Wetterumschwung
Es war einer jener Unheil verkündenden, drückend heißen Frühsommertage, an denen der Föhn die Stadt in eine große, weiße Staubwolke taucht und selbst in der sonst so geschäftigen Herzog – Friedrich Straße eine Stille herrscht, wie man sie sonst nur von Heiligabend her kennt. Innsbruck war in die Berge geflohen, ins Kalkgebirge, um genau zu sein, denn wer sich bei einem solchen Wetter auf den Patscherkofel begab, musste damit rechnen, als Christbaumspitz auf einer der dicken, alten Tannen zu enden.
So blieb dem windgeplagten Städter nichts anderes übrig als Marktplatz gegen Nordkette zu tauschen und Schutz in einem der zahlreichen Waldstücke zu suchen, die an einem solchen Tag die Funktion einer Klimaanlage übernehmen und wohl schon so manchen Kreislaufpatienten vor dem Kollaps bewahrt haben.
Ich schlendere also wie viele meiner Leidensgenossen gedankenverloren einen schmalen Waldweg entlang, als ich plötzlich ein Stöhnen hinter mir vernehme. „Ein Mountainbiker“, denke ich mir. „Da will bestimmt wieder einer ins Guiness – Buch der Rekorde kommen“ Für Lebensmüde scheint Tirol ja ein attraktives Pflaster zu sein. Extrem – Biking auf die Mittagsspitze, Canyoning in der Trisanna – Schlucht oder Mountainbike – Rennen auf der Skipiste - Ich frage mich, was als Nächstes kommt. Vielleicht Bungee – Jumping von der Europabrücke unter Einbeziehung eines Säurebades oder Abenteuer – Trekking „Von Lawinenstrich zu Lawinenstrich“? „Wildspitze ohne Seil für Einsteiger“ dürfte jedenfalls nur noch eine Frage der Zeit sein angesichts der aktuellen Entwicklung, denn hält man sich die Menschenmassen vor Augen, die heute schon bereit sind, Geld und Leben für den maximalen Kick zu opfern, fällt es nicht schwer, sich vorzustellen, wie diese Vision von der Realität eingeholt wird.
Der Mensch muss den Tod im Nacken haben, sonst spürt er kein Leben. Wenn es keine natürlichen Bedrohungen mehr gibt im eigenen Umfeld, dann muss man sich eben welche erschaffen. Koste es, was es wolle. Man will ja schließlich gelebt haben.
Nichtsdestotrotz schien ich es heute mit keinem Lebensmüden zu tun zu haben, denn der von mir prognostizierte Mountainbiker ließ noch immer auf sich warten, obwohl sein Stöhnen bereits seit geraumer Zeit wieder verstummt zu sein schien. Etwas verwirrt setzte ich mich auf einen Stein und merkte plötzlich, dass es auch sonst sehr ruhig geworden war um mich. „Ich muss vom Weg abgekommen sein“ sagte ich laut zu mir selbst, „Das kann doch nicht sein, dass sich hier auf einmal niemand mehr blicken lässt“ Etwas verärgert über dieses Missgeschick suchte ich hastig nach meiner Karte, musste aber bald schon zu meiner Verärgerung feststellen, dass sie mir abhanden gekommen war. „So ein Mist! Die muss mir irgendwo heraus gerutscht sein“
Ich kannte das Waldstück, in dem ich unterwegs war, gut, nehme aber zur Sicherheit und wohl auch als Protest gegen den Zeitgeist, der das maximale Risiko verordnet, immer eine Wanderkarte mit, die ich dann meist im Rucksack oder in der Jackentasche verstaue. Genau von dort musste sie mir jetzt irgendwann heraus gefallen sein, denn auch nach mehrfachem Durchkämmen meinesRucksacks und meiner Taschen konnte ich bis auf Taschentücher, Milchschnitten und einer leeren Flasche nichts zum Vorschein bringen, das mir von Nutzen hätte sein können.
Leicht entnervt tastete ich mich instinktiv rückwärts, als ich plötzlich wieder dieses Geräusch hinter mir höre. Ein leises Stöhnen, fast einem Wimmern gleich, das mir umso unheimlicher erschien, je größer die Stille rings um mich wurde. Auch das Vogelgezwitscher war inzwischen verstummt. Das einzige Geräusch, das ich noch vernehmen konnte, war das gleichmäßige Knacken der Äste, die unter meinen Tritten nachgaben.
„Das kann doch nicht sein! Jetzt fange ich schon an, Gespenster zu hören“ Und doch war ich mir sicher, dass da irgendjemand gestöhnt hatte. Ich blieb noch einmal stehen und lauschte. „HALLO!!“ brüllte ich auf einmal so laut ich konnte ins Dickicht, doch bis auf mein Echo, das von der anderen Seite des Berges kam, blieb es mucksmäuschenstill.
Ich bekam es mit der Angst zu tun. „Was, wenn ich hier in eine Falle gerate? In das Revier eines Geistesgestörten, der sich unschuldige Opfer sucht, um sie anschließend in Hirsebrei zu verwandeln?“ Schnell verbannte ich diesen Gedanken aus meinem Kopf. Ich hatte eindeutig zu viele Gruselgeschichten gelesen. Wie um mich zu beschwichtigen, versuchte ich einen Abstecher in die Schulphysik, um irgendeine natürliche Erklärung für diese beunruhigenden Geräusche zu finden, aber so sehr ich mich auch anstrengte, es wollte sich mir einfach kein Präzedenzfall aufdrängen.
„Verfluchte Sch***physik“ entfuhr es mir und „Verfluchte Sch***pubertät“, die einen davon abhält, im Physikunterricht aufzupassen.
Meine rechte Hand begann zu zittern. „Uaaaaaahh“ Gleichmäßig und rhythmisch drang das Stöhnen jetzt an mein Ohr und wenn ich den Unterschied zwischen „Stöhnen“ und „Stöhnen“ nicht so gut kennen würde, wäre diese Gleichmäßigkeit fast im Stande gewesen, mich wieder zu besänftigen, ja vielleicht sogar den Spanner in mir zum Leben zu erwecken. So allerdings wusste ich, dass es bestenfalls Blut zu sehen geben würde und diese Vorstellung verursachte in mir mehr Brechreiz als Lustgefühle.
Zu allem Überdruss verriet mir ein Blick auf die Uhr, dass es schon Viertel vor Sieben geworden war und bereits seit geraumer Zeit keine Sonnenstrahlen mehr durch die Baumwipfel drangen. Nachdem mein astrophysikalisches Wissen trotz seiner Bescheidenheit immer noch so weit reichte, um mit Sicherheit behaupten zu können, dass die Sonne Mitte Juni frühestens gegen halb acht Uhr hinter den Bergen verschwindet, konnte diese plötzliche Verdunkelung nur durch Wolken erklärt werden und das verhieß nichts Gutes.
Meine Befürchtung wurde von einer kräftigen Föhnböe bestätigt, welche einer Drohgebärde gleichkam, denn wenn der „Sommerwind“ über den Inn kommt, so sagt es zumindest der Volksmund, ist es mit ihm bald vorbei. In der Tat bestätigte ein Blick durch die Baumwipfel hindurch, dass sich die Föhnmauer bereits nach Norden verschoben hatte und einer Dampfwalze gleich die Gipfel der Nordkette einzuhüllen begann. Was dann passieren würde, war klar: Nebel würde einfallen, es würde zu regnen beginnen und die Temperaturen innerhalb weniger Minuten um 15 Grad nach unten purzeln. Keine erfreulichen Aussichten.
Angetrieben von diesen Gedanken begann ich fieberhaft, mir einen Weg durch das Gestrüpp zu bahnen, das merkwürdigerweise immer dichter und dichter wurde. Ich schien in eine Art Sackgasse zu geraten.
Entnervt fuhr ich mir durchs Haar. „Verdammt! Das kann doch nicht sein! Ich bin doch einfach nur dem Weg gefolgt“
Immer unebener wird das Gelände unter mir, immer massiger und größer die Steine, von einem Pfad konnte längst nicht mehr die Rede sein. Dazu hallt das Stöhnen von Minute zu Minute lauter in meinen Ohren. Es klang jetzt schrill und heiser, beinahe einem Kampfgeschrei gleich.
Was ging hier vor? War vielleicht jemand in Bedrängnis geraten? Nein, das konnte nicht sein. Er müsste mich längst gehört haben. Außer… ja außer er hat es mit einem Angreifer zu tun, der ihn davon abhält, auf meine Zurufe zu reagieren…
Ein Schauer lief mir über den Rücken. Wenn meine Theorie stimmte, dann befand ich mich auch in Gefahr und der Angreife wartete vielleicht nur darauf, mich genau wie sein Opfer überwältigen zu können…
Ich zwang mich, meine Angst in Schach zu halten und lehne mich für einen kurzen Moment an einen Baumrücken.
„Hallo! Ist da wer???“ Der Versuch, zumindest einen Hauch von Ruhe in meine Stimme zu legen, scheitert kläglich. In panischer Angst beginne ich auf einmal wild los zu schreien.
Nichts.
Das Stöhnen wird immer dumpfer und bedrohlicher, als wolle es mich in den Abhang hinab reißen, der sich jetzt keine 20 m links von mir auftut.
Schweißperlen treten mir auf die Stirn. Der Geruch von Tod liegt in der Luft.
Instinktiv renne ich wie wild vom Abhang weg, doch einem Sog gleich scheint mich das Geräusch in die andere Richtung zu ziehen. „Hallo! Wer bist Du? Zeige Dich!“ beginne ich in einem letzten Anflug von Mut, doch das Stöhnen wird immer erbärmlicher, als wolle es mir die Seele aus dem Leib reißen.
Aschfahl im Gesicht und in einem blinden Anflug von Panik mobilisiere ich all meine Kräfte, um gegen das Höllengeräusch anzurennen und stolpere beinahe über jede Wurzel, die sich mir dabei in den Weg stellt. Meine Hände sind bereits ganz zerkratzt, als ich eine Anhöhe erreiche, von der ich glaube, mein privates Schlachtfeld zumindest besser überblicken zu können. Noch immer hatte mein Widersacher keinen Namen, ja, ich wusste noch nicht einmal, wo er sich befand und ob das Stöhnen einem seiner Opfer gehörte, die er in seinem Blutrausch halb verstümmelt hatte und die jetzt um ihr Leben schrieen.
Einem Tornado gleich stürze ich mich einen moosbedeckten Hang hinunter, um Zeit zu gewinnen. Ich wusste noch immer nicht wofür, doch das Stöhnen hallte so grausam in meinen Ohren, dass nahezu jegliche vernünftige Überlegung im Keim erstickt wurde.
Ich fühlte mich meinen Gefühlen jetzt vollkommen ausgeliefert. Mit weit aufgerissenen Augen rase ich den Hang hinunter, direkt auf mein Unheil zu, denn das Stöhnen wird mit einem Mal noch unerträglicher.
Da! Plötzlich wieder Stille. Ich spüre einen Ruck unter mir, spüre wie mein Gleichgewicht nachgibt …
Das Steilstück hatte ich nicht gesehen. Schuhbänder und Jacke hatten sich bereits gelöst, als ich mich im freien Fall befinde und das Letzte, das ich spüre, bevor ich ca. 30m in die Tiefe gleite, ist ein dumpfer, harter Schlag auf den Rücken, gefolgt von einem langen, hallenden Echo.
Mein Retter wird mir später erzählen, dass ich mich daraufhin übergeben habe, aber das spüre ich nicht mehr, denn zu diesem Zeitpunkt hatte sich bereits ein riesiger, dunkler Vorhang über mein Gedächtnis gelegt.
Als ich wieder zu mir komme, liege ich auf einer groben, weißen Matratze inmitten einer Bauernstube. Das Stimmengewirr unter mit lässt darauf schließen, dass es im Haus auch eine Gaststube gibt. Dieser Eindruck wird bestätigt, als ich kurz darauf Gläsergeklirr, begleitet von einem Synthesizer höre, aus dem abwechselnd die größten Blamagen von Hansi Hinterseer und Marianne und Michael erschallen.
Als ich zu mir komme, spüre ich den Schmerz in jeder einzelnen meiner Gliedmaßen. Ich versuche dennoch, mich in der Bettstatt aufzurichten, als ich hinter mir eine Stimme vernehme. „Er scheint zu sich zu kommen. Adi, Du kannst den Sanitäter holen“
„Hä?“ Ich verstand nicht. Wo war ich hier und wie bin ich hier her gekommen? Offenbar hatte ich eine Gedächtnislücke.
Auf meinen fragenden Blick erwidert die Bäuerin, die sich jetzt mit einem Lächeln über mich gebeugt hatte: „Im Wold obn homma Sie geschtan g’funden, nit weit von der Umbrüggler Olm unten. BEI REGENWETTER“
Auf meinen verständnislosen Blick hin bemüht sie sich, nicht ohne einen gewissen Vorwurf in ihrer Stimme, zu präzisieren: „Auf’m Umbrüggler Sottel sen’S g’wesen“
Als sie merkte, dass ich immer noch nicht verstand, wurde sie sichtbar wütend und knallte mir ein dickes, schwarzes Buch auf mein Bett. „Wetterumschwung im Umbrüggler Wold! Und Sie mittendrein, verfluacht noamol eini!“
Sie schnaubte beinahe vor Wut, als sie sah, dass meinen Augen noch immer nichts als ein verständnisloser, fragender Blick zu entlocken war und fuhr mit beinahe zitternder Stimme fort: „Jo, Mensch, Mandl, hosch Du denn überhaupt vo nix g’hert? Des is ma doch in mein Leben no nia unter kemmen, sowos! Dem olten Rofnerbauern seine Seel’, der, der von seiner Olten ausm Haus gjogt worden is, woaßt Du nit, dass die do oben umanondaschpukt?
Beim Sturm und beim Regen is er aus seiner Hitten aussi grennt auf den Sottel auffi und seitdem hot’n neamp mehr lebend g’seng. Nur sei Stöhnerei, de komma heren bis heit, de kinnt ven Regenwetter. Und wehe dem, der seiner Seel’ donn zu nohe kimp und si vor dem Regen nit rechtzeitig in Sicherheit bring’ … Er wird genauso wie der orme Sepp vom Umbrüggler Teifi verschluckt und sei Seel is auf ewig verdommp.
Die alte Frau richtete sich auf und schnappte nach Luft. „Du konnsch vo Glick reden, dass mei Monn so deppat wor, in dei nachend do auffi zin gian. Er hot da des Leben grettet. In dem Zuastond wor Du do wosch, Du bisch jo sogor ohnmächtig g’wesn. Do hattsch Du’s nia g’schofft bis zum erschten Tropfen do weg zin kemmen“
Die Frau war außer Atem. „Jetzt gibsch a Ruah, i hol die Sanitäter. De hom gsogt, sie wellen worten, bis Du wieder bei Bewusstsein bisch. Du hosch a Teifels Glick, Du hosch da nit amol es Kreizbein brochen Und des obwohl’s d’ über so an Mordstrumm Obhang oikugelt bisch.“
Sprach’s, verschwand und überließ mich wieder der Stube und den Hansi Hinterseer – Klängen, über die ich mich – Zum ersten Mal in meinem Leben – freute.