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Wenn sie mich jetzt so sehen könnten

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16.07.2003
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Wenn sie mich jetzt so sehen könnten

Wenn sie mich jetzt so sehen könnten. Auf diesem kleinen Weg, von Bäumen umsäumt. Die Beine meiner Jogginghose hochgekrempelt, barfuß. Die Haare noch naß, nicht frisiert.

Wenn sie mich jetzt so sehen könnten. Die Kollegen, die Bekannten, mit denen ich im letzten Jahr zu tun hatte. Ein Jahr, das schnell rumgegangen ist. In dieser großen, schnelllebigen Stadt, in dieser schnelllebigen Branche.

Ich war gerade schwimmen. In einem kleinen See in meiner Heimat. Bayern. Bayrisches Idyll. Ich war fast ganz alleine im See. Um diese Uhrzeit sind dort keine Leute mehr – die Sonne ist schon fast verschwunden und ich lag im Wasser und konnte sie langsam hinter den Bergen versinken sehen. Was für ein Anblick. Ich war erfüllt von solch einer Ruhe.

Ruhe hatte ich im letzten Jahr fast keine. Ich war die ganze Zeit gehetzt, von einem Termin zum nächsten, abends von einer Party zur nächsten. Eingeladen von anderen aus der Branche. Wichtige Events, bei denen man sich blicken lassen sollte, wenn man sich einen Namen machen will. Sehen und gesehen werden. Bescheidwissen, wer mit wem und so. Das ist immer nützlich. Und immer wieder neue Gesichter, die im Laufe des Abends einen Namen dazubekommen, man wird vorgestellt oder stellt sich selbst unter einem Vorwand vor: „Was für ein stylisches Kleid! Wo hast Du das denn her? Ist das aus dem Laden, der letztens an der Soundso-Straße eröffnet hat? Der hat auch geile Teile, musst Du mal vorbeigucken! Ich bin übrigens Xyz, arbeite bei Abc. Dich habe ich noch nie hier gesehen, bist Du neu?“ Natürlich duzen wir uns alle, auch wenn wir uns noch gar nicht kennen. Wir sind die neue Generation, die hippere.

Beim nächsten Mal begrüßt man sich schon mit der obligatorischen Umarmung, „Cool, Dich wieder zu sehen!“, manchmal mit einem Küßchen garniert, oder auch zweien. Kontakte knüpfen ist das wichtigste in der Branche. Kontakte ist das Zauberwort! Hast Du sie, dann bist Du wer, arbeitest gut und hast Erfolg. Es ist immer von Vorteil, wenn man die Durchwahl einer Person hat, von der man etwas will, und sich nicht erst von der oder dem Personal Assistent durchstellen lassen muss. Dann kann man sein Anliegen nach der locker smallgetalkten Einleitung total easy anbringen. Eine Hand wäscht die andere. Gilt überall, aber vor allen Dingen hier! Medien, Mode und Marketing und natürlich die Public Relations. Letzteres ist mein Gebiet, aber man kann sie eh alle in einen Topf werfen. Ohne das eine macht das andere keinen Sinn.

Vielleicht sollte ich besser sagen, letzteres war mein Gebiet.

Ich gehe den Weg weiter, etwas weiter vorne steht mein Auto. Ich fühle mich müde vom Schwimmen, aber glücklich. Ich spüre wieder, dass auch die einfachen Dingen so glücklich machen können. Dieses Gespür für das Einfache, das hatte ich im letzten Jahr irgendwie verloren. Nein, nicht verloren, verdeckt. Mit anderen Befriedigungen. Auf den wichtigen Parties. Alle auf Koks mit einem Glas Prosecco in der Hand, oder der neuesten Cocktailkreation. Ich natürlich auch, mittendrin - diese Coolness, die einen dann ausfüllt, passt genau in die Szenerie, zum Surrounding. Das ist alles so cool, wir sind alle so cool und wir gehören zusammen, zusammengeschweißt durch unsere Coolness. Und doch jeder für sich, kleine Ein-Mann-AGs, die sich selbst vermarkten müssen, sich irgendwie absetzen, um aufzufallen, und doch dazugehören. Ein anstrengender Job!

Wenn nicht die wichtigen Parties, dann alleine oder mit Freunden in die Clubs. Am Wochenende, Freizeit ausfüllen. Zuhause vorglühen, viel Sekt, eine Pille schmeissen, dann ab auf die Tanzfläche. Pillen wirken hier einfach besser, man kann damit besser tanzen, als auf Koks. Mischen geht natürlich auch, aber dann muss man die richtige Reihenfolge kennen. Die Tanzfläche also. Da habe ich wirklich immer Glück gespürt. Auch ohne Pillen. Die verstärken das nur noch. Bässe, die durch den Körper dringen, Groove, dem man sich nicht entziehen kann. Die Hände in die Luft geworfen, kurz geschrien und weitergetanzt. Stundenlang. Nach ein paar Stunden schnell auf der Tanzfläche noch ein E ausgeteilt oder mit den anderen aufs Klo, schnell geschluckt. Immer wieder zur Bar, viel trinken, das ist wichtig, auch Wasser, nicht nur Alkohol. Wir alle kennen uns doch aus damit! Bloß nicht aufhören, die Nacht gehört uns! Glücksgefühle. Auch hier irgendwann Müdigkeit, aber erst nach langer Zeit, erfüllte Müdigkeit. Am Sonntag ausgeruht, am Montag mit verplantem Kopf in die Agentur, aber war nicht schlimm, am Montag ging es allen so. Aber unter der Woche sollte man das nicht machen. Nicht zu oft.

Und jetzt hier. Anderes Glück, aber sehr intensiv. Diese Differenz lässt mich erstaunen, Bilder aus dem letzten Jahr wechseln sich in meinem Kopf ab und dann hole ich mich wieder in die Gegenwart. Ich bin froh, dass ich das noch empfinden kann. Dieses kleine Glück, diese Ruhe. Dass mich das noch ausfüllt! Ich bin noch nicht abgestumpft!

Vor zwei Wochen habe ich die Agentur verlassen. Seitdem bin ich hier, umgebe mich mit nichts. Nur mir, mit mir selbst hier. Was danach kommt, weiß ich noch nicht. Momentan genieße ich. Ich war dem Druck nicht mehr gewachsen, den Terminen, dem Tempo, konnte irgendwann nicht mehr aus dem Nichts raus lächeln. Ich habe nicht standgehalten.

Ich muss mich neu orientieren. Das ist schwierig. Mein Job hat doch auch Spaß gemacht. Die Drogen waren eine Erfahrung, die ich machen musste, machen wollte. Ich habe viel gelernt, im letzten Jahr. Doch jetzt lerne ich auch wieder, andere Dinge.

Wenn sie mich jetzt so sehen könnten. Auf diesem kleinen Weg, von Bäumen umsäumt. Die Beine meiner Jogginghose hochgekrempelt, barfuß. Die Haare noch naß, nicht frisiert. Ich würde sie anlächeln und grüßen. Klar. Aber ich würde ihnen kein Küßchen mehr geben.

 

Hallo, Dorothee.

Grundsätzlich gefällt mir deine Geschichte, vor allen Dingen vom Thema her.

Für mich klingt der Rückblick deines Prot. aber zu distanziert, als hätte er sein Leben in der "hippen Gesellschaft" tagtäglich inszeniert. Genau das aber glaube ich nicht. Ich denke, daß ihn dieses Leben überrollte, die Drogen werden tiefere Spuren hinterlassen haben als nur ein kühles "ich wollte, mußte das mal ausprobieren". Oder?

Ansonsten fand ich die Story wie gesagt gut.

Liebe Grüße

 

hi Dorothee

Hm, ja distanziert ist der Rückblick schon, aber ich glaube in ner Kurzgeschichte geht es nicht ohne Distanz. Sonst würde auch die Wirkung verloren gehen.

Mir hat die Geschichte auch gefallen, der lockere Stil, eingängig und oberflächlich, wobei das nicht negativ gemeint ist. Liest sich gut.

Der Inhalt mag den ein oder anderen vielleicht schockieren, gerade durch die beiläufigen Beschreibungen der Drogen und die Umgangsformen im Job.
Aber ich hab gestern erst ne Doku über die neue yuppiegeneration gesehen und war daher emotional vorbereitet :)

Jedoch gewinnst du der Sache einige neue Aspekte ab, besonders gut finde ich, dass die Protagonistin nicht ihren Kollegen allein die Schuld gibt, sondern sagt, sie hat nicht standgehalten.

Die Wiederholung im letzten Abschnitt finde ich als Stilmittel nicht unbedingt nötig, schließlich dreht sich die Protagonistin ja nicht im Kreis, sondern hat einen wichtigen SChritt gemacht. Nach "andere Dinge" könnte die Geschichte meiner Meinung nach aufhören.

Liebe Grüße
wolkenkind

 

Hallo Anja, hallo Wolkenkind,

danke, dass Ihr Euch die Zeit zum lesen und Nachdenken über meine Geschichte genommen habt!

Anja, das mit der Distanz ist so eine Sache. Ich stelle mir vor, dass sich die/der Prot. wirklich in dieser hippen Gesellschaft inszeniert hat - hat nie wirklich dazu gehört, obwohl sie es wollte. Sonst hätte sie, meiner Meinung nach, besser "standgehalten" und wäre im Nachhinein nicht zu so einem Rückblick fähig, in dem sie ja auch die "Werte" dieser Gesellschaft in Frage stellt.

Wolkenkind, danke für Deine Anmerkung mit dem letzten Absatz - ich habe ihn allerdings nun nicht weggenommen, sondern noch etwas dazu gesetzt. Vielleicht ist das besser?

Liebe Grüße an Euch beide,
Dorothee

 

Hallo, Dorothee.

Das jetzige Ende finde ich super! Ist in meinen Augen wirklich besser als streichen.

Liebe Grüße

 

hi

Den SChluss finde ich jetzt auch gelungen, ist ja fast ein kleines Happy End ;)

Gruß
wolkenkind

 

Auf Wunsch der Autorin von Alltag nach Gesellschaft verschoben

 

Hallo Anja und Wolkenkind,

super, dann lasse ich den Schluß jetzt so. Schön, dass ihr's nochmal gelesen habt!

Danke,
Dorothee

 

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