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Wenn...
Wenn man mit einem teuren Anzug an der Bushaltestelle steht und auf den Bus wartet, mit dem man nur drei Stationen lang dem Regen fliehen will, und dieser Bus nicht kommt, dann bleibt man stehen, sieht sich nochmals den Fahrplan an und kontrolliert, ob man nicht in die falsche Spalte gerutscht ist. Man sucht nach einer Uhr, die bezeugen könnte, dass die eigene nicht richtig geht und wenn kein Uhrengeschäft, keine Kirche, kein noch so verstecktes Display irgendwo aufleuchtet, dann fragt man jemanden, der ebenfalls auf den Bus wartet oder nur vorbeiläuft. Aber man bleibt auf jeden Fall dort stehen und wartet auf den Bus, um den Anzug vor dem Regen zu schützen. Dabei spielt es keine Rolle, ob jemand auf einen wartet.
Wenn man einen Krückstock hat, auf dem man seine müden Glieder stützt, damit die kaputten Knie und die schiefe Hüfte beim Laufen geschont werden, dann gehört dieser Stock wie ein Körperteil zu einem. Wahrscheinlich ist dieser Stock dann das Körperteil mit der höchsten Lebenserwartung und man drückt deshalb an der Ampel sein ganzes Gewicht auf ihn, um sich zu schonen. Und wenn dieser Stock sich mal wieder zwischen den Schirmen und Mänteln versteckt hält, die man nur noch der Erinnerung wegen im Schrank liegen hat, denn ein Mantel und ein Regenschirm sind längst genug für die immer spärlicher werdenden Ausflüge, und man ihn, trotzdem schon der ganze Ramsch aus besseren Tagen über dem Flurteppich verteilt ist, nicht findet, dann muss man dableiben und weitersuchen. Man muss sich immer weiter in die Erinnerung graben, von Schrank zu Schrank und man wird Dinge finden, an die man nicht mehr gedacht hat und Dinge, an die man nicht mehr denken wollte und Dinge, die dazwischen liegen.
Wenn man einen Ball hat und diesen Ball erst ganz neu bekommen hat, wegen der guten Noten in Mathe und gerade beginnt, seine Farben und seine Prellstärke zu erforschen und sich an das glatte Gefühl zu gewöhnen, wenn man ihn umfasst, dann ist dieser Ball das Wichtigste, das man besitzt. Man verschwendet keine Minute ohne ihn gegen Wände, Böden und in den Himmel zu werfen, um zu sehen, wie gut er fliegt. Und wenn man denkt, dass man ihn jetzt richtig gut unter Kontrolle hat und ihn immer weiter und stärker wirft und er immer heftiger zurückprallt, kann es passieren, dass er auf eine unebene Stelle an der Wand trifft und einen anderen Weg einschlägt, als zurück in die Arme, die ihn geworfen haben. Wenn er dann runter auf die Straße kullert und zum Mittelstreifen hin schon so langsam wird, dass man ihn jetzt, und das ist ganz sicher, ziemlich leicht einholen kann, dann läuft man los und schnappt ihn sich.
Wenn ein Mann in einem Anzug, der ein paar Regentropfen abbekommen hat, seine Mutter in die Stadt fährt, um einen neuen Krückstock für sie zu kaufen, da sie ihren alten im Durcheinander ihrer Wohnung verlegt hat, dann kommt es vor, dass diese Mutter den Mann fast verrückt macht mit ihrem Schimpfen und Verfluchen. Es kann sein, dass der Mann ihr vielleicht etwas erzählen wollte, aber er fragt sich, wie viel Bestand das hat vor ihrem Leid. Alles was er noch tun kann, ist zu schweigen und ihr die Hand auf den Arm zu legen. Doch wenn das nicht hilft und die Beschuldigungen auch noch den Mann selbst betreffen, könnte es sein, dass ihn eine Wut ergreift, die er normalerweise nicht von sich kennt und mit der er in diesem Moment nicht mehr umgehen kann. Und wenn er dann ganz außer sich ist vor Wut, das Lenkrad verbissen umgreift und sein Puls immer härter schlägt vor all den Worten seiner Mutter, die er nicht versteht, dann kann es sein, dass er stehen bleibt. Und dass er seiner Mutter direkt ins Gesicht sieht, sie fragt, ob sie das alles ernst meint, oder ob es vielleicht nicht doch noch irgendetwas Gutes an der Gegenwart gibt, an ihm und an dem Tag, den sie zusammen verbringen. Wenn die Mutter dann aus dem Fenster sieht und nicht weiß, was sie sagen soll und versucht ihre Gedanken zu sortieren, dann kann es sein, dass ein bunter, neu glänzender Ball vorbei rollt.