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Wie ein Herbstblatt

Beitritt
04.10.2002
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Wie ein Herbstblatt

Wie ein Herbstblatt

Langsam hebe ich den Blick. Es ist kalt geworden, Wind weht, zerzaust mir meine langen Haare, die ich offen trage. Eine beiläufige, längst zur Gewohnheit gewordene Handbewegung streicht sie hinter die Ohren zurück.
Ich lasse meinen Blick über die Wasseroberfläche des Sees vor mir gleiten. Blätter, braune, gelbe, rote, treiben auf dem See, drehen sich um die eigene Achse.
Das erinnert mich ein wenig an mich, ich drehe mich auch im Kreis. Egal, was ich mache, was ich nicht mache, immer wieder kehren meine Gedanken zu ihm zurück.
Den Versuch, ihn aus meinem Herzen zu verbannen, habe ich schon lange aufgegeben, auch kann ich ihn nicht aus meinem Kopf verjagen, und eigentlich will ich das auch nicht.
Mein Herz will es nicht, allein mein Verstand sagt mir, dass es sein muss. Doch mein Herz wehrt sich gegen den Verstand ... und scheint zu siegen.
Der Wind weht stärker, wirbelt die Blätter auf. Die Bäume sind schon fast ganz kahl. Mir wird kalt und ich stehe auf. Mit ruhigen, langsamen Bewegungen streiche ich die trockenen, schönen Herbstblätter und den Dreck des Bodens von meiner Kleidung ab.
Ich wende dem See den Rücken zu und gehe gemächlich den schmalen Sandweg entlang. Immer weiter. Ich weiß, dass ich bald auf eine große Wiese kommen werde. Sie ist mein Ziel. Nein, etwas hinter ihr ist mein Ziel.
Der Wind wird immer stärker, lässt die Äste aneinander schlagen, reißt kleinere, schwache Zweige ab und lässt sie achtlos zu Boden fallen.
Auch in mir tobt ein starker Wind, fast ein Sturm.
Er ist nicht bei mir, wird es nie sein, er ist unerreichbar. Dieses Wissen tut mir so weh, oft kann ich den Schmerz ignorieren, aber manchmal bricht er einfach durch. Plötzlich, unerwartet.
Ich habe keine Jacke an, mir ist kalt, schlinge die Arme um meinen Körper. Durch den Pullover spüre ich meine Rippen, deutlich, sie stechen geradezu hervor.

Dort steht sie. Die eben noch empfundene Wärme treibe ich aus ihr heraus, ich lasse ihr Haar wehen, streiche um sie herum, greife ihr unter die Kleider, fühle ihre Haut.
Ein entfesselter Sturm, für niemanden zu greifen, zerstörende Naturgewalt.

Ich seufze einmal tief, doch das höre ich noch nicht mal selbst, so leise ist es, so laut heult der Sturm inzwischen.
Ich bleibe stehen, drehe meinen Kopf in den Wind. Der Wunsch zu kämpfen wird deutlicher, größer. Doch mein Körper ist schwach, bald drehe ich meinen Kopf wieder weg, der Wind ist zu stark für mich geworden.
Ich habe es nicht schwer weiterzugehen, muss nicht gegen ihn ankämpfen. Nein, er scheint mich vorwärts zu schieben, als wenn ich ihm nicht schnell genug ginge.

Ich treibe sie vor mir her, versuche sie aufzuhalten, kann meine Richtung aber doch nicht steuern, bin zu sehr in meinen eigenen Gesetzen gefangen. Ich spüre ihren schmalen Körper, der schon zu sehr ausgezehrt ist, energieverloren, ohne Liebe zu sich selbst. Ich möchte sie anheben, forttragen, ihr die Entscheidung über ihr Leben abnehmen. In ihren Augen sehe ich mich wirbeln, sehe Strudel ihrer und meiner Selbstzweifel.

Ich erreiche die Wiese. Die Grashalme sind lang, doch nun drückt der Sturm sie flach auf die Erde, lässt ihnen keine Chance, ihre Größe zu zeigen, ihre Stärke. Sie wirken so schwach.
Mein Schritt federt auf dem weichen Untergrund, ich gehe immer weiter, weiter geradeaus.
Und noch immer ist er in meinem Kopf. Ich höre seine Stimme, sehe sein Gesicht, spüre seine Nähe, seine Wärme. Und doch ist er nicht hier.

Wütend rase ich über den See, peitsche das Wasser auf, will meine Umwelt dafür bestrafen, dass ich bin, wie ich bin, will mich in der Sonne auflösen, die schon lange keine Wärme mehr spendet.
Ich bahne ihr einen Weg über die Wiese, drücke die Halme herunter, um die zu schützen, die ich liebe, um sie sanft auf ihrem Weg zu begleiten.

Ich habe mein Ziel erreicht. Die Sonne steht tief, scheint mir rotgolden ins Gesicht. Ich fühle die Nähe des Abgrunds, höre das Meer rauschen. In mir findet ein Kampf statt. Wie soll ich mich entscheiden, was soll ich machen?
Ich kann nur zusehen und das Ergebnis abwarten.
Ich schließe die Augen, ohne Zeitgefühl stehe ich da und warte. Ich höre, wie sich die beiden Seiten anschreien, sich bekämpfen, und ich bin zwischen ihnen.
Irgendwann ist es ganz still, die kämpfenden Seiten, ja selbst der Wind scheint den Atem anzuhalten. Nur er ist in meinem Kopf, ich sehe sein Bild vor mir.

Sie bleibt stehen, denkt nach, senkt den Kopf und entscheidet. Ich wehe sacht, spiele ein letztes Mal mit ihren Haaren und warte.

Und dann fälle ich eine Entscheidung.
Um sie aufzufangen.

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  • 11 wie_ein_herbstblatt.mp3
    4.5 MB · Ansichten: 1

Hallo Moonshadow!

Deine Geschichte birgt eine ganz besondere Melancholie in sich, die mir selbst nicht ganz fremd ist. Na ja, ist schon eine Weile her ...

Den parallel gegliederten Aufbau des Textes halte ich für eine ausgezeichnete Idee. Sie, die Zerbrechliche, kämpft sowohl gegen einen inneren, als auch einen äußeren, personifizierten Sturm an.

Eine Kleinigkeit, die mir auffiel:

Mit ruhigen, langsamen Bewegungen streiche ich die trockenen, schönen Herbstblätter und den Dreck des Bodens von meiner Kleidung ab.
M. E. stört das Wort Dreck den ansonsten schönen Sprachstil. Ich fände Lehm oder Schmutz passender.

Ansonsten: Gefällt mir sehr gut!


Ciao
Antonia

 

Hallo Moonshadow

wie schon die anderen Mitleser erwähnt haben, ist dir eine wirklich wunderschöne melanchonische Geschichte gelungen. Die Stimmung des Herbstes mit der Stimmung der Prot. so sinnlich, menschlich aus zwei perspektiven zu einer zu verbinden ist dir gelungen.
Auch finde ich deinen Schluss unübertroffen, da sich der Leser darüber sein eigenes, jeweiliger Stimmung abhängigiges Ende denken kann.


Großes Lob von
Morpheus

 

Hallo Antonia!
Vielen dank fürs Lesen :) Freut mich sehr, dass dir die Geschichte gefällt.
Ich hatte eigentlich gehofft mit dem Wort "Dreck" eine Art Kontrast zwischen den schönen Herbstblättern und dem Schmutz.
Vielleicht muss man diesen Kontrast (den ich mir das erhofft hab ;)) gar nicht so wörtlich sehen.. vielleicht eher im übertragenden Sinne?
Verstehst du, was ich meine?

Hallo Morpheus!
Auch dir vielen Dank, dass du meine Geschichte gelesen und kommentiert hast :)
Freut mich sehr, dass dir das Ende gut gefällt. :)

Allmählich weiß ich gar nichts mher zu antworten, auf so viel Lob :shy:

tschüß

 

hallo moon!

auch ich hab diese geschichte gerne gelesen... einmal was anderes... mich muss eine geschichte faszinieren, und das hat diese... frag mich aber nicht warum genau..
vielleicht der wind, der doch so einfuehlsam "reagiert".. vielleicht auch ein weiteres mal die duestere stimmung, die so perfekt zu dem wetter draussen vor dem fenster passt...

das einzige, was mir nicht gefaellt, ist, dass sie mich in eine stimmung versetzt, in der ich nicht gerne bin. aber dafuer kannst du nichts! eigentlich eher ein lob fuer dich, weil du es geschafft hast, so an mich "heranzukommen"...

alles liebe
dany

 

Hi Sunny!
Auch dir vielen Dank fürs Lesen und kommentieren :)
Dass dich die Geschichte fasziniert hat, freut mich natürlich sehr.
Und dass dich die Geschichte in die Stimmung der Story brachte, ist für mich großes Lob :)

bye

 

Hallo Moonshadow,
auch auf die Gefahr hin, dass ich jetzt bestimmt nichts Neues mehr schreibe trotzdem ein paar Worte:
Deine Geschichte hat mir sehr gut gefallen, besonders die Kursiveinschübe mit den Gedanken des Windes.
Alles Weitere: siehe meine Vorredner.:D

Liebe Grüsse
Blanca

 

Hi mööny!

Lange hat es gedauert, aber nun schreib ich dir dennoch was zu deiner Geschichte - auch wenn ich mit Sicherheit nicht viel Neues sagen kann. :D

Mir hat deine Geschichte gut gefallen. Die Stimmung, die Umgebung, die du kreierst, hat etwas ganz Besonderes. Du verbindest das Wetter, den Herbst, mit den Gefühlen, dem Inneren, der Protagonistin. Aufgewühlte Gefühlswelt, ein hin und her. Hat eine ganz bestimmte Wirkung, die ich persönlich nicht wirklich in Worte fassen kann (vielleicht hätte ich es besser gekonnt als ich deine Geschichte zum ersten Mal gelesen habe).

Stilistisch gesehen macht die Geschichte einen sehr sicheren Eindruck. Du weißt, wo du hinwillst und die Worte stehen genau da, wo sie am Besten die Stimmung erzeugen.

Zum Schluss noch zwei kleine Anmerkungen:

Es ist kalt geworden, Wind weht, zerzaust mir meine langen Haare, die ich offen trage.
Ich weiß nicht wieso, aber bei dieser Stelle bin ich ins Stocken geraten. Ich denke mal, dass das an "die ich offen trage" liegt, ist meiner Ansicht nach leicht leseflusshämmend.

Der Wunsch zu kämpfen, wird deutlicher, größer.
Muss hier das erste Komma nicht weg? :confused:

Liebe Grüße
Ally

 

hi älly!
Danke fürs lesen :)
Freut mich sehr, dass auch dir meine Geschichte gefallen hat.

Zu deinen Bemerkungen:
Nummer 1: hmm, hast schon irgendwo recht... liest sich nicht wirklich gut. Aber ich kann ihn auch schlecht streichen... immerhin spielt der Wind etwas später mit den Haaren. Und mit Haaren spielen geht halt einfach um ein vielfaches besser, wenn die Haare offen getragen werden als im Zopf ;)
Hast du einen Vorschlag, das umzuformulieren?

Nummer 2: hehe, tja, seltsam, der Fehler ist mir grad auch aufgefallen, als ich das Vorlesen geübt hab.. Werd die geschichte ja am Freitag im Deutschunterricht vorlesen.. *bibber* *tausendmalverles* :D

Und wenn wir schon beim Umformulieren sind...
Diese Stelle stört mich sehr und ich finde keine gute Lösung. Alles hört sich doof an, was mir einfällt :(

Das erinnert mich ein wenig an mich, ich drehe mich auch im Kreis.
Hast du oder jemand andres einen Vorschlag?

bye bye

 

Zu Nummer 1:
Das Problem, dass der Satz notwendig ist, seh ich auch so. Nur fällt mir grad keine andere Formulierung ein. Lösen könnte man es eventuell dadurch, dass man zwei Sätze draus macht. Aber ich weiß nicht, ob man das gut ohne Wiederholung lösen könnte.
Die Lösung, die mir jetzt auf die Schnelle einfällt, wäre "Es ist kalt geworden, Wind weht, zersaust mir meine langen Haare - Haare, die ich offen trage."
Aber naja, wirklich überzeugt bin ich davon nicht.

Zu Nummer 2:
Hehe, na dann wünsche ich dir viel Spaß beim Vorlesen ;) :D

Zu Nummer 3:
Okay, ich bin grad pseudo-kreativ, lass mich einen Versuch wagen.
"Parallelen zu mir, auch ich drehe mich im Kreis."
Ist das Beste, was mir einfällt.

Soviel zu meinen Vorschlägen, jetzt kann ich wieder anti-kreativ werden (oder wie auch immer man das nennt...) - oder war ich es die ganze Zeit? :D

 
Zuletzt bearbeitet:

Nach Cerberus' Geschichte hat sich Thesaurus Librorum auf einen dezenten Hinweis meinerseits dieser Geschichte angenommen. Hört euch das atemberaubende Ergebnis an, wenn ihr Lust habt.

 

Kompliment an das Thesaurus-Librorum-Team! Einfach toll, wie diese Geschichte, die mir sehr gut gefällt und Erinnerungen wachgerufen hat :D vom lesbaren in den hörbaren Bereich transportiert wurde.

Kompliment auch an das Autoren-Team! :kuss:

 

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