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Wenn die Welt nur dunkel wäre...
"Es sind Nacktbilder von ihr im Umlauf!"
Alex inhalierte einen tiefen Zug von der Zigarette und blies den Rauch ringfömig in die Luft. Er war nicht erschüttert; es war ihm zwar neu, aber genau so gut hätte man ihm erklären können, das eine Flasche Sprudel mit Sprudel gefüllt ist. Es war für ihn belanglos. Alex wollte weder wissen, was auf den Fotos zu sehen war, noch warum es zu sehen war. Man sollte ihn einfach in Ruhe lassen. Still sein; ihn nicht an diese alberne Geschichte denken lassen.
"Sie hat vor der Kamera masturbiert; diese dumme Hure; da nennt sie sich deine Freundin und dann folgt so was. Du müsstest die Bilder sehen. Sie steckt sich in fast jeder erdenklichen Pose den Finger in ihre Möse und schaut dabei stöhnend ins Objektiv wie eine dieser billigen Porno-Flitchen aus dem Internet, die sich für toll halten und zu viel Schminke drauf haben!",erklärte Leon und verzog dabei entsetzt sein Gesicht, wobei seine Augen glasig und die Miene unecht wirkte. "Zu viel Schminke!",wiederholte Alex innerlich und schaute, mit dem Kopf an die Wand gelehnt, durchs Fenster auf das gegenüberliegende Haus. Es war klein und überschaubar und vor dem Haus erstreckte sich einer dieser typischen Vorstadtgärten mit Apfelbaum und seperaten Blumenbeeten, umgeben von einem Holzzaun, der gerade noch so hoch reichte, das der Pudel, welcher im Garten rumhüpfte, nicht entfliehen konnte. Der Pudel hatte weißes lockiges Fell und jetzt, als Alex schaute, wälzte er sich im Gras, bellte ein paar Maal (was an der Bewegung seines Mauls erkennbar war) und hüpfte drollig von einer Ecke zur Nächsten. Wie dieser Pudel wollte Alex jetzt sein. Wie dieser süße hüpfende Pudel, der sich über die Welt keine Gedanken machen brauchte und nur seine Kacke außerhalb des Hauses platzieren musste, damit er seine Mahlzeiten bekam. Einfach alles vergessen; sich auf dem Gras von der grellen Sonne brutzeln lassen, manchmal einen kurzen Ton von sich geben, aber nicht verpflichtet sein zu bellen und immer dann, wenn man will, in seiner Hundehütte verschwinden zu können um sich von der Welt zu lösen. Das wäre wunderschön und so einfach. "Es ist echt zu absurd! Ich meine, da schaltet mein Kopf ab. Da blockiert ihn etwas, als strömen in den Windungen meines Gehirnes Gedanken und in diesem Augenblick erhebt sich vor ihnen eine Mauer, lässt sie nicht durch, versperrt ihnen den Weg. Ich begreif es einfach nicht! Wie kann man nur so völlig verpolt, so völlig entsetzlich schäbig und dumm sein, das man solche Fotos schießen lässt. Übrigens ganz nebenbei - ich weiß nicht, ob dich die Details interessieren - so ein Kerl aus dem Jahrgang über uns; so ein dämlicher verfickter Möchtegern-Draufgänger mit Nietenarmbändern, zerrissenen Jeans und Piercings an den Nippeln hat sie geknipst. Wenn du ihm mal zeigen willst, was en richtiger Spaß ist, dann sag mir Bescheid. Ich hätte gern Lust diesem Wichser mal nen Zahn auszuschlagen. Nick nicht so, als wäre es etwas ganz Normales. So behandelt man keine Menschen!" Alex nahm ein Glas vom Tisch und trank einen Schluck Cola. "Etwas ganz Normales! Zu viel Schminke!", echoete es in seinem Kopf. "Sie hat nie zu viel Schminke getragen. Es war immer perfekt gewesen.", dachte er und starrte schweigend auf einen Teller, angefüllt mit Caramelbonbons. Nachdem Leon sich ein wenig beruhigt hatte, holte er aus der Ecke eine orientalische Wasserpfeife und füllte sie gemächlich mit Apfeltabak. Im Zimmer war es still; nur durch das Fenster drangen ab und zu die raunenden Geräusche vorüberfahrender Autos. Einmal ertönte das leise Düsen eines Flugzeuges über dem Haus, welches wie eine Welle auf dem Meer erst langsam zunahm und am höchsten Punkt dann wieder abflachte.
"Möchtest du ziehen?", fragte Leon und hielt Alex den Schlauch der Wasserpfeife entgegen. Alex griff danach, drückte seine Zigarette aus, inhalierte zwei Mal tief an dem Schlauch und lehnte sich wieder mit dem Hinterkopf an die Wand, während er langsam die Augen schloß und von einer beruhigenden sanften Dunkelheit umhüllt wurde.
Am nächsten Tag frühstückte Alex nicht. Das war das erste Mal seit seinem sechsten Lebensjahr, das er kein Frühstück zu sich nahm und damals lag es einzig an der Tatsache, das er auf Grund einer Krankheit alle paar Stunden begann seinen Mageninhalt zu erbrechen. Heute war er aber nicht krank und der Grund für sein Fasten blieb unklar. Das Fasten hatte auf jeden Fall keinen Ursprung in seinem körperlichen Zustand. Er hatte kaum etwas im Magen; am Vorabend war er erst späten Abends angekommen und hatte sich vor Trunkenheit ohne Mahlzeit ins Bett gelegt. Diese Abneigung gegen das Frühstück entstand mehr wie eine plötzliche chemische Reaktion seines Geistes; ein Widerwille seiner Sinne, denn als er den Frühstückstisch erblickte; die belegten Toasts, das Marmeladenglas, das frisch geöffnete Glas Nuss-Nougat-Creme und die weiche gelbe Butter, an der einige Reste Leberwurst hingen, wurde ihm speiübel. Er machte noch an der Türschwelle eine Kehrtwende, torkelte gemächlich und benommen vom Schlaf zurück ins Zimmer und schmiss sich wieder für zwei weitere Stunden ins Bett.
Dort machte er eine entscheidende Feststellung.
Wenn er sein Gesicht in das Kissen presste und dann die Augen schloß, war es dunkel. Völlig dunkel. Wie ein ewiges Nichts; in dem weder Horizont noch Grund und Boden existierte, in dem sich einzig ein unendlich weites Schwarz vor ihm ausbreitete. In diesem Schwarz ist Niemand vorhanden; als würden alle Wesen, die ihn umgaben innerhalb eines Augenblickes verschwinden um dem schwarzen Meer Platz zu machen. "Wenn es das ist, was blinde Menschen sehen, möchte ich blind sein!" , dachte Alex und kniff die Augenlider fest aufeinander. Um ihn war es still; manchmal tönten einige gedämpfte Wortfetzen aus der Nachbarswohnung durch die dünne Wand und einige Male hörte Alex ihr Baby kreischen, laut und scheinbar endlos. "Nichts sehen, nichts hören! Einfach allein sein!" Alex presste die Lider fester aufeinander, legte die Hand an sein Ohr und drückte die Handfläche schließlich so fest darauf, das der Gehörgang von jedem Ton der Umgebung abgeschottet war. Er hörte nichts mehr. Er sah nichts mehr. Nur das schwarze Meer, das ewige Nichts, die Stille, kein Ton ertönte.
Am Abend begegnete er seiner Freundin. Es war völlig unerwartet geschehen. Alex hatte den ganzen Tag über nicht an sie gedacht; hatte sie wie Schmutz, der sich fortwischen lässt aus seinem Gedächtnis verbannt. Und dann plötzlich hatte es an der Tür geklingelt. Anders als sonst; die Klingel hatte viel energischer, kraftvoller und bedrängender geklungen und Alex hatte mehrere Male gemeint, eine Melodie in dem Klingeln hören zu können. Musikunterricht - Beethoven - das Schicksalsmotiv. Es war so unwirklich gewesen. Er hatte den Tag in einem benommenen Trance-Zustand unter seiner Bettdecke verbracht und war dann von dieser "Melodie", diesen merkwürdigen Tönen, welche er schon zuvor tausend Mal gehört hatte aus seiner Ruhe gerissen worden. Innerhalb eines Augenblickes hatten Klänge die Stille durchbrochen und waren bis tief in seinen Gehörgang gedrungen.
Danach saßen beide auf dem cremefarbenen Sofa in Alexs Zimmer und tauschten manchmal kurze verlegene Blicke. Sie suchten verzweifelt nach einem Einstieg für ihr Gespräch. Es gab eine Menge zu besprechen; ihre Köpfe wurden mit Gedanken durchströmt, aber es fiel ihnen schwer den Gedanken Ausdruck zu verleihen. Alex blickte im Zimmer umher. Durch das Fenster sah man die gegenüberliegen Häuserfassade. In einer Wohnung putzte jemand mit einem Wischer den Boden. Hinter einem weiteren Fenster konnte man eine Frau beim Spaghetti-Kochen erblicken. Alex hatte das Radio auf niedriger Lautstärke eingestellt und Robbie Williams ertönte. Keiner von den Beiden kannte den Song, aber sie wußten, das es Robbie war. Das Lied endete und ein Neues begann. Hier kannten sie weder das Lied, noch den Interpreten, nur Alex glaubte die Melodie schon einmal irgendwo gehört zu haben. Ihm fiel jedoch nicht ein, wo.
"Hast du mit Leon gesprochen?"
Alex schwieg; ein Vogel senkte sich kurz vor dem Fenster auf dem Rahmen und pickte irgendetwas auf.
"Ich habe ihm gesagt, er solle darüber schweigen. Ich wollte es dir selbst mitteilen!"
Draußen fegte ein Wind über die Straßen und pfiff unheimlich irgendwo direkt hinter der Wand. Alex griff in seine Tasche, holte eine Zigarette hervor und zündete sie sich an. Genüßlich mit geschlossenen Augen inhalierte er zwei Züge.
"Du musst mich für widerlich halten!"
Er starrte sie an. Sie hatte heute keine Schminke aufgetragen, aber ihre blauen Augen glänzten wie immer, und ein Blumenpiercing auf ihrer Nase schimmerte.
"Möglicherweise!"
"...Ich weiß nicht, wie ich das erklären soll!"
"Ich auch nicht!"
"Alex, bitte!"
"Worum bittest du? Du brauchst um nichts zu bitten. Du bist ein freier Mensch, kannst tun und lassen, was du willst."
"Alex, es tut mir leid! O wirklich, es tut mir leid! Ich weiß nicht, wie ich das tun konnte. Es war eine ganz schreckliche Dummheit von mir. Ich bin so schäbig. Ich wollte das nicht. Bitte glaub mir. Das wollte ich wirklich nicht. Es ist irgendwie dazu gekommen, es war ein schrecklicher Abend, alles hatte sich verselbstständigt; irgendwie. Ich liebe aber nur dich, Alex, einzig dich."
"Vielleicht!"
"So sag doch was, Alex, ich wollte das nicht!"
"Kann sein!"
"Es ging von ganz alleine, ohne meine Bedenken! Wie bei einer Maschine, die eigentlich nur einem Zweck dient und letztlich außer Kontrolle gerät. Aber die Maschine lässt sich reparieren, die Maschine ist jetzt wieder repariert, funktioniert nach den alten Prinzipien. Das war nur einmal. Ein einziger dumer Ausrutscher. An diesem Abend war ich verrückt und dann saß ich dort mit Leon und es geschah wie von selbst..."
"Was hat Leon damit zu tun? Lass ihn da raus; er war ein guter Freund, er wollte mir wahrlich helfen!"
Sie schwieg einen Augenblick. Hinter der Wand pfiff weiterhin der Wind und auch das Kind in der Nachbarswohnung begann wieder scheinbar endlos zu kreischen.
"Warum verteidigst du ihn? Wenn du mich beschuldigst, so beschuldige auch ihn. Er ist nicht minder dran beteiligt gewesen. Immerhin hat er seinen Schwanz reingesteckt. Das war seine Entscheidung; meine Entscheidung war einzig dort zu liegen, nackt und entblößt vor ihm zu liegen und geschehen zu lassen. Er hat sein Ding da reingesteckt. Das war er!"
Alex schluckte. Daraufhin inhalierte er zwei tiefe Züge.
Plötzlich wollte er wieder in sein Bett. Er wollte sich wieder die Augenlider aufeinanderpressen, den Gehörgang versperren und in dieser wunderbaren Ruhe verschwinden. Alle sollen ihm diese Ruhe gönnen. Einfach verschwinden; still sein. Still wie Fische, die im Meer herum schwimmen. In der Wand pfiff der Wind lauter, das Kind schrie immer weiter. Der Vogel auf dem Fensterrahmen tackerte mit seinem Schnabel in einem regelmäßigen Rythmus auf den Boden. Irgendwas war da, aber Alex sah nicht was. Er wollte jetzt nur weg; unter die Decke.