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Wider die Vernunft
„Habe nun, ach! Philosophie, / Juristerei und Medizin, / Und leider auch Theologie! / Durchaus studiert, mit heißem Bemühn. / Da steh ich nun, ich armer Tor! / Und bin so klug als wie zuvor!“
Was der gute Doktor Faust seiner Zeit damit sagen wollte: Es kommt der Punkt im Leben, da merkt man, dass man verarscht wurde. Von vorne bis hinten verarscht.
Für mich kam dieser Zeitpunkt vor etwa zwei Wochen. Ich saß da, in meinem Lehnstuhl, in meiner Wohnung im fünften Stock, einen Band Novalis in der Hand und merkte auf einmal, dass ich gar nicht kapierte, was der Kerl da eigentlich schrieb.
Die Worte rauschten so durch mein Gehirn, wie ein Güterzug durch einen dunklen Tunnel. Und mit Erstaunen stellte ich fest, woran das lag: Es interessierte mich einfach nicht, was dieser Novalis da schrieb. Und das war eben das Grauenhafte.
Denn in diesem Augenblick, schlugen die Wogen über mir zusammen – weiß Gott, warum gerade in diesem Augenblick, ob gerade die Sterne richtig standen oder ob es doch so etwas wie Zufall gibt – jedenfalls war dies der Augenblick, in dem mich etwas einholte. Etwas Schwarzes – etwas Böses – der Geist, der stets verneint.
Gedankenfetzen, die ich sonst nachts beiseite geträumt hatte, fügten sich nun aufs Unheilvollste zusammen. Die eiternde Geisteswunde riss mit einem vernehmlichen Ratsch! der Länge nach auf.
Ich sah hoch, sah auf mein von oben bis unten vollgestelltes Bücherregal, sah auf Philosophen, Dichter und so weiter und merkte, was das eigentlich alles für ein ungeheurer Mist war.
Eine Frage, die dumme und faule Schüler gern dem Lehrer stellen, holte mich nun in Form einer grausamen Epiphanie ein: Wofür brauche ich das denn?
Göttliche Weisheit, erhabene Schönheit – was sollte ich damit? Was ist das alles wert, wo führt es hin?
Die Requisite fiel krachend nach hinten um und ich erkannte den ganzen Schwindel: Dieses Sichklammern an menschliche Kleingeistereien, die weder die Sonne, noch die Sterne und erst recht nicht das schwarze Weltall interessieren. Wenn die Würmer dir das Fleisch von den Knochen fressen und ein Birnbaum auf deinem Grabe wächst, wen juckt es dann, ob du Novalis gelesen hast?
Jede kleine Erleuchtung, jede Erkenntnis, jeder Brocken Wissen und jedes tiefe Gefühl ist nur eine Sternschnuppe, ein kleiner Planet: Sie gleiten nach unsinnigen Gesetzen durch eine gähnende Leere des Nichts. Ihre Positionen zueinander wandeln sich, sind eigentlich ganz beliebig – lassen sich nicht festlegen, lassen sich interpretieren wie es gerade beliebt. Fixpunkte gibt es nicht, Sterne erlöschen, manche sind ohnehin nur noch ausgesandtes Licht – du kannst es drehen, wenden wie du willst – oder den ganzen Müll gleich in die Tonne treten.
Keine Schönheit ist vor dem Banausen, keine Erleuchtung vor dem Zyniker sicher.
Meine Hände verkrampften sich um das kleine Büchlein, würgten es, als könnte ich damit Novalis erwürgen und die ganzen andern Spinner gleich mit.
Suche nach Erkenntnis, Schöngeisterei: Das ist wie auf der Erde herum zu laufen und zu hoffen, irgendwann bei der Sonne anzukommen. Ich marschiere bis zum Horizont und habe ich ihn erreicht, da lauert schon der nächste – der genau so aussieht wie der letzte.
War ich nicht wahrhaft gebildet? War ich nicht wirklich unglücklich? Wie lange hatte ich gebraucht, um das zu merken?
Am ganzen Körper zitternd sprang ich auf, schleuderte den Novalis in die Ecke. Die Sterne löschen!, schoss es mir durch den Kopf. Das Nichts genießen – wenigstens!
Wie von der Tarantel gestochen rannte ich aus dem Zimmer, kam mit einem großen Müllsack wieder. Der Wahnsinnige, der ich inzwischen war, begann in wilder Raserei, die Bücher aus dem Regal zu reißen, sie in den Müllsack zu schaufeln.
Ich musste mehrmals gehen, doch wie eine blöde, emsige Ameise schleppte und schleppte ich, ohne auch nur einen Moment zu verschnaufen.
Ich schleppte die Bücher hinaus in den Wald, hinter den Sumpf. Endlich stand ich, schwer keuchend, das Herz den Brustkorb zerhämmernd, über dem gewaltigen Papierberg – und war freudig erregt. Worte aus einem Lied von Rammstein dröhnten mir in den Ohren: Willst du dich von etwas trennen, / Dann musst du es verbrennen…
Schnell schlugen die Flammen hoch, leuchteten grell gegen die blutrote Sonne an. Ich ging ganz nah heran, bis der Schweiß mir aus den Poren strömte, ich sog den beißenden Rauch ein, mich daran zu vergiften – ein Hustenkrampf schüttelte meinen Körper. Schwarze Schwingen der Geistigkeit, zum Himmel schwebend, in die Bedeutungslosigkeit. Was bleibt ist Asche.
Hinterher wühlte ich in der heißen Glut, mir die Hände wohlig verbrennend. Zum ersten Mal überhaupt atmete ich völlig frei.
Doch noch war es nicht vollbracht. Das Wichtigste fehlte noch. Als sich wandelndes Ding, mitten in der Metamorphose steckend, kehrte ich in meine Wohnung zurück. Es würde schwierig werden, aber es musste getan werden. Es reicht nicht aus, das Unkraut abzuhacken – auch die Wurzeln müssen weg. Außerdem: Bei den Pharaonen hatte es doch auch geklappt!
Ich ging also hinüber in die weißgeflieste Küche. Die Besteckschublade – nein, das Ding muss woanders sein.
Zunehmend ungeduldig, riss ich Schubladen, Schränke auf, Töpfe und Pfannen fielen scheppernd zu Boden – endlich hielt ich sie in der Hand, die Fondue-Gabel. Konzentration, jetzt – keinen Fehler machen.
Behutsam schob ich mir die Gabelspitze in die Nase, mit der Linken den Nasenflügel zur Seite ziehend. Ein unangenehmes Pieken zunächst, dann unerträglicher Schmerz – ich machte weiter. Blut tropfte auf weiße Fliesen, mein Körper wurde von wilden Zuckungen geschüttelt – mir war, als fräße sich eine Ratte ihren Weg quer durch meinen Schädel. Ich zog leicht – nein noch nicht richtig.
Tiefer, mit einem Ruck trieb ich die Gabel hinein, die Welt explodierte schwarz – endlich, jetzt war es gut.
Ein neuer Ruck – ich zooog – und flatsch! hielt ich mein Gehirn in Händen!
Erst einmal knallte ich das Ding in die Spüle – ich rannte ins Bad, schlug meinen berstenden Schädel gegen die Wand, erbrach mich – schlug meinen Kopf wieder gegen die Wand – schluckte ein gutes Pfund Aspirin – und wusste, dass ich frei war! Die Tyrannei des Geistes war beendet.
Noch schwankend, mich überall festhaltend, ging ich in die Küche zurück und sah mir den blutigen Bastard in der Spüle an. „Verloren“, krächzte ich. Dann lachte ich. Und rannte wiederum ins Bad, um noch ein bisschen Galle auszuspucken. Der Körper verkraftet einen so schwerwiegenden Eingriff nicht ohne Weiteres!
Dabei erhaschte ich auch einen Blick in den Spiegel: An mir klebte mehr Blut als an Mao Zedongs Händen! Ich wusch mir das Zeug ab, von den Armen, dann aus dem selig lächelnden Gesicht.
Zurück in die Küche. In einem ersten Akt meiner neu gewonnen geistlosen Spontanität warf ich mein Hirn auf die Küchentheke und begann, es mit einem großen Messer in kleine Würfelchen zu zerhacken.
Wie ein Kind mit seinen Zinnsoldaten spielte ich mit den Hirnfitzelchen herum, schob mir eines in den Mund und spuckte es wieder aus. Was nun? Mein dumpfer Blick schweifte über die herumliegenden Küchengeräte. Der Mixer!
Nachdem mein Hirn nun eine Form hatte, die es geradezu zum Carpaccio prädestinierte, war ich wiederum ratlos – und jetzt?
Doch ein letzter Gedanke, der sich wohl in meine Hirnschale verbissen hatte, erhellte meinen leeren Geist. Ein Spruch aus Fight Club: „Haltet mir ’ne Knarre an den Kopf und streicht die Wände mit meinem Gehirn!“
Das tat ich. Von der letzten Renovierung hatte ich noch einen Eimer Alpina Weiß da, auch eine Farbrolle war schnell gefunden. Ich kippte mein Hirn in den Eimer und kleisterte das Gemisch an die Decke.
Danach legte ich mich mit einem Gefühl tiefsten inneren Friedens auf die Couch und war das erste Mal in meinem Leben mit dem Fernsehprogramm zufrieden.
Was für ein Leben so ein Hirnloser führt, muss sich wohl jeder fragen, der unter der Knute eines intakten Verstandes zu leiden hat.
Vor allem ist es ein unkompliziertes Leben. Ich lebte es in der Gesellschaft anderer Hirnloser. Natürlich ist mir klar, dass diese Leute anders waren, als ich – damals aber, war es mir eben nicht klar, wie mir ja überhaupt rein gar nichts klar war – oder eben alles. Ist wohl Ansichtssache.
Diese anderen jedenfalls hatten einfach nie ein Gehirn gehabt. Oder sie hatten es so konsequent nicht benutzt, dass es letztlich vertrocknet und auf die Größe einer Rosine zusammengeschrumpelt war.
Ich kannte genug solche Leute, eigentlich kennt die jeder; zum Großteil alte Bekannte aus Schulzeiten und deren Bekannte, auch ein paar Leute von der Arbeit. Irgendwann nur noch völlig Unbekannte, die halt da waren.
Auf irgendwelchen Partys, denn die meiste Zeit über war ich auf irgendeiner Party. Ich hielt mich auf in unüberschaubaren Räumen voller Menschen, durch einen allgegenwärtigen blauen Dunst schwebend. Die meiste Zeit über war ich besoffen oder auf irgendwelchen Drogen – wenn man kein Hirn hat, ist es fast unmöglich, jemals wieder richtig runter zu kommen. Leute mit Gläsern und glimmenden Stängeln in den Händen, mit ausgebrannten Vakuum-Augen verwickelten mich in Gespräche, die eigentlich keine waren.
„Ist ganz schön verrückt, das mit den Zeitreisen was? Wenn Sie jetzt in der Zeit zurückreisen und Ihre Oma umbringen, dann werden Sie nie geboren! Aber – na merken Sie’s? – wie haben Sie denn dann ihre Oma umbringen können?“
„Ja.“
„Aber ich meine: Wenn Zeitreisen überhaupt theoretisch möglich sind, müssten die aus der Zukunft dann nicht schon hier gewesen sein? Ich meine: Wenn das geht, dann müssen die doch auf die Idee gekommen sein, hier mal vorbeizuschauen, oder?“
„Zurück in die Zukunft, Teil 1 bis 3.“
„Äh, ja?“
„Ja.“
Man würde es vielleicht nicht glauben, aber in der zwischenmenschlichen Interaktion ist ein Gehirn zumeist nur hinderlich.
Ohne Hirn ist man nicht glücklich, aber dafür zufrieden. Mit Hirn nicht einmal das.
„Wissen Sie, was mein Psychiater zu mir gesagt hat? Der meinte, dass ich ein stark auto-aggressives Verhalten zeige! Verrückt, oder? Irgendwie, weil ich mich selbst verletze und so. Das ist nämlich, dass ich mich beim Zwiebeln-Schneiden immer selbst in den Finger schneide. Ich verbrenne mich am Bügeleisen, stoße überall gegen und so.
Der meint, das ist irgendwie wegen meinen Eltern, weil ich meine Kindheit nicht abgeschlossen habe. Wissen Sie, was meine Frau da zu mir gesagt hat, als ich ihr das erzählt habe? Na? Sie sagt also: Vielleicht bist du auch einfach nur dämlich!“ Wieherndes Lachen.
„Na, wie finden Sie das? Na? Wie? Na?“
„Vielleicht.“
Brüllendes Lachen. „Ja, so ist’s!“
Immer so ging es, in einem fort. Ausgelassenheit als Standard-Einstellung. Befriedigung jedes körperlichen Verlangens, als sei es, sich am Kopf zu kratzen. Mehr als den Körper hat der Hirnlose nicht.
Eine Party nach der andern oder immer nur die gleiche. In Wohnungen, die stets gleich aussahen, manchmal war es wohl auch meine eigene. Es war ganz einerlei.
Es geschah während einer solchen Party bei mir zu Hause. Gedanken hatte ich nicht, aber dafür Instinkt – und der schlug mit einem mal Alarm. Auf der Suche nach einer Bedrohung schossen meine Blicke nach links, nach rechts, doch fanden sie nicht viel – der ganze Raum lag absolut eingehüllt in eine wabernde Decke aus Qualm. Nur als flüchtige Schemen hinter dem schier undurchdringlichen Schleier nahm ich die Partygäste noch wahr. In einem plötzlichen Anfall von Panik versuchte ich, zu ihnen zu gelangen, doch kaum machte ich einen Schritt auf einen der Schatten zu – da war er verschwunden, aufgelöst in dichten Dunst.
Auch ihre Stimmen entfernten sich: Worte, ganz Sätze verwischten, verschmolzen zu sinnlosem Rauschen. Stille.
Wild mit den Armen rudernd versuchte ich, eine Wand zu finden – nichts. Nur den Boden sah ich, übersäht mit noch glühenden Zigarettenstummeln. Von irgendwoher rollte eine Bierflasche heran. Ich war allein.
Ich begann zu frösteln, zu zittern – da erklang etwas wie das tiefe Schlagen einer Turmuhr. Ich lauschte, die Nerven zum Zerreißen gespannt.
Schon wiederholte es sich, um ein Vielfaches lauter diesmal und mir war, als erzittere der ganze Raum! Aber immerhin, der Qualm lichtete sich, ich konnte die Wände wieder erkennen – da schlug die unsichtbare Riesenuhr erneut, fast wäre ich gestürzt – Platsch. Es gab ein komisches platschendes Geräusch – da, schon wieder – und wieder.
Endlich konnte ich wieder anständig sehen und da erkannte ich auch mit tierischem Erschrecken die Quelle des Geräuschs: Die Teile meines Hirns lösten sich von der Decke und schlugen mit feuchtem Klatschen auf den Boden!
Das war zuviel – unter gellenden Schreien stürzte ich zur Tür hinaus, ins Treppenhaus – und traf hier auf ein Grauen, viel furchtbarer als das eben überstandene. Eine groteske Prozession schob sich, dicht gedrängt, die Treppe herauf. Bewusst erkennen konnte ich sie nicht, meine Augen aber kannten ihre Bilder: Es war die Schar all derer, deren Bücher ich verbrannt hatte!
Schiller war vorn mit dabei, Properz und Hegel in der zweiten Reihe – ich sprang herum, stürmte in die Wohnung zurück.
Es gab einen klirrenden Splitterregen, als ich die Balkontür einfach durchsprang, bereit, mich in die Tiefe zu stürzen – doch da schwang sich, ein sardonisches Grinsen im Gesicht, schon Nietzsche übers Geländer. Dieser Übermensch war die glatte Fassade hoch geklettert!
Gerade noch konnte ich vor seinen zupackenden Händen zurückweichen, dabei wäre ich fast Platon und Montesquieu in die Arme gelaufen. Rasch huschte ich an ihnen vorbei, schaffte es in die Küche und schlug die Tür hinter mir zu, warf mich mit dem Rücken dagegen – da wurde ich nach vorn geschleudert und schlug hart auf dem Küchenboden auf. Ich glaube es waren Thomas Mann und Kant, die die Tür eingerammt hatten.
Einerlei, schon fluteten sie herein! Eichendorff und Joyce packten mich bei den Armen. Ich wimmerte, weinte, brachte ein flehendes „Was wollt ihr von mir?“ heraus, doch es war ganz vergeblich. Sie blieben wie sie waren: Stumm, bestimmt, unerbittlich.
Ein Blick nach rechts zeigte mir Kafka, der eifrig mein Besteckfach durchwühlte. Schließlich wandte er sich um und mir blieb fast das Herz stehen, als ich das gewaltige Messer sah, das er mit der Rechten umklammert hielt.
„Nein!“
Aber schon hatten mich meine Peiniger zu Boden gedrückt. Und da hielten sie mich, so heftig ich mich auch wehrte. Es wurde ein schreckliches Martyrium. Sie zerschunden sechs Messer und meine Geflügelschere, bis sie mir die Schädeldecke endlich entfernt hatten.
Dann setzte sich Dostojewski neben mich, einen Putzeimer in Händen, der die Brocken und Fetzen meines Gehirns enthielt. Offenbar hatte er sie aufgesammelt. Alsbald setzte sich Puschkin hinzu und die beiden begannen, dabei recht ausgiebig über das System der zaristischen Selbstherrschaft herziehend, mit einer Tube Sekundenkleber mein Gehirn, wie es ihnen richtig schien, wieder zusammen zu kleben.
Am Ende setzte Dostojewski mir das triefende Ding wieder in den Schädel ein, bestrich meine abgetrennte Schädeldecke am Rand mit dem Kleber und fügte alles wieder behutsam zusammen. Als die furchtbare Prozedur vorüber war klopfte er mir auf die Schulter und sagte, ganz Mitleid: „Das wird schon wieder.“
Endlich zogen sie ab und ließen mich in meinem erneuerten Elend zurück. Nur Hermann Hesse blieb noch einen Augenblick länger um, in Anlehnung an eine Stelle aus seinem Demian, zu deklamieren: „Du hast versucht, dir eine Hälfte der Welt zu unterschlagen! Das konnte nicht glücken. Es glückt keinem, wenn er erst einmal das Denken angefangen hat.“
Er verharrte noch einen Moment als erwarte er Beifall. Als der ausblieb und nur mein erbärmliches Schluchzen zu hören war, wandte auch er sich zum Gehen.