traumloser Zustand, der mich für einige Minuten, manchmal sogar Stunden gefangen nahm. Doch dieses Mal war alles anders. Ich war immer noch im Blockhaus. Aber alles war verzerrt. Judy, Tony und Sam sahen wie verschwommene Wesen aus, die ihren Mund öffneten und tiefe gedehnte Geräusche von sich gaben. Vor mir öffnete sich ein langer dunkler Korridor, der mich unaufhaltsam ansog und zu verschlingen drohte. Ich versuchte zu schreien, doch mein Mund schien wie verschmolzen zu sein. Mich um die eigene Achse drehend raste ich auf den Korridor zu. Es gab einen grellen Blitz, wie wenn ein Fotograph eine Aufnahme an einem dunklen Ort macht. Links und rechts sah ich dicht gesponnene blutrote Netze, hinter denen wie aus dem Nichts in rascher Reihenfolge Bilder auftauchten: Babyfotos, lachende Gesichter, Weihnachtsfotos, erster Schultag. Ein Gesicht war immer mit dabei, auch wenn es sich kontinuierlich mit jedem neuen Bild veränderte, älter zu werden schien. Ich hatte vollkommen die Orientierung verloren, wußte nicht, wo oben und unten war, wußte nur, daß ich geradezu auf einen kleinen hellen Punkt zuraste, der immer größer wurde. Und dann konnte ich das Gesicht einer Person zuordnen. Justin Martins. Plötzlich gab es einen zweiten grellen Blitz und ich stand direkt vor Justin Martins. Er streckte seine Hände nach mir aus. Widerwillig ging ich auf ihn zu, wissend, daß mich gleich ein Paar Hände berühren würde, welches zu einem toten Körper gehörte, der seit knapp vier Tagen irgendwo auf dem Grund des Sees lag. Ich hörte wieder die gedehnten Stimmen von Judy, Tony und Sam. Etwas zog mich wieder zurück. Martins ließ seine Hände sinken und sah mich mit seinen leblosen Augen traurig an. Bevor ich durch den Korridor zurück raste, rief er mir etwas hinterher. Ich konnte es nicht genau hören, aber in einem war ich mir mehr als sicher. Das Wort ‚Gewissen’ war mit dabei gewesen. Ich wachte mit einem lauten Schrei auf.

Zuerst sagte keiner was. Dann sprach Tony kurz die Sache mit dem Baum an, der mich angeblich absichtlich erschlagen wollte. „Ich dachte, wir wären Freunde!“ giftete ich ihn wütend an. „Du kannst aber auch nichts für dich behalten!“
„Beruhig dich, Jeremy!“ Langsam hob Tony seine Hände etwas nach oben. „Ich meine...“
„Wie sah er aus?“ wollte Judy wissen.
„Wie sah wer aus?“
„Martins. Hast du ihn deutlich gesehen?“
Tony schüttelte verzweifelt den Kopf und zündete sich eine Zigarette an. „Jetzt dreht sie auch noch durch!“ sagte er zu Sam, der ohne was zu sagen am Eingang des Baumhauses stand.
Ich ignorierte Tonys Bemerkung über Judy. „Ich weiß nicht. Irgendwie... aufgedunsen, ganz blasse Haut, fast weiß. Und seine Augen waren so starr. Ich...“
„Das ist Blödsinn, Big J! Und das weißt du auch!“ Langsam wurde Tony wütend. „Das war alles nur ein... ein wirrer Traum. Mehr nicht!“
„Es war aber trotzdem real. Auch wenn es gleichzeitig nicht real war. Verstehst du das, Tony? Ich meine, was hatte ich denn schon mit Martins zu tun? Ich kannte ihn nur flüchtig. Und plötzlich sehe ich Fotos aus seiner Kindheit. Also wenn das nicht seltsam ist.“
Tony schluckte und spuckte aus dem Fenster raus. „Glaub mir, du bildest dir das nur ein, Big J! Vielleicht ist das alles zuviel für dich. Das mit dem Haus, dazu der Unfall. Deine Krankheit...“
„Oh, neuerdings Medizin studiert?“ Das war das erste Mal seit einer ziemlich langen Zeit, daß ich mich mit Tony in den Haaren lag. So richtig in den Haaren lag.
„Du kannst mich mal!“ Er zeigte uns eine obzöne Geste und kletterte aus dem Baumhaus.
Sam lächelte mich verlegen an. „Er hat es bestimmt nicht so gemeint.“
„Nein, bestimmt nicht.“ antwortete ich.
„Nun.“ Er zeigte nach draußen. „Ich werd jetzt abhauen. Wir sehen uns morgen in der Schule. Denkt daran, was wir vereinbart haben.“
„Bis morgen, Sam.“ sagte Judy leise und griff nach meiner Hand.
„Keine Angst, Sam.“ Meine Fingerspitzen berührten ihre Finger. „Das wird schon.“
„Klar!“ Sam kletterte umständlich raus.
Nun waren nur noch Judy und ich da. Sanft fuhr ich ihr mit meiner Hand durchs Haar. „Du warst plötzlich weg.“ sagte ich leise.
„Tut mir leid.“ Sie öffnete die Schnalle meines Gürtels. „Ich machs wieder gut.“
„Wie denn?“
„Ruhig, Jeremy! Ruhig!“

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09

Trotz des Windes und der Kälte lagen wir nackt auf dem feuchten Holzboden unseres Baumhauses und lauschten dem Konzert des Regens. Es war noch schöner als das erste Mal gewesen. Leidenschaftlicher. Intensiver. Und dennoch kam es mir vor wie ein Traum, aus dem ich gleich panikartig aufschrecken würde. „Kneif mich!“ bat ich Judy.
„Wozu?“
„Nur so.“
„Okay.“
Der Schmerz kam plötzlich und unerwartet. „Argh!“ Ich richtete mich auf. “Bist du verrückt? Das hat weh getan!“
„Entschuldige...“ Verschmitzt sah sie mich an, während ihre linke Hand spielerisch meinen Rücken rauf und runter fuhr. „Jeremy?“
Fasziniert beobachtete ich die rötliche Stelle auf meinem Bein, in die Judy gekniffen hatte. „Ja?“
„Glaubst du, es ist Liebe?“
Ich zögerte mit einer Antwort. Seit Jahren war ich in sie verliebt. Seit Jahren betete ich sie an. Und jetzt, nach den letzten Tagen... „Ich weiß es nicht. Ich weiß es wirklich nicht.“
„Hm...“ Judy sagte nichts weiter.
„Wir müssen bald los.“ Ich traute mich nicht, sie anzusehen. Stattdessen schloß ich meine Augen und lauschte dem Regen, der stärker geworden war. Das Gewitter über Leverten hielt nun schon ein paar Tage an. Und so wie es aussah, machte es auch keine Anstalten, die kleine Stadt zu verlassen. Plötzlich fiel mir ein, was meine Mom über Dad gesagt hatte, seine wirklichen Beweggründe, uns unserem eigenen Schicksal zu überlassen. „Mein Dad ist nicht wegen eines neuen Jobs nach Norden gezogen.“ Ich sagte das leise, gleichzeitig irgendwie gelassen, als ob es das normalste auf der Welt war.
„Warum sagst du das?“
Ich zuckte mit den Schultern. „Weiß nicht. Es kam mir gerade in den Sinn.“
„Möchtest du es mir erzählen?“ Sie nahm die dünne Jacke und legte sie sich über ihre Schultern.
„Möchtest du es denn hören?“
„Ich hätte dich sonst nicht gefragt.“
Es war seltsam. Draußen regnete es. Wir saßen nackt in unserem Baumhaus und hatten vor wenigen Minuten miteinander geschlafen. Und nun erzählte ich Judy, warum mein Dad uns damals verlassen hatte. „Es war nicht wegen des Jobs. Auch nicht wegen meiner Mom. Es lag an mir, Judy. An mir.“ Ich hielt für einen Moment inne, um ihre Reaktion zu sehen. Judy sagte nichts, sondern schmiegte sich enger an mich heran. „Er ist mit meiner Krankheit nicht fertig geworden. Mom sagt, daß er deswegen anfing zu trinken. Dad konnte es einfach nicht ertragen, daß ich...“ Ich schnippste mit den Fingern. „Daß ich so plötzlich weg sein konnte. Gerade spielt er noch mit mir, und dann... Dad war wohl kurz davor durchzudrehen. Vielleicht war es sogar gut so. Wer weiß, was passiert wäre.“
Judy hatte Tränen in den Augen. „Er hat euch in Stich gelassen! Dich und deine Mom!“
Ich legte meinen Kopf etwas quer. „Ich weiß nicht. Vielleicht war es wirklich besser so.“
„Habt ihr noch Kontakt zu ihm?“
„Nein. Und wenn, dann sagt es Mom nicht.“
„Bedrückt es dich?“
„Weiß nicht. Vielleicht...“ Es tat mir im Herzen weh, sie anzulügen. Aber aus irgendeinem Grund konnte ich Judy nicht sagen, wie sehr es mich zeriss, Schuld an Dads Weggang zu haben. „Ich meine, seit Jahren leben wir ohne ihn. Von daher...“ Ich machte eine sinnlose Handbewegung in die Richtung, in der meiner Ansicht nach Norden lag.
„Jeremy?“
„Ja?“
„Ich liebe dich!“ Judy konnte lachen, schreien oder so wie jetzt weinen. Ihre Augen blieben stets die gleichen: Funkelnde Sterne, deren Anblick sich man einfach nicht verschließen konnte.
„Ich... ich liebe dich auch, Judy!“ Ich nahm sie fest in meine Arme. Und obwohl ich in diesem Augenblick an nichts weiter denken wollte, als nur an uns zwei, kam mir der morgige Tag in den Sinn. Die Befragung der Bundespolizei. „Ich liebe dich so sehr!“ Eine starke Windböe schoß durch das Baumhaus und wirbelte Judys Jacke von ihrer Schulter. Ich hätte nach der Jacke greifen können, tat es aber nicht. Während Judy ihr Gesicht gegen meine Brust drückte und ich ihre Tränen spüren konnte, sah ich der Jacke nach, die tanzend im dichten Regen verschwand. Morgen war ein großer Tag für uns. Morgen würde sich zeigen, ob wir zusammen hielten, oder nicht.

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10

Meine Mom stellte mir wortlos ein Glas Milch auf den Tisch. Seit der Baum der oberen Etage kurzfristig den Krieg erklärt und auch gewonnen hatte, vermied ich, so oft es ging, länger als eine halbe Stunde mit ihr zusammen zu sein. Der Platz war einfach nicht ausreichend. Ich brauchte meine Freiräume. Schon immer, seit ich denken konnte. „Danke.“ murmelte ich und trank einen Schluck. Den Toast ließ ich unangetastet liegen. „Muß los.“
„Jeremy?“
Ich war schon fast an der Tür gewesen. Stöhnend drehte ich mich um. „Mom?“ Ihr Anblick erschreckte mich. Sie sah irgendwie verwahrlost aus. Ihre einst glänzenden Haare, auf die sie so stolz gewesen war, hingen in losen Büscheln matt herunter. Dunkle Augenringe verdeutlichten, wie wenig Schlaf sie in den letzten Tagen bekommen hatte. Dazu der schmutzige Bademantel, den sie trug. Ich zwang mich, in ihr Gesicht zu sehen, und nicht auf ihre schlaffen Brüste und den faltigen Bauch, die unter dem halboffenen Mantel zu erkennen waren. „Mom? Was ist? Ich komme zu spät!“ Sie stand an der Küchentür angelehnt und sagte kein Wort. „Mom!“ Fast hatte ich den Eindruck, ich hätte sie mit meiner Schlafkrankheit angesteckt. „Mom!“
Sie zuckte zusammen. „Ich...“ Nur noch die Wand verhinderte es, daß sie umkippte. „Jeremy? Kanntest du Justin Martins?“ So gut wie sie es konnte, sah sie mich eindringlich an. „Sagt dir der Name was?“
„Ja.“ antwortete ich gequält. „Einer aus meiner Stufe.“
„Er wird vermißt.“
„Ich weiß.“
„Du weißt es?“
„Mom! Jeder weiß das!“
„Ja... Warte noch!“ Sie griff hinter die Ecke und hatte dann ein Shirt von mir in der Hand. „Was ist das?“
Wie versteinert starrte ich auf das Shirt. Ich hatte es getragen, als wir im Wald unten am See mit der Waffe geschossen hatten. Die kleinen roten Flecken wirkten fast hypnotisch. War es Blut? Aber wie sollte Martins Blut an mein Shirt gelangt sein?
„Verheimlichst dur mir was, Jeremy?“
Ich schüttelte den Kopf. „Muß mich wohl irgendwo gestoßen haben. Ich komme zu spät!“ Eine Antwort wartete ich nicht ab. Ich rannte aus dem Haus in den Regen hinein und lief zur Schule. Das Donnern und Blitzen des anhaltenden Gewitters nahm ich kaum noch war. Nur den Regen, der sich von Tag zu Tag veränderte. Zwanzig Minuten später hatte ich völlig durchnäßt endlich die Schule erreicht. Keuchend stand ich in der kleinen Vorhalle. Draußen vor dem Gebäude standen unzählige Wagen. Ich mußte nicht lange raten, zu wem die Autos gehörten. Ein Schirm, dachte ich. Wir brauchen unbedingt einen Schirm. Denn wer wußte schon, wann es aufhören würde zu regnen?

Keiner wußte, was sich die Lehrer dabei gedacht hatten, einen ganz normalen Unterricht durchzuziehen. Sie mußten doch wissen, daß dies von vornherein zum Scheitern verurteilt war. Mr. Norten hatte nach ungefähr zehn Minuten ein Einsehen und überbrückte die Wartezeit eines jeden Schülers bis zu seinem Verhör durch das FBI mit langweiligen Buchbesprechungen. Vor Beginn der Stunde hatte Tony mich kameradschaftlich in die Seite geboxt und gemeint: „He, war doch nicht so gemeint, Big J!“ Ich hatte genickt und ihm gesagt: „Alles verziehn und vergessen.“ Sam dagegen hatte mit mir kein Wort gewechselt, nur nervös an seinen Fingernägeln gekaut. Erst als Tony ihn kräftig auf die Schultern haute, lächelte er etwas und sagte was von „Zusammenhalt“ und „Zuversicht“. Mir war es irgendwie egal. Es war ein gutes Gefühl, sich mit Tony wieder zu verstehen. Aber vielmehr beschäftigte mich die Frage: Wo, verdammt, war Judy?

„Jeremy Plisken?“ Der große Mann in dem dunklen Anzug hatte Mühe, meinen Nachnamen richtig auszusprechen, obwohl er so einfach war.
„Ja, hier.“ Bewußt selbstsicher hob ich meine Hand. „Ich bin Jeremy Plisken.“
„Kommen Sie mit!“ forderte mich der Mann auf.
„Klar!“ Ich stand auf und ging unter leisem Gepfeife und Tuscheln aus dem Klassenraum. Am Büro von Gershwinson angekommen, deutete mir der Mann an, mich auf die unbequeme Holzbank zu setzen, die rechts neben der Tür stand. Die Tür war leicht angelehnt, und so konnte ich Wortfetzen aus dem Gespräch zwischen Gershwinson und einem anderen Mann aufnehmen. „...nicht gefunden. Offiziell wird Parker noch als vermißt gemeldet...“ „...kaum glauben, was Sie da sagen. Eulen? Wie...“ „...seltsame Geschehnisse in Little Utah...“ Es ergab für mich keinen Sinn. Wer war Parker? Mehr Zeit zum Nachdenken hatte ich nicht. Gershwinson stand plötzlich in der Tür und deutete mir an, in sein Büro zu kommen. Langsam stand ich auf. Irgendwie hoffte ich, daß ich einen meiner Anfälle bekam, doch mir war klar, daß dies Wunschdenken war.
Drinnen saß auf einem Stuhl neben dem Schreibtisch des Direktors ein dicker Mann, der sich mit einem Taschentuch den Schweiß von der Stirn wischte. Als er mich sah, lächelte er freundlich und sagte: „Ich bin Special Agent Bruce Tripplefood. Ich werde hier die Befragung der Schüler im Fall Martins durchführen. Und du bist?“
Ich war immer noch fasziniert von der Tatsache, daß man an einem kalten Herbsttag in einem schlecht beheizten Raum schwitzen konnte, so daß ich die Frage nicht verstanden hatte. „Oh... Entschuldigung?“
„Wie heißt du?“
„Jeremy Plisken, Sir.“
Tripplefood nickte mir zu. „Setz dich, Jeremy.“ Er zeigte auf einen Stuhl vor mir.
„Danke, Sir.“ Ich setzte mich. Gershwinson blieb hinter mir an der Tür stehen, die Arme vor der Brust verschränkt.
„Gut. Ich habe von Mr. Gershwinson erfahren, daß es bei euch zu Hause einen ziemlich unangenehmen Vorfall gab...“
Warum wollte er das wissen? „Oh... Der Baum ist auf das Dach gestürzt. Unsere Nachbarn, die Farellys und die Coens kümmern sich drum.“
„Fein. Bei dem Wetter sollte man schon ein festes Dach über den Kopf haben, nicht wahr?“ sagte Tripplefood und wischte sich wieder etwas Schweiß von der Stirn. „Aber nun gut. Fangen wir an, Jeremy. Nervös?“
„Ein wenig.“
„Warum?“
„Das ist mein erstes... Verhör.“
„Wie kommst du denn auf Verhör?“
Ich nickte zur Tür. „Das ist eine Schule, Sir. Da wird viel geredet.“
„Oh...“ Tripplefood machte einen überraschten Eindruck. „Stimmt. Aber Verhör würde ich das nicht nennen. Befragung trifft es wohl eher.“
„Wenn Sie meinen.“
„Also gut. Kanntest du Justin Martins?“
„Flüchtig. Wir hatten nicht viel miteinander zu tun.“
„Aber du kanntest ihn.“
„Ja, Sir.“
„Die Eltern haben ihren Sohn als vermißt gemeldet, am selben Tag noch.“
„Oh...“
„Ist dir irgendwas aufgefallen? An seinem Verhalten?“
„Nein, Sir. Wie gesagt, ich kannte ihn nur flüchtig. Interessierte mich auch nicht besonders, was Justin machte.“
Tripplefood lächelte und holte eine Schachtel Zigaretten aus seinem Mantel. „Ja, das haben einige vor dir auch gesagt...“ Er zündete sich gelassen eine Zigarette an. „Wo warst du an diesem Tag?“
„Ich? In der Schule. Danach waren wir in unserem Baumhaus und haben Karten gespielt.“
„Wir?“
„Tony, Sam, Judy und ich.“
„Moment mal...“ Tripplefood runzelte die Stirn und wühlte in ein paar Akten. „Ah... Tony Sambrusca ist dein Freund?“
„Ja, Sir.“
„Er wird das gleiche sagen wir du, nicht wahr?“
Ich zögerte einen kleinen Moment. „Nun... warum sollte er was anderes sagen?“ Draußen peitschte der Regen und plötzlich riss ein Windstoß die Fenster auf und wirbelte die Akten von Tripplefood durcheinander.
„Oh... Verdammt!“ Trotz seines behäbigen Eindruckes sprang Tripplefood schnell auf, um zu retten, was noch zu retten war. Gershwinson half ihm dabei, die Fenster zu schließen. Als sie es geschafft hatten, waren beide klitschnaß. Die Papiere und Akten lagen zerstreut auf dem Boden. Einige waren mehr als aufgeweicht. „Verdammt, was war das?“ fluchte der Agent, während er mit einem leisen Ächzen die Papiere aufhob.
„Soll ich Ihnen helfen, Sir?“ fragte ich ihn.
„Ich denke, das reicht, Jeremy.“ sagte Direktor Gershwinson. Er sah zu Tripplefood und schüttelte leicht den Kopf.
Tripplefood kniff die Augen zusammen und holte tief Luft. Dann sagte er: „Ja. Ja, du kannst gehen, Jeremy. Danke.“
„Keine Ursache, Sir.“ So schnell ich konnte, ging ich aus dem Zimmer.

Es war das erste Mal, daß ich die Schultoilette mißbrauchte, um mich zu übergeben. Der Zustand des Jungen-WCs ermöglichte es mir, meinen Magen vollständig zu leeren. Als ich mich im Spiegel betrachtete, meine glasigen Augen sah, Erbrochenes an den Mundwinkeln, wirres Haar... „Mist!“ Ich war mir sicher, alles vermasselt zu haben.

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11

Eigentlich hatte ich keine großartige Lust, wieder zurück in die Klasse zu gehen. Den unsinnigen Buchbesprechungen würde ich nicht folgen können und wollen. Also beschloß ich, zu verschwinden und nach Judy zu sehen. Warum war sie heute nicht da? Dazu machte mir der Vorfall in Gershwinsons Büro zu schaffen. Sicher, es war nur ein heftiger Windstoß gewesen, der alles durcheinander gewirbelt hatte. Aber in den letzten Tagen gab es viele solcher Windstöße. Mal weniger stark, mal mehr... Der Baum, der durch unser Dach gekracht war, Judys Jacke, jetzt das mit den Akten... Red dir nicht so einen Blödsinn ein, schollt ich mich. Einer der Spinde, an denen ich vorbei lief, war offen. Eine Regenjacke hing ordentlich auf einem Kleiderbügel. Kurz entschlossen schnappte ich mir die Jacke und rannte aus dem Gebäude in den Regen. Ich sah nicht nach vorn, sondern nur auf den schlammigen Boden. Eine Straße konnte man das beim besten Willen nicht mehr nennen.

Den Wagen von Doktor Geffen erkannte ich schon von weitem. Was war da los? Was war mit Judy? Völlig außer Atem erreichte ich das schmucke Reihenhaus, in dem die Nicholsens wohnten. Ich war rechtzeitig gekommen, um mit anzusehen, wie Judys Vater den Doktor unter Tränen verabschiedete. „Oh nein!“ Ich blieb stehen, sah fast wahnsinnig werdend vor Angst, wie die Tür zuging und Geffen mir entgegenkam. Die Art, wie er mich ansah...
„Geh nach Hause, Junge.“ Er blieb vor mir stehen und legte seine Hand auf meine Schulter. „Geh nach Hause, Junge.“
Meine Hände begannen zu zittern. Wie Gummi fühlten sich meine Beine an, jeden Moment bereit, in sich zusammenzufallen. „Was... Was ist passiert?“ fragte ich leise.
Geffen beugte sich zu mir herunter. „Sie hat nicht leiden müssen. Soviel steht fest.“
„Nicht leiden? Ich...“ Wie konnte er das sagen? Wie konnte ein Arzt das sagen? Ich riß mich von ihm los und rannte zur Tür. Wie von Sinnen hämmerte ich mit meinen Fäusten gegen das dunkle massive Holz. „Judy! Judy!“ Ich schrie ihren Namen immer und immer wieder, bis sich die Tür öffnete und Mr. Nicholsen zum Vorschein kam. „Was...“ keuchte ich.
Er sah an mir vorbei, hob noch einmal seine Hand zum Abschied, als Geffen in seinen Wagen stieg und wegfuhr. Dann schaute er mich an. Eindringlich. Musternd. Schließlich brach er das Schweigen und sagte: „Du warst einer von ihren Freunden, nicht wahr? Du bist Samuel Webber, richtig?“
„Nein, Sir.“ antwortete ich ihm mit brüchiger Stimme. „Jeremy Plisken, Sir.“
„Oh...“ Traurig nickte er. „Ja, stimmt. Jeremy. Nun, Judy ist...“ Er hustete.
„Wann ist es passiert, Mr. Nicholsen?“ wollte ich wissen.
„Komm erst einmal rein.“ forderte er mich auf.
„Ja, Sir.“
„Sie liegt oben in ihrem Zimmer.“ Mr. Nicholsen schloss die Tür und deutete mit seiner Hand nach oben. „Sie liegt da oben.“
„Danke, Sir.“ Langsam stieg ich die Treppe nach oben. Mr. Nicholsen blieb unten stehen und sah mir schweigend nach.

Meine Mom hatte einmal zu mir gesagt, wer mutig genug ist, dem Tod ins Auge zu sehen, würde keine Angst haben, wenn der Tod gewinnen würde. Es war merkwürdig, doch in dem Moment, als ich die Tür zu Judys Zimmer öffnete, mußte ich an die Worte meiner Mom denken. Und was das verrückteste war, es verhielt sich so, wie sie es gesagt hatte. Wie versteinert stand ich im Türrahmen und sah Judy an, die in ihrem Bett lag. Tot. Und gleichzeitig so schön wie eh und je. Tief Luft holend ging ich langsam auf das Bett zu. Es war still im Zimmer. Weder war draußen der Regen und der pfeifende Wind zu hören, noch gab es irgendwelche Geräusche im Haus. Alles, was ich hörte, war mein pochendes Herz, das zu zerspringen drohte. Ich setzte mich auf die Bettkante. „Judy...“ Vorsichtig berührte ich ihr blasses Gesicht, fuhr mit meiner Hand über Stirn, Augen, Nase, Lippen und Kinn. „Judy...“ Die Tränen konnte ich nicht mehr zurückhalten. Schluchzend legte ich mich mit meinem Kopf auf ihren Bauch. „Es tut mir so leid. So leid...“ Plötzlich stieß etwas so heftig gegen die Fensterscheiben, daß ich zusammenzuckte. Oh nein, dachte ich. Es ist der Wind, verdammt. Es kostete mich Überwindung, meinen Kopf zu heben und zum Fenster zu sehen. Im Grunde genommen rechnete ich damit, daß irgendjemand oder irgendwas draußen auf dem Fensterbrett saß und mich mit kalten toten Augen anlächelte. Aber es saß niemand draußen auf dem Fensterbrett. Ganz im Gegenteil. Als ich mich wieder Judy zudrehte, streifte mein Blick einen kleinen Spiegel, der auf dem Nachttisch neben dem Bett stand. Justin Martins stand hinter mir. Und er lächelte. Und seine Augen waren kalt und leblos.

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Mein Körper ließ es nicht zu, daß ich mich bewegen konnte. Ich starrte in den Spiegel und konnte kaum glauben, was ich dort sah. Oder wollte ich mir einbilden, daß ich es nicht glauben konnte? Martins sah so aus, wie ich mir eine Wasserleiche immer vorgestellt hatte: Aufgedunsene, aufgeplatzte Haut. Helles, rosafarbenes Fleisch. Glasige, tote Augen. Lippenloser, grinsender Mund. Keine Zähne. Ein kleiner Stummel als Überbleibsel der Zunge...
„Hallo, Jeremy.“ sagte Martins ohne seinen Mund zu öffnen und berührte mich an meinem Arm. „Du bist bestimmt überrascht, mich zu sehen.“
Als seine von den Fischen im See angefressene Hand mich berührte, durchfuhr es mich, als ob ich ein Stromkabel angefaßt hätte. Mit einem lauten Schrei warf ich mich auf den Boden und rollte mich zur Seite. Martins war weg, stand nicht hinter mir.
„Hier bin ich!“
Stöhnend rappelte ich mich wieder auf und sah zum Spiegel. Ich konnte deutlich Martins erkennen.
„Ja, im Spiegel. Du kannst mich sehen!“
„Du bist... Du bist nicht real!“ keuchte ich. Gleichzeitig rumorte es in meinem Kopf. Wenn er nicht real war, wer oder was hatte mich berührt? Und warum konnte ich ihn im Spiegel erblicken?
„Ich bin so real, wie du es zuläßt, Jeremy. Nicht mehr, nicht weniger.“ Justin setzte sich auf das Bett und zeigte auf Judy. „Arme Judy. Nun ist sie tot. So wie ich. Im Grunde genommen sind wir gleich. Nur die Art, wie sie gestorben ist, unterscheidet uns. Sie so. Und ich...“ Er verstummte und schüttelte den Kopf, wobei kleine Hautfetzen und Haare auf das Bett und den Boden fielen.
So real wie ich es zulasse, durchfuhr es mich. Geh weg, Martins! Geh weg! Weg! Weg! Aber Martins ging nicht weg. Er saß auf dem Bett und sah mit seinen toten Augen auf Judy. Als ob er auf etwas warten würde. „Was... Was willst du?“ stammelte ich.
Unendlich langsam drehte er sich zu mir um. „Was ich will? Ich wollte so vieles, Jeremy. So vieles wollte ich. Das ist nun vorbei. Schau in den Spiegel!“
„Ich...“ Es waren nur ein paar Sekunden gewesen, die ich weggesehen hatte. Nun sah ich wieder in den kleinen Spiegel. Gott, dachte ich. Ein Alptraum...
„Ich kann nicht weg. Der Wind läßt es nicht zu. Dir ist doch klar, was es mit dem Wind auf sich hat?“
Meine ohnehin schon vorhandene Gänsehaut wurde noch stärker. „Der Wind?“ flüsterte ich. „Was ist mit dem Wind?“
„Der Wind ist nach Leverten gekommen, Jeremy. Und mit ihm ein gewaltiges Donnern und Blitzen! Dieser Wind war stark genug, für den Bruchteil einer Sekunde deine Hand zu bewegen. Ihr habt es nicht wahrgenommen, doch mich hat es letzten Endes das Leben gekostet. Dieser Wind war stark genug, vor Judys Fenster eine bizarre Formation aus Regen und Blättern zu kreieren. So bizarr, daß der Tumor in Judys Kopf sie urplötzlich hinwegraffte. Dieser Wind war stark genug, einen Baum zu entwurzeln, der dich beinahe erschlagen hätte, Jeremy. Und dieser Wind war es, der Judys Jacke in die hereinbrechende Nacht schleuderte. Und nun rate mal... Wohin hat dieser elende Wind da draußen Judys Jacke wohl getragen?“ Er legte seinen verwesten Zeigefinger auf den Mund.
Schlagartig fiel es mir wieder ein. Die Jacke! Judys Jacke! „Wo ist sie?“ fragte ich leise in den Spiegel hinein. Mir war klar, daß ich tief in mir drinnen die Antwort bereits kannte.
Martins legte seinen Kopf etwas quer. „Ihr findet mich am See. Du und die anderen.“

So plötzlich, wie er aufgetaucht war, so plötzlich verschwand Justin Martins. Ich hörte, wie die Tür knarrte und drehte mich um. Judys Vater sah mich unsicher an. „Ist alles in Ordnung, Jeremy?“
„Nein, Sir.“ sagte ich. „Nichts ist in Ordnung.“ Ich stand auf, ging mit gesenktem Kopf an ihm vorbei und verließ das Haus der Nicholsens.

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13

Ich wußte nicht wie. Ich wußte nicht warum. Aber ich stand irgendwann vor unserem Haus. Es war noch nie eine Augenweide gewesen. Jetzt im Regen und ab und zu von Blitzen erhellt sah es geradezu hässlich aus. Es widerte mich fast an, den Türknauf zu berühren und das halb verfallene Gebäude zu betreten. Drinnen war es dunkel. Ich hörte meine Mom in der Küche mit Geschirr hantieren. Warum hatte sie kein Licht angemacht. „Mom?“
In der Küche wurde es ruhig. „Jeremy? Bist du das?“
„Ja.“
Die Küchentür ging auf und das grelle Licht der kleinen Küchenlampe reichte aus, um den dunklen Flur zu erhellen. Sie stand im Türrahmen, in den selben Sachen, die sie heute morgen bereits angehabt hatte. Ihr Gesicht konnte ich nicht erkennen. Schatten verdeckten es. Mir war es recht so. Ich wollte ihr Gesicht nicht sehen, nicht diese leicht geröteten Augen.
„Komm in die Küche, mein Junge.“
„Mom?“
„Bitte, Jeremy!“
„Ja, Mom.“

Die Küche sah katastrophal aus. Essenreste verschimmelten in der Spüle und in rostigen Pfannen auf dem Herd. Auf dem Boden lagen alte Zeitschriften. Der Tisch, an dem wir früher gemeinsam gesessen und gegessen hatten, war unter den unzähligen schmutzigen Tellern und Kochtöpfen kaum noch zu erkennen. Und es stank. Tränen schossen mir in die Augen. Vor Wut. Wegen des Gestanks. Vor Verzweiflung. „Mom?“
„Setzt dich, Jeremy!“
Ich sah mich um. Alle Stühle waren mit irgendwas belegt. „Worauf soll ich mich setzen?“
Meine Mom verzog kurz das Gesicht, zuckte dann mit den Schultern und sagte: „Auch gut, dann bleib stehen.“ Sie deutete zur Spüle. „Sieht schlimm aus, nicht wahr?“
Ich nickte. „Ja. Aber wir werden das schon...“
Sie unterbrach mich. „Was? Was werden wir? Alles hinbekommen, Jeremy?“
„Mom?“ Was war mit ihr los? Unwillkürlich ging ich einen Schritt zurück.
„Heute waren...“ Sie verstummte und machte eine kreisende Bewegung mit ihrer Hand. „Da waren Leute da. Von der Polizei. Vom FBI. Was wollten die hier bei uns, Jeremy? Was wollten die?“ Sie öffnete eine Schublade und holte etwas heraus. „Haben die deswegen Fragen gestellt?“ In ihrer Hand hielt sie das Shirt mit den Blutflecken. „Was verschweigst du mir?“
Ich war nicht fähig, etwas zu sagen. Ich betete um einen Schlafanfall. Und irgendwo erwies sich jemand als gnädig und legte einen Hebel um. Ich fiel nach hinten, stieß mir den Kopf an der Tischkante und fiel in den von mir erhofften Zustand. Ich hörte noch, wie Gläser und Geschirr vom Tisch fielen und mit einem unangenehmen Geräusch am Boden zerschellten. Dann war ich weg. Wieder einmal...

Grace Kelly sah wie immer bezaubernd aus. Ihr Abendkleid glitzerte im Angesicht der untergehenden Sonne und ihr Lächeln übertraf alles. Sie half mir aufzustehen und den Schmutz von meinen Sachen zu klopfen. „Großer Gott, Jeremy.“
„Danke, Grace.“ antwortete ich und schenkte ihr mein vielleicht schönstes Lächeln der vergangenen Jahre.
„Sieh dich vor, Jeremy.“
„Wovor?“ Grace legte eine Hand an meine Wange. Ich fühlte, wie ich vor Scham errötete.
„Du darfst nicht zurück an den See gehen!“
„Was...“
„Du mußt vor dem Wind fliehen!“
Ich verstand nicht. „Ich verstehe nicht... Ich...“
„Halte dich fern von Tony. Nimm Abstand von Sam. Und von Judy.“
„Was?“
„Sieh doch nur!“ Sie sah an mir vorbei. „Da kommen sie schon.“
„Was?“ Ich drehte mich um, schrie und wachte auf.

Ich hatte mit allem gerechnet. Vielleicht, daß ich auf dem dreckigen Boden der Küche lag und meine Mom mich mit ihren traurigen Augen vorwurfsvoll ansah. Oder daß ich in meinem Bett mit leichten Kopfschmerzen aufwachte. Aber ich war am See. Und zwar genau an der Stelle, wo wir Justin Martins ins Wasser geworfen hatten. Es regnete. Der Wind heulte. Blitze waren zu sehen und Donner zu hören. Das Gewitter, der Sturm, hatte Leverten noch immer fest in seiner Hand. Vor mir im Schlamm lag Judys Jacke. Stirnrunzelnd beugte ich mich herab und hob sie auf. Sie fühlte sich schwer an. Was geschieht hier, verdammt? Ich schaute auf das Wasser. Es war absolut ruhig. Als ob ein unsichtbares Schutzschild die Regentropfen davon abhalten würde, die Oberfläche des Sees zu erreichen. Hinter mir hörte ich Schritte. Ich brauchte mich nicht umzudrehen, um zu wissen, wer es war. Jahrelange Freundschaft verbindet... „Warum seid ihr hier?“ fragte ich Tony und Sam.
„Sag du es mir, Big J!“ Tony spuckte aus und fuhr sich durch sein nasses Haar. „Gerade war mein Alter dabei, mir mit dem Gürtel nachzusetzen, und plötzlich bin ich hier am See.“
Sam hustete leise. „Ich war in meinem Zimmer und habe gelesen.“
Ich nickte. „Ich war mit meiner Mom in der Küche.“ War das ein Traum? „Vielleicht liegen wir noch zu Hause in unseren Betten und schlafen.“
„Du meinst, es ist ein Traum?“
„Ich weiß es nicht, Sam. Und selbst wenn, warum sollten wir drei den selben Traum haben?“
Tony zeigte zum See. „Vielleicht wird er uns eine Antwort geben.“ Er sah zu mir. „Es kann nur ein Traum sein, Jeremy!“
„Warum?“
„Weil ich keine Angst habe.“

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14

Justin Martins brauchte keinen unnötigen Krimskrams, wie er in billigen Horrorfilmen gezeigt wurde, die ab und zu bei uns im Kino liefen. Er war plötzlich da und lief mit großen Schritten über das Wasser genau auf uns zu. Und auch ihn erreichten die Regentropfen nicht. Kurz, bevor sie ihn berühren konnten, veränderten sie ihre Richtung, fielen wieder nach oben, oder schossen waagerecht über das Wasser, bis sie am Ufer schließlich auf uns und auf den Boden prasselten. Der Wind brüllte wie ein Orkan, ließ die Bäume im Wald grotesk hin- und herschaukeln, schleuderte Schlamm und Gras in die Luft. Direkt hinter uns schlug ein Blitz in einen Baum ein. Das Geräusch des umstürzenden brennenden Baumes ließ uns zusammenzucken.
„Er hat gesagt, daß wir ihn hier am See finden.“ flüsterte ich zu Tony und Sam.
„Wer hat das gesagt?“
„Na er!“ Ich nickte mit meinem Kopf leicht zu Martins, der das Ufer erreicht hatte. Den Ratschlag, den mir Grace Kelly gegeben hatte, behielt ich für mich. Tony und Sam waren nun einmal mit mir hier. Aber was hatte sie mit Judy gemeint? Judy war tot. Sam zitterte am ganzen Körper. Vielleicht vor Kälte, oder vor Angst. Ich konnte es nicht genau bestimmen. „Er sagte es in Judys Zimmer.“ Martins war nur noch wenige Meter von uns entfernt. „Judy ist tot. Gestorben.“
„Ich weiß.“ sagte Tony leise. „Sam und ich waren heute nachmittag bei den Nicholsens. Aber was geschieht hier nun, Jeremy?“
Sam knetete seine Finger. „Wir sind hier, um unsere Schuld zu sühnen. Wir sind in einem gottverdammten Alptraum!“
„Es ist so real, wie wir es selbst zulassen. Das nimmt uns unsere Angst.“ sagte ich.
„Das ist richtig, Jeremy.“ Justin Martins griff sich an seinen Hinterkopf. Dann streckte er seine Hand nach vorn. „Sie sind lästig. Kleine Plagegeister, die nicht genug bekommen können.“ Zwischen seinem verfaulten Daumen und Zeigefinger hielt er einen kleinen Fisch an dessen Flosse. „Aber es liegt in ihrer Natur. Sie sind so beschaffen.“ Er warf den Fisch zurück in den See. „Ihr seid endlich hier. Ich habe gewartet.“ Er ging einen Schritt auf uns zu, blieb aber mit seinem rechten Fuß im nassen Schlamm stecken und stürzte. Als er er den Boden berührten, hörten wir, wie Knochen splitterten und sich durch die aufgedunsene Haut bohrten. Sam drehte sich um und übergab sich. Martins rollte sich auf den Rücken. „Hier unten kann ich die zunehmende Angst in euch noch deutlicher spüren. Sie steigt von ganz tief unten immer höher hinauf, bis sie euer Herz erreicht hat und sich dort festkrallt, es zusammenpreßt.“ Langsam richtete er sich auf. „Ihr fragt euch, ob es ein Traum ist? Oder vielleicht doch die bizarre Realität? Nun, es ist so real, wie ihr es zulaßt.“
„Justin!“ Ich ging in die Hocke und sah ihn direkt in seine toten Augen. Ich wußte nicht, wie es um Tony und Sam bestellt war, aber ich hatte keine Angst. „Sind wir hier, damit du weg kannst? Weg vom See?“ Er schüttelte den Kopf. Wenn ich es nicht besser gewußt hätte, glaubte ich, Tränen in seinen Augen erkennen zu können. „Was ist es dann?“
„Ich habe es dir doch schon gesagt. Es ist der Wind, Jeremy. Er läßt mich nicht gehen. Und das ist eure Schuld!“
Tony setzte sich zu uns auf den Boden. „Wir sind schuld an dem Unwetter? Wegen...“
„Ja, Tony.“ sagte Justin und nickte.
„Aber es hat schon vorher angefangen zu regnen!“
„Und wann genau, Tony? Wann hat es genau angefangen zu regnen?“
„Nach dem Unterricht. Als wir am See standen.“ sagte Sam leise. Er setzte sich ebenfalls zu uns. „Da hat es angefangen.“
Ich erinnerte mich. Sam hatte Recht. „Oh...“ Es war seltsam, geradezu paradox. Tony, Sam und ich saßen mit einem toten Jungen zusammen. Um uns herum wütete ein Sturm. „He?“ War es nur mir aufgefallen? Es war, als ob wir uns im Auge eines Hurricanes befanden. Absolute Stille, kein Wind, kein Regen. Es tat gut, mal keinen Regen auf der Haut zu spüren. „Was sollen wir tun, Justin?“
Deutlich konnten wir kleine Maden sehen, die sich im Inneren seines Mundes tummelten. „Ihr wißt, was zu tun ist. Damit ich weg kann.“
Sam stöhnte laut auf. „Ich wußte es. Ich wußte es von Anfang an.“ Er stand auf. „Wir hätten uns gleich stellen sollen.“
„Ja.“ Justin zeigte auf Sam. „Ihr hättet auf ihn hören sollen!“
„Einen Moment mal!“ sagte plötzlich Tony. „Wir haben einen Schwur geleistet.“
Ich packte ihn an den Schultern. „Dieser Schwur hat Judy umgebracht!“
Tony schüttelte meine Hände ab und stieß mich um. „Das bildest du dir nur ein! Das alles hier... Alles nur Einbildung, verdammt!“ Er wandte sich Justin zu. „Und du? Du bist auch nur Einbildung! Ein Leichnam, der am Grund des Sees liegt, von den Fischen gefressen wird. Nichts weiter bist du! Nur eine Einbildung!“ Mit einem archaischen Schrei stürzte er sich auf Martins, riß ihn zu Boden und schlug wie von Sinnen auf ihn ein. „Nur ein Traum! Du bist nichts weiter als ein böser Traum! Nicht real! Du bist nicht real!“
„Tony!“ Sam versuchte ihn aufzuhalten, aber es war zwecklos. Tony rammte ihm den Ellbogen ins Gesicht. Sam stürzte schreiend zu Boden und hielt sich seine blutende Nase, die mehr als wahrscheinlich auch gebrochen war.
„Hört auf!“ Ich rappelte mich auf. Inmitten einer unheimlichen Stille eines tobenden Sturmes konnte ich nicht mehr tun, als Tony dabei zuzusehen, wie er mit blutunterlaufenen Augen einen toten Jungen immer und immer wieder schlug und anbrüllte. „So hört doch endlich auf...“
Tony hielt Martins auf den Boden gedrückt und sah sich um. „Dir werde ich es zeigen!“ Er griff nach einem klobigen Stein. „Du bist nichts weiter als eine Illusion! Nur ein verfluchter Traum!“ Er schmetterte den Stein in Justins Gesicht. Martins Hände, die vorher wie wild versucht hatten, sich Tony zu entledigen, fielen schlaff herunter. Tony spuckte aus und rollte sich stöhnend zur Seite. „Das war es, elender Mistkerl. Das war es.“
„Großer Gott!“ stammelte Sam und starrte Martins an, der bewegungslos im Schlamm lag. „Was hast du getan?“ Er stand auf. „Was hast du getan?“ Er drehte sich um und rannte fort.
„Sam!“ schrie ich. „Sam!“ Doch Sam war schon im tosenden Sturm verschwunden. Ich sah zu Tony, der neben Martins lag und schnaufend nach Luft schnappte. „Tony, ich...“
„Ich lasse mir von keinem Geist vorschreiben, was ich zu tun habe, Big J.“ sagte er. „Alles so real, wie wir es zulassen, was?“ Er stand auf und trat mit seinem Fuß verächtlich gegen Martins Körper. „So real, wie wir es zulassen. Das waren doch deine und seine Worte, nicht wahr?“
Ich zuckte hilflos mit den Schultern. „Ja, aber...“
„Ich hoffe, er verfault da unten im See! Elend lange, für immer und ewig!“
„Tony, du...“
„Wach auf, Jeremy! Es ist nur ein Traum! Sieh doch!“ Er zeigte zu Martins. „Sieh doch!“
„Was...“ Ich sah, wie Martins vom Schlamm verschluckt wurde, anders konnte ich es mir selbst nicht beschreiben. Es dauerte nicht lange, bis er verschwunden war. „Das alles macht keinen Sinn, Tony.“
„Doch, Big J! Wir haben gewonnen. Nicht er! Wir! Gib mir Judys Jacke!“ Ohne ein Wort zu sagen gab ich ihm die Jacke, die ich die ganze Zeit in der Hand gehalten hatte. Tony füllte sie mit Schlamm und kleinen Steinen, verknotete sie und warf sie in den See. „Und selbst wenn der Sturm hier ewig wüten wird... Selbst wenn der Wind ewig über Leverten wehen wird...“ Er verstummte kurz. „Ich habe nicht vor, mein Leben in einer Anstalt zu verbringen, oder im Gefängnis. Ich habe ihn hier und jetzt erledigt. Bald wache ich auf und weiß um meinen Sieg. Nichts und niemand wird mir das nehmen können! Keiner wird mir das nehmen können! Keiner!“ Tony sah mich wütend an, drehte sich um und verschwand so wie Sam im chaotischen Wirbel, der uns umgab.
„Aber das kann es doch nicht sein.“ sagte ich zu mir selbst. „So kann es doch nicht enden. Doch nicht so...“ Ich spürte Regentropfen, hörte Donnern, sah Blitze, nahm den kreischenden Wind wahr. Dieser seltsame Traum neigte sich seinem Ende. Etwas stach mich in meine Hand. Ich schrie und wachte in der Realität auf.

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15

Von Doktor Geffen und meiner Mom erfuhr ich, daß ich drei Tage bewußtlos gewesen war. Drei Tage, in denen sich viel ereignet hatte: Tripplefood hatte die Suche nach Justin Martins für beendet erklärt; unser Sheriff hatte eine Ausgangssperre für die Jugendlichen festgelegt; Judy war auf den Friedhof beigesetzt wurden; der tobende Sturm über Leverten hatte Schäden in Millionenhöhe angerichtet und stündlich wuchs die Summe weiter.

„Tony und Samuel?“ fragte ich Mom, während ich heißen Tee trank. Die Nadel in meiner Hand, die mich mit irgendeiner Medizin versorgte, tat weh.
Mom schüttelte den Kopf. „Tony war gestern kurz da und hat sich nach dir erkundigt. Von Sam Webber weiß ich nichts.“
„Ich hatte einen Alptraum, Mom.“
„Willst du mir davon erzählen?“
Ich sah sie an. Gott, wie hatte sie sich verändert. „Es wird dir nicht gefallen, Mom.“
„Ich weiß, mein Junge. Das weiß ich.“
„Es hat mit Justin Martins zu tun, Mom.“ Während ich das sagte, senkte ich meinen Kopf. Ich wollte nicht, daß sie sah, wie ich vor Schuld und Scham schwitzend rot wurde.
„Jeremy?“ Sie fuhr mir durchs Haar.
„Mom?“
„Hast du etwas mit seinem Verschwinden zu tun?“
Ich schluckte schwer und mußte mich zwingen. „Ja.“ sagte ich leise. „Hab ich.“
„Ich...“ Sie drückte mich an sich. „Was habt ihr denn nur getan?“
„Es tut mir so leid...“ Ich erzählte ihr alles. Alles über den Nachmittag im Regen am See, als wir aus Spaß Cowboys spielten und daraus tödlicher Ernst wurde. Über die anschließenden seltsamen Geschehnisse. Über meinen Alptraum, der mehr als real war, obwohl ich doch nur selbst festlegte, wie real dieser Vorfall sich gestalten konnte. Ich erzählte meiner Mom von Judy und mir. Wie wir uns geliebt, uns Fragen gestellt hatten. Ich erzählte meiner Mom über die Ereignisse in Judys Zimmer, über meine Begegnungen mit Grace Kelly, über die finale Konfrontation mit Justin Martins, einfach alles. „Es tut mir so leid, Mom!“
Mom küßte mich auf die Stirn. „Ruhig, Jeremy. Ruhig, mein Junge.“
„Was soll ich tun?“
„Das weiß ich nicht, Jeremy. Vielleicht kannst das nur du für dich selbst entscheiden.“
„Es tut mir so leid, Mom. Ich wollte das alles nicht!“ Es waren die ehrlichsten Worte in meinem jungen Leben. „Ich weiß nicht, wie das alles passieren konnte.“

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Epilog

Letztendlich bin ich in Leverten geblieben. Sam und Tony verschwanden damals noch vor dem Jahreswechsel. Ich hatte Jahre später obskure Gestalten beauftragt, nach ihnen zu fahnden. Samuel starb durch einen Stromschlag, als er eine Glühbirne wechseln wollte, irgendwo in Texas, in irgendeiner Kleinstadt. Und Tony? Mein bester Freund? Trotz seines lahmen Beines machte er für eine kurze Zeit lang als Komiker in der Independent-Szene von Los Angeles sich einen Namen, bevor er eines Tages durch übermäßigen Gebrauch von Tabletten und alkoholischen Getränken einen unrühmlichen Abgang hinlegte. Und ich? Ich blieb in Leverten. Bin immer noch da. So wie der Wind. So wie der Regen. So wie das Gewitter. Ich vermute, sobald ich sterbe, wird seit Ewigkeiten mal wieder die Sonne über Leverten scheinen. Judy und meine Mom sehe ich öfters. Ich weiß nicht, warum mir Grace damals geraten hatte, mich von Judy fern zu halten. Ihr Tanz über dem Friedhof inmitten des Regens ist in meinen Augen kunstvoller als die Vielfalt des Vatikans im fernen mir unbekannten Rom. Vielleicht endet ja alles, wenn ich tot bin. Es vergeht kaum ein Tag, an dem ich mir Vorwürfe mache über die Ereignisse von damals. Aber noch lebe ich, trotz meiner Zwiespalte mit mir selbst. Noch lebe ich. Ich will noch nicht gehen. Judys Augen faszinieren mich. Sie sind so glasig... so tot... Doch Grace hat sich geirrt. Mit jedem Tag wird der Wind, der Sturm stärker. Kontinuierlich, unaufhaltsam. Selbst da, wo Tony und Sam waren, gestorben sind, hat er gewütet. Soll ich ihn mit meinem Tod aufhalten können? Diesen Sturm, der über das Land rast?

(Aus den Aufzeichnungen von Jeremy Plisken)

Wie konnte das nur geschehen? Habe ich dreißig Jahre lang den Mut in mir unterdrückt? Es ist soweit. Das Ende für mich rückt in greifbare Nähe. Irgendwo wird immer ein Sturm wüten. Ein Regen regnen. Ein Wind wehen. Ein Gewitter blitzen und donnern. Irgendwo wird das Leben immer einen Weg finden, um Chaos zu verbreiten. Der Griff fühlt sich so gut an. Auf Wiedersehen!

(Aus den Aufzeichnungen von Jeremy Plisken)


ENDE


Copyright by Poncher (SV)

04.01.2003

 

Vielen Dank. :)

Wühl dich mal ruhig durch die Rubrik hier, da findest du einige Sachen von anderen Autoren, die wirklich gut sind.

Gruß,
Poncher

(Allerdings bin ich etwas verwundert, dass die Story noch mal rausgekramt wurde. :D )

 

Hallo Poncher!

Eine äußerst fesselnde Geschichte, die mich sehr in ihren Bann gezogen hat und sicherlich zu den besten gehört, die ich bisher bei kg.de gelesen habe.

Trotz ihrer Länge fand ich sie irgendwie faszinierend, etwas nostalgisch, äußerst mitreißend, und ich war sehr gespannt, wie sie enden würde. Durch die Erzählform deines Protagonisten kam die Geschichte außerdem sehr überzeugend bei mir an.

Eine Story, die man nicht so schnell wieder vergisst, und die man anderen Lesern nur weiterempfehlen kann.

Die Zombieidee an sich mag dabei zwar nicht neu sein, aber die Umsetzung ist dir äußerst gelungen.

Parallelen zu King / Bachmann sind mir auch aufgefallen; wurden aber ja bereits angesprochen.

Dein sprachlicher Stil gefällt mir ebenfalls sehr gut; schreibsicher, gekonnt und veranschaulichend.

Danke für die qualitativ hochwertige Geschichte, die es verdienen würde, in einem Buch veröffentlicht zu werden. :)

Ein paar einzelne Rechtschreibefehler sind noch drin; ich kann dir die betreffenden Stellen gerne noch per PM mitteilen, wenn du möchtest.

Weiter so!

Viele Grüße,

Michael :)

 

Puh, das war ja ein richtiger kleiner Roman, den du da verfasst hast. Aber ich hab die Geschichte gern gelesen, auch wenn sie lang war. Sie war irgendwie so authentisch. Fast, als hättest du das alles selbst erlebt. Hat mich ein wenig an Stephen King erinnert. Auch ohne das Übernatürliche wäre die Geschichte noch gut gewesen. - Vielleicht sogar noch besser?
Na ja, bevor ich mäkele, muss ich das erst selber besser machen, nicht wahr?

Arry

 

Ja, vielen Dank fürs Lesen, ihr Zwei. :) Diese Geschichte hat zwei Fraktionen. Den einen gefällts, den anderen nicht. :D

@Arya: Deine Belzebub-Geschichte hab ich heute überflogen, gefällt mir gut soweit. Mehr morgen im entsprechenden Thread. (Falls ich es nicht vergesse...)

Gruß,
Poncher

 

Hallo, Poncher!

Ich bin bei dieser Geschichte etwas zwiegespalten. Mein allererster Eindruck von ihr war: Aaargh, ist das viel, das lese ich nicht. Nachher sitze ich ein ganzes Wochenende am Kommentar.

Irgendwann las ich sie dann doch, schrieb einen langen Kommentar, und beim Abschicken beging der Explorer eine Schutzverletzung. Dies löste zwar beim Autor eine Salve kehliger Laute aus, nicht unähnlich denen einer bestimmten südamerikanischen Affenrasse, aber andererseits: was ist schon so ein kleiner elektronischer Text im Gefüge des Kosmos?

Also, wie gesagt, das Ding hat Überlänge. Dagegen will ich noch nichts sagen, denn ich habe auch zwei Stories mit Überlänge verfasst. Aber der Horror, die Spannung und alles, setzen recht spät ein und werden durch die langwierigen Zwischenpassagen auch recht spärlich in der Dichte gehalten.

Der zweite Kritikpunkt ist, daß die Story etwas verworren daherkommt. Die "Geisterregeln" dieser Geschichte wollen mir nicht so recht klarwerden. Im ersten Moment scheint die übliche, klischeehafte, Anwendung zu finden: Der Geist metzelt seine Mörder bzw. Leichenbeseitiger nach dem "zehn-kleine-Negerlein"-Prinzip nieder und straft sie so für ihre Tat. Aber du hast dann ja noch diesen "bösen Wind" drin, der offenbar schon für den "richtigen Verlauf" der Kugel gesorgt hat. Wo er herkommt, was er will, und was nun damit wird, bleibt jedoch im Dunkeln.
Seltsam auch, daß der Geist körperlich genug ist, um verprügelt zu werden.
Und der Prot. kommt am Ende relativ ungeschoren davon, ohne daß die Situation richtig aufgelöst worden wäre.

Was ich allerdings hervorragend fand, war die ambientale Beschreibung. Mir ist klar, daß sie nicht authentisch sein kann, außer du sagst mir, du hast deine Kindheit in den USA verbracht, aber sie wirkt ungeheuer real und glaubwürdig. Sogar das ständig wiederkehrende Motiv von HL Oswald, das zu der Zeit die Gemüter beschäftigte, fügt sich nahtlos ein.

Auch die Emotionen des Prot. fand ich gut wiedergegeben. An manchen Stellen etwas zu wenig Amplitude vielleicht.

r

 

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