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Wie deine Schwester

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07.12.2020
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Wie deine Schwester

„Wie deine Schwester“ hat er gebrüllt. Vorwurfsvoll, aggressiv mit diesen verbitterten, einsamen, verzweifelten und tieftraurigen Untertönen. Einsam und verloren saß er in seinem Sessel im Wohnzimmer. Die Tageszeitung lag wie immer auf seinem Knie. Sein leerer Blick bohrte sich tief in die kahle Wohnzimmerwand. Er starrte, leer und apathisch saß er da wie jedes Jahr in den Tagen vor und nach Weihnachten. Dieser Blick galt nicht ihr. Er suchte und fand nicht das was er suchte. Ihre Seele schrie förmlich vor Schmerz. Hilflos. Einsam. Verlassen. Es machte sie wütend, müde und hilflos mit anzusehen, wie dieser Mann an dem Leid der vergangenen Jahre zerbrochen ist, gealtert wie im Zeitraffer. Sie konnte es nicht ertragen, sie konnte es noch nie ertragen, heute musste sie gehen, sie musste raus und sie musste weg, sie musste dem allen ein Ende setzen, einen Schlusspunkt finden. Sie brauchte Frieden, keinen Kampf, sie war am Ende ihrer Kräfte, am Ende ihrer Hoffnung.

„Wie deine Schwester“ rief er noch verzweifelt hinter ihr her. Verzweifelt und einsam klang er, aber auch wütend und verletzend.

„Wenn du jetzt gehst brauchst du nicht wieder zu kommen!“, „Wie deine Schwester“ hat er ihr hilflos hinterhergerufen als die schwere Haustür hinter ihr ins Schloss fiel.

Als sie das Haus verließ fing es an zu schneien. Dicke weiße Flocken fielen erst vereinzelt und dann immer dichter aus den grauen Wolken, die von der Dämmerung langsam verschluckt wurden.

Es schneite wieder. Wie damals, dachte sie nur und kämpfte mit den Tränen.

Still war es dann vor dem Haus. Ruhe, gespenstische Ruhe, eine Ruhe ohne Frieden, Totenstille. Sie stand eine gefühlte Ewigkeit dort. Den roten Mantel in der Hand.

Dicke Schneeflocken fielen lautlos aus den dichten, grauen Wolken und bedeckten schnell die toten, kahlen Äste der Bäume, die Hecken, das letzte tote Laub des Herbstes, deckt alles unter einer immer dicker werdenden weißen, reinen Decke zu. Der Schnee glitzerte und funkelte. Sie zog den Mantel an und schlich dann langsam die Straße entlang, einsam fühlte sie sich, verlassen. Sie lief den Weg den sie als Kind gemeinsam mit ihrer Schwester tausende Male gegangen ist, zur Schule, zum Spielplatz, zur Autobahnbrücke an der sie so oft am Geländer zusammenstanden, um den vorbeifahrenden Menschen zuzuwinken. Sie träumten damals von fernen Städten, Ländern und Kulturen. Wollten gemeinsam die Welt entdecken. Alleine, alleine ging sie jetzt diesen Weg und in ihrem leeren Herzen machte sich die Sehnsucht nach ihrer Kindheit breit. Nach der Kindheit und nach ihrer Schwester die sie so sehr vermisst.

Sie senkte ihren Blick und zählte die Gehwegplatten, so wie sie es früher gemeinsam taten …

… 1 … 2 … 3 …

Jetzt war sie alleine auf dem Weg zurück in die Vergangenheit, alleine mit ihren Erinnerungen, den Bildern vergangener Tage, alleine mit ihren Ängsten. Einsam und verlassen - eingehüllt in den roten Mantel, diesen Mantel, den Mantel, der ihr inzwischen soviel bedeutete.

… 12 … 13 … 14 …

Nicht auf die Fugen der Platten treten drohte eine unheilvolle Stimme in ihrem Kopf. Nicht reintreten, in die dunklen Abgründe, sie verschlingen dich wie sie bereits deine Schwester verschlungen haben. Nicht reintreten. Immer wieder dieser Gedanke. Immer dieses pochende Echo in ihrem Kopf.

„Wie deine Schwester“ hörte sie ihn sagen.

… 19 …20 … 21 …

Immer weiter, einen Fuß vor den anderen. Einfach weiter gehen, einfach weg. Nach vorn, keinen Plan. Einfach nur weg von ihm, weg vor dem was geschehen war. Sie wurde weggetragen vom Haus ihrer Kindheit, vom Haus der Eltern. Sie irrt stumm durch die Dämmerung und die Gedanken kehren zurück, düster und unheilvoll nehmen sie Besitz von ihr.

… 27 … 28 … 29 …

Kein Lüftchen weht, die Straße ist menschenleer. Die Straßenlaternen und die festlich beleuchteten Fenster werfen ihr fahles Licht in die trostlosen Vorgärten und auf den verschneiten Weg, der vor ihr liegt. Sie bemerkt nichts mehr von dem festlichen Treiben hinter den Fassaden der Häuser. Sie geht nur noch auf diesem einsamen Weg, der sie zurückbringt, zurück in die vergangenen Tage ihrer Kindheit und Jugend. Die Erinnerungen lassen keinen Freiraum für schöne Gedanken. Und da ist wieder seine Stimme, die sie weitertreibt.

„Wie deine Schwester“ hört sie ihn in ihrem Kopf klagen.

… 35 … 36 … 37 …

„Wie deine Schwester“ hat er gesagt. Heute genauso wie damals und so oft zuvor. Damals, nachdem Anna jahrelang verschwunden war, nachdem er ihre Schwester rausgeworfen hatte, weil ihr Freund sie sitzen gelassen hatte und Anna aus Kummer ihr Kind verlor. Wortlos stieß er sie damals zur Tür hinaus.

… 39 … 40 … 41 …

Heute vor genau fünf Jahren klopfte es plötzlich und unverhofft an der Haustür. Sie hört dieses dumpfe, leise Pochen, so wie Anna immer klopfte, wenn sie heimlich nach Hause kam und die Eltern es nicht mitbekommen sollten. Das Klopfen ist so laut in ihrem Kopf, als ob jemand sie mit einem Hammer schlägt. So weh tut es.

… 42 … 43 … 44 …

Die Eltern waren gerade weg, letzte Besorgungen für das Fest der Liebe machen, wie er es immer nannte. Als sie die Tür öffnete sah sie in Annas müde, leere, rot unterlaufene Augen. Das leuchtende Grün von einst war einem fahlen Grau gewichen. Das Gesicht aschfahl, übersäht mit Pusteln, das Haar ungepflegt und strähnig. Gebeugt, abgemagert und kraftlos stand sie vor der Tür, zitternd, hilflos wie ein kleines Kind. Dann dieser Gestank, sie roch nicht … sie stank zum Himmel nach Zigarettenrauch, Alkohol, Schweiß. Sie hatte wochenlang keine Dusche gesehen.

Dann plötzlich und unerwartet. Dicke Flocken fielen vom Himmel und bedeckten alles mit einer glitzernden, reinen und weißen Decke. Sie umarmte Anna wortlos. Endlich bist du wieder da dachte sie.

… 55 … 56 … 57 …

Sie brachte Anna in ihr altes Zimmer, zog sie aus und stellte sie unter die Dusche. Sie legte ihr saubere Sachen zurecht, ging in die Küche und machte Tee, so wie sie ihn immer für Anna gemacht hatte, wenn es Anna nicht gut ging … Annas Lieblingstee. Sie sog den lieblichen und süßen Duft, den sie so lange vermisst hatte in sich auf. Anna ist wieder zu Hause, dachte sie. Es wird alles gut … dachte sie … Anna ist wieder da … Anna ist zurück … Sie war glücklich und voller Hoffnung.

…70 … 71 … 72 …

Die Haustür öffnete sich und die Eltern kamen herein. Die Mutter bemerkte es zuerst das Anna zurück war und rief laut, freudig überrascht und fragend einfach nur nach ihrem Kind. Der Glanz war wieder zurück in den Augen ihrer Mutter, der Glanz der Jahre zuvor verloschen war als er Anna vor die Tür setzte und dann auch das Leben in seinen Augen verlosch.

Er stürmte wortlos und wütend die Treppe hinauf in Annas Zimmer und einen Augenblick später zerrte er Anna am Arm zur Haustür, stieß sie wortlos hinaus, warf ihr den roten Mantel hinterher und knallte die Tür ins Schloss. So wie damals, genauso wie damals.

Sie stand wortlos in der Küche, klammerte sich mit ihren zitternden Händen an der warmen Teetasse fest, saugte diesen süßen Duft ihrer Jugend tief in sich hinein und hörte ihn nur noch schreien.

„Die kommt mir nie wieder ins Haus!“,

„War das damals nicht deutlich genug?“

Er schaute mich aufgebracht und irgendwie auch traurig an und setzte sich apathisch in seinen Sessel.

„Wie deine Schwester“ wimmerte er, und dann immer wieder. „Wie deine Schwester“. Immer wieder.

… 80 … 81 … 82 …

Es war das letzte Mal, dass sie Anna gesehen hatte, an diesem 23. Dezember vor fünf Jahren. Stunden später standen Polizisten vor der Haustür und erklärten das sich Anna von der Autobahnbrücke gestürzt hatte. Sie wusste genau, wo Anna es getan hatte, genau an der Stelle wo sie so oft gemeinsam gestanden und geträumt hatten.

Sie stand am Küchenfenster, immer noch den inzwischen kalten Tee in den Händen, sog den Duft wieder und wieder ein und weinte bittere Tränen. Die Eltern waren weg und sie war alleine, alleine im Haus, alleine im Leben, alleine im Herzen. Es schneite immer noch. Dicke weiße Flocken fielen auf den glitzernden Schnee und in ihrem Kopf war wieder seine Stimme

„Wie deine Schwester“ hörte sie ihn sagen. „Wie deine Schwester.“ Wimmerte er leise vor sich hin.

… 85 … 86 … 87 …

Später an diesem Abend klingelte es. Sie öffnete die Tür und dieser Duft von Alkohol, Nikotin und Schweiß war wieder in ihrer Nase, in ihrem Kopf, in ihrem Herzen. Anna, schoss es ihr in den Sinn und als sie die Augen öffnete schaute sie in das Gesicht eines alten und gebeugten Mannes. Ein alter Mann, obdachlos dachte sie, mit einem alten Gesicht, einem langen ungepflegten grauen Bart und unpassenden grünen Augen, die jugendlich strahlten. Er stand da, mit zusammengekniffenen Lippen, zitternden Händen und hielt ihr den roten Mantel hin.

„Der gehört wohl ihnen“, meinte er.
„Ich habe ihn an der Autobahnbrücke gefunden.“

„Frohe Weihnachten“ wünschte er und bevor sie wusste was geschah oder fragen konnte war der Mann schon im dichten Schneetreiben verschwunden.

… 91 … 92 … 93 …

Dann vor zwei Jahren, ihr Mann verließ sie für eine Andere, sie war schwanger, ein Mädchen war es. Sie freute sich auf die Kleine, erzählte es ihren Eltern.

„Anna soll sie heißen“ sagte sie ihnen, Mutter weinte vor Freude und er tobte

„Wie deine Schwester?“ brüllte er wieder und wieder und warf auch sie aus dem Haus. Kurz danach verlor sie das Mädchen, ihre Welt brach komplett in sich zusammen. Alles verloren, die Eltern, die geliebte Schwester, den Mann und zuletzt die ungeborene Tochter, dieses junge unschuldige Wesen, das doch Anna heißen sollte. Sie kam zurück, fürs Weihnachtsfest, für die Mutter und auch für ihn. Heute nach der langen, traurigen und schweren Zeit suchte sie ihr Zuhause, mit einem Herz voller Hoffnung und fand keinen Frieden, nur Tränen, Trauer, Verzweiflung, Hoffnungslosigkeit und Einsamkeit.

… 98 … 99 … 100 …

Zuerst hörte sie das Rauschen. Wie Meeresrauschen war es. So wie im Urlaub an der See als noch alles gut war. Es war aber nicht das Meer, sondern die Autos die gemächlich im Schneetreiben über die Autobahn fuhren. Sie stand auf der Brücke. Auf der Autobahnbrücke. Sie stand plötzlich auf der Brücke genau an der Stelle wo sie sooft mit Anna gestanden hatte, an der Stelle wo Anna ihrem jungen Leben ein so jähes Ende setzte. Und sie spürte, wie nah sie Anna jetzt war. Sie spürte ihre Schwester, sie roch sie, sie fühlte ihre Wärme so wie in der Jugend als sie gemeinsam in einem Bett schliefen, wenn es draußen kalt war oder es gewitterte. So nah wie seit Jahren nicht mehr.

Sie drehte sich um und schaute zurück. Zurück auf den Weg den sie gekommen war. Einen letzten Blick, um Abschied zu nehmen. Den Weg durch ihre Vergangenheit war sie nun gegangen und sie sah ihre Spuren im Schnee die langsam verschwanden. Unsichtbar sein schoss es ihr durch den Kopf. Meinen Weg auslöschen so wie der Schnee meine Spuren verwischt. Einfach alles beenden und dahin gehen wo die geliebte Schwester und ihre kleine Tochter auf sie wartet, mit den Beiden vereint sein auf alle Ewigkeit und ihn nicht mehr hören müssen, nie wieder hören müssen, wie er sagt

„Wie deine Schwester“.

Sie umklammerte das Geländer und die Kälte kroch in ihr hoch. Der Gedanke daran endlich Frieden zu finden und alles hinter sich zu lassen machte sie mutig. Entschlossen den letzten Schritt zu tun schaute sie noch einmal zurück und in dem Augenblick als sie loslassen wollte tauchte schemenhafte eine Gestalt aus dem Schneetreiben auf. Der Schatten kam näher und bevor sie etwas erkennen konnte roch sie wieder diesen Duft. Diesen Duft den sie zuletzt vor fünf Jahren gerochen hatte. Diesen unverwechselbaren Duft von Zigaretten, Alkohol und Schweiß.

Fassungslos starrte sie den alten Mann an, der ihr damals den roten Mantel gebracht hatte, den sie heute trägt. Es waren dieselben Augen voller Leben, dieser Bart, dieses Gesicht. Und dann stand der Alte vor ihr, lächelte Sie mit seinen jungen, strahlenden grünen Augen, die so gar nicht zu dem alten, gegerbten Gesicht passten, an.

„Dort wo du jetzt hin willst da sind deine Schwester und deine Tochter nicht.“ sagte er ruhig.

Sie hörte nur noch seine Stimme, vergaß alles um sich herum. Es war nur noch die Stille um sie und sie lauschte gebannt.

„Sie sind hier, bei dir, sie sind in dir, alle Beide“ flüsterte er.

„Wenn du gehst dann verlierst du sie für immer“ sagte er ganz leise, flüsternd und schüttelte kaum merklich seinem Kopf.

Er lächelte sie lange, wortlos an. Mit einem gütigen und weisen Lächeln, drehte er sich herum, um zu gehen, wandte sich ihr aber noch einmal zu und sagte:

„Deine Augen. So grün, so leuchtend. So voller Hoffnung!“ Wortlos starrte sie ihn an und wollte etwas sagen. Irgendetwas. Er nahm aber seinen alten, gelben und faltigen Zeigefinger an seine schmalen Lippen, drückte ihn fest in seinen Bart und schaute ihr tief in die Augen.

„Psst“ pfiff er nachdrücklich und schüttelte erneut unmerklich seinen Kopf. Sie starrte ihn an. Sie klebte förmlich an seinen Lippen und sog jede Geste des Fremden in sich auf.

„Deine Augen, dein Lächeln, dein Herz, sind genauso wie deine Tochter“

und nach einer gefühlten Ewigkeit mit einem Lächeln sagte er dann „und …“

„wie deine Schwester“.

 

Hey,

also man merkt, dass du erzählen kannst. Die Integration der Gehwegplatten im Text, also der Zählung fand ich originell und gut gelungen. Die Formulierungen sind jedoch allgemein teilweise einfach zu pathetisch. Du reihst sehr oft Synonyme nebeneinander. Das hat zwar eine gewisse stilistische Funktion, wirkt aber, wenn es zu oft zum Einsatz kommt, larmoyant. Auch wenn die Thematik sehr sentimental ist. Erinnert mich an Thomas Bernhard Hier Beispiele:

Tränen, Trauer, Verzweiflung, Hoffnungslosigkeit und Einsamkeit
glitzerte und funkelte
noch verzweifelt hinter ihr her. Verzweifelt und einsam
Einsam und verlassen
Wortwiederholungen würde ich komplett vermeiden:
Sein leerer Blick bohrte sich tief in die leere Wohnzimmerwand.
Dicke Schneeflocken fielen lautlos aus den dichten, grauen Wolken
Dicke weiße Flocken fielen erst vereinzelt und dann immer dichter aus den grauen Wolken

Das Ende war meiner Meinung nach etwas zu sehr nach Deus ex machina, es wirkte einfach unrealistisch, dass der alte Mann genau im richtigen Moment erscheint und dann so einen theatralischen Monolog hält. Aber vielleicht bin ich da einfach nicht die geeignete Zielgruppe.

Orthografisch:

saß er da, wie jedes Jahr
kein Komma
Wie damals. Dachte sie nur und kämpfte mit den Tränen.
, dachte sie nur
versteckten das letzte tote Laub des Herbstes, deckt alles unter einer immer dicker werdenden weißen, reinen Decke.
?
um den vorbeifahrenden Menschen zuzuwinken
,um

Auch ist die Erzählzeit oft nicht einheitlich: Präsens - Präteritum

Sie senkt ihren Blick und zählte
Jetzt war sie alleine auf dem Weg

Sie schreite
schreien ist zumindest noch ein starkes Verb ;)
die Eltern es nicht mitbekommen sollte
sollten
erklärten das sich Anna von Autobahnbrücke gestürzt hatte.
von der Autobahnbrücke
sie so oft gemeinsam gestanden hatten

 

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