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Wie der Löwenzahn zu seinem Namen kam
Zu beiden Seiten des erdigen Waldwegs ragten Fichten und Tannen empor. Die Rinde war abgeblättert und die Bäume wurden an einigen Stellen von einem unansehnlichen Pilzbefall heimgesucht. Unerbittlich brannte die Sonne auf die Schulklasse herab. Prustend und stöhnend schleppten sich die Kinder vorwärts. Sie waren gezwungen hintereinander zu gehen, weil der ausgetretene Pfad nicht sehr breit war und Disteln und Brennnesselstauden ihn säumten. Da die kahlen Stämme fast keinen Schatten spendeten, rann ihnen der Schweiß in Bächen den Rücken herab und verklebte ihre Kleidung.
Doch einer stapfte enthusiastisch voraus, von scheinbar unerschöpflichen Energiereserven zehrend. Obwohl auch sein Gesicht die Farbe eines Pavianhinterns angenommen hatte, betrachtete er mit dem Strahlen unendlichen Glückes auf seinen Zügen, die trostlose Baumwüste. Herr Weitschreiter liebte Wanderungen und versuchte vergeblich, seit sie mit dem Bus in Oberbeerenstein angekommen waren, seine Schüler dazu zu bewegen, diese Begeisterung mit ihm zu teilen.
„Ich mache keinen weiteren Schritt.“ Steffis schrille Stimme schreckte einige Vögel auf, die zeternd davonflogen. Demonstrativ ließ sie sich auf einem Baumstumpf nieder.
Herr Weitschreiter tat amüsiert: „Gut, du kannst ja dann nachkommen, wenn dir danach ist.“
Die anderen Kinder waren unschlüssig, wie sie sich verhalten sollten. Doch da ihr Lehrer keine Anstalten machte seinen raschen Schritt zu drosseln, hielten sie es für klüger ihm zu folgen. Keiner von ihnen hatte den wirren Zickzackkurs, den Herr Weitschreiter mit ihnen eingeschlagen hatte, nachvollziehen können und niemand hatte Lust stundenlang in der Hitze zu braten, bis sie alleine zum Schullandheim zurückgefunden hatten.
Als Steffi sah, dass die gesamte Klasse hinter der nächsten Biegung zu verschwinden drohte, eilte sie ihnen nach. Nicht jedoch, ohne fortwährend unfeine Verwünschungen auszustoßen. Nachdem sie zu Herrn Weitschreiter aufgeschlossen hatte, war Steffis Gesicht nicht nur wegen der Hitze puterrot.
“Ich habe nicht die passenden Schuhe an, für so einen Gewaltmarsch“, blaffte sie ihren Lehrer an.
„Das, liebe Steffi, hättest du dir früher überlegen sollen. Ich habe die ganze Klasse beim Frühstück darauf hingewiesen…“
Der sachliche Tonfall brachte Steffi zur Weißglut: „Sie haben aber nicht darauf hingewiesen, dass wir den ganzen Tag über in einem Affentempo durch die Pampa heizen würden.“
Herr Weitschreiter sah das Mädchen verständnislos an. Wie konnte sich jemand dazu erdreisten, Wandern nicht für die wundervollste Sache der Welt zu halten.
Marion, die einige Schritte hinter den beiden ging, machte ihrem Ärger nun ebenfalls Luft: „Ich habe zig Blasen an den Füßen und vorhin am Weiher, hat mich eine Libelle gebissen.“
„Libellen beißen nicht“, erwiderte der Lehrer knapp. Die Nörgeleien der Schüler hatten seine gute Laune mittlerweile hinfort gefegt.
„Also gut. Wir machen eine Pause. Sobald wir aus dem Wald heraus sind.“
Steffi warf Marion einen dankbaren Blick zu.
Kurze Zeit später ließen sie die Bäume, oder besser gesagt, das, was von ihnen übrig geblieben war, hinter sich. In der Ferne ragte ein Kirchturm inmitten einiger weinroter Ziegeldächer empor. Rings um sie herum blühte Mohn.
„So, ihr Waschlappen“, meinte Herr Weitschreiter spöttisch. „Hier legen wir eine Rast ein“
Die Kinder waren zu erschöpft, um in Begeisterungsstürme auszubrechen.
Sie hatten sich am Wegesrand niedergelassen und damit begonnen, die Butterbrote und das Obst aus ihren Rucksäcken hervorzukramen, das die Schullandheimküche ihnen mit auf den Weg gegeben hatte. Sie hockten auf der Wiese, einige legten sich der Länge nach hin, schlossen die Augen und genossen die Sonnenstrahlen. Noch ahnte niemand etwas von dem Grauen, das sich ihrer in Kürze bemächtigen würde.
Marion sah es als Erste. Sie begann unkontrolliert zu kreischen. Herr Weitschreiter wollte sie zur Ruhe ermahnen. Doch gerade, als er zu einem seiner gefürchteten Vernunftsappelle ansetzten wollte, sah er es ebenfalls. Auch die anderen Kinder wandten sich nun um. Trotz der Mittagshitze gefror ihnen das Blut in den Adern. Selbst der Spitzwegerich am Wegesrand erzitterte. Aus dem Feld war eine gewaltige Kreatur emporgestiegen. Rote Blütenblätter, denen des Mohns zum verwechseln ähnlich, umrahmten das düstere Antlitz. Nadelspitze Zähne, jeder Einzelne so lang, wie Herrn Weitschreiters Unterarme, ragten ihr aus dem Schlund. Kleine Augen, schwarz wie ein Leichentuch, starrten ihnen entgegen. Jedem von ihnen war klar, dieser Blick verhieß nichts Gutes. Herr Weitschreiter hatte sich den Umständen entsprechend gefasst und erhob sich aus dem Gras. Im Vergleich zu dem Ungetüm wirkte er wie ein Hirschhornkäfer neben einem Elefantenbullen. Trotzdem stand er entschlossen vor dem bedrohlichen Wesen.
„Was bist du?“ Herr Weitschreiter hatte keinen Grund, anzunehmen, dass dieses Monster in der Lage war zu sprechen. Aber er konnte wenigstens versuchen, mit ihm Kontakt aufzunehmen. Wie oft hatte er seinen Schülern eingebleut, Konflikte seien im Dialog zu lösen, nicht mittels Gewalt. Verwundert stellte er fest, dass das Ungetüm tatsächlich Anstalten machte, etwas zu erwidern. Die Blütenblätter stellten sich auf und umhüllten sein Gesicht wie ein Kranz.
„Ich bin der Höllenmoloch.“
„Hm“, Herr Weitschreiter war sich nicht sicher, was er mit dieser Information anfangen sollte. Er blickte zu seinen Schülern herüber, doch diese saßen wie gelähmt im Gras und starrten auf die skurrile Erscheinung.
„Ich“, fuhr der Höllenmoloch fort. „Komme aus dem Mohn. Ich bin der Mohn. Und der Mohn ist in mir.“
„Ähm ja. Und was macht ein Moloch so, ich meine was frisst er? Bist du Vegetarier?“
Der Moloch starrte ihn finster an. Schlagartig wurde Herrn Weitschreiter bewusst, dass er es mit einer Pflanze zu tun hatte und diese Bemerkung alles andere als glücklich gewesen war. Er senkte verlegen den Kopf.
„Naja. Schwamm drüber?“
Der Moloch tobte.
„Wie bitte? Du hast mir soeben Kannibalismus unterstellt, Mensch. Übrigens.“ Er legte eine bedeutungsschwangere Pause ein.
„Du wolltest wissen wovon ich mich ernähre. In der Regel verspeise ich Wildtiere. Hasen, Rehe und Füchse. Mein Leibgericht jedoch sind…“
„Nun ja, vielleicht sollten wir das Thema nicht vertiefen.“ Herr Weitschreiter war blass um die Nasenspitze.
„Menschen“, fuhr der Moloch ungerührt fort. „Leider verirrt sich nur selten jemand in diesen abgelegen Landstrich. Doch heute scheint mein Glückstag zu sein.“ Die Spitzen der Blütenblätter bebten in freudiger Erwartung.
„Herr Weitschreiter, so tun sie doch etwas.“ Steffi war aus der Starre, die alle Kinder befallen hatte, erwacht.
„Der Moloch wird uns alle töten.“
„Nein das wird er nicht“, befand der Lehrer. „Der Höllenmoloch verschwindet jetzt ganz schnell dorthin, von woher er gekommen ist, nicht wahr Herr Moloch?“ Herr Weitschreiter versuchte autoritär zu wirken, doch seine Stimme zitterte. Der Moloch dagegen schien hämisch zu grinsen.
„Wieso sollte ich das tun?“
„Weil, weil …“ Herr Weitschreiter suchte fieberhaft nach einer Möglichkeit, das Ungeheuer zumindest noch ein wenig hinzuhalten.
Doch der Moloch kam unaufhörlich näher. Astrid, die eine Pollenallergie hatte, nieste. Der Samen des Löwenzahns, der neben dem Mohnfeld wuchs, wurde dem Höllenmoloch entgegen geweht. Erstaunt blickte das Ungeheuer auf die winzigen Fallschirmchen, die auf ihn zutrieben. Dann, Herr Weitschreiter und die Kinder mochten es kaum glauben, blitzte Furcht in seinen knopfgroßen Augen auf.
„Scheiße, Pusteblume.“ Innerhalb eines Sekundenbruchteils, hatte ihn der Mohn verschluckt. Lediglich eine riesige Blüte flatterte im Wind auf und ab, bis auch dieses letzte Überbleibsel im Feld verschwunden war.
„Puh, äh, das war knapp.“ Herr Weitschreiter wischte sich den Schweiß von der Stirn. „Wir sollten uns jetzt auf den Heimweg machen.“
Keines der Kinder protestierte.