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Wie ich den Tod bezwang
„Gott wird nicht auf einem entfernten Kontinent gefunden, sondern nur wenn du tief in dir selbst nach ihm suchst“, pflegte mein Großvater gerne zu sagen.
Er war sehr religiös und hielt es stets für seine Pflicht anderen seine Überzeugung aufzudrängen. Nun war er kein schlechter oder gar böser Mann, er verfügte einfach über sehr viel Lebenserfahrung und der größte Teil davon war nicht gut gewesen. Nicht gut für ihn, und wenn man sich von seinen Anekdoten genervt fühlte, dann auch nicht gut für andere.
Ich teilte seine Auffassung vom Leben nicht; und schon gar nicht die vom Tod. So war ich sehr überrascht, als ich am Tage meines eigenen Todes, der sehr unverhofft kam, feststellen musste, dass nur zu viel Wahres in den Worten meines Großvaters gelegen hatte. Der positive Clou dabei: Es war nicht nötig deswegen auch an Gott zu glauben.
Sicher ist dir jetzt aufgefallen, dass der Titel meiner Geschichte paradoxer Weise der letzten Aussage, nämlich der, dass ich gestorben bin, widerspricht. Gut, das gebe ich bereitwillig zu. Allerdings gebe ich zu bedenken: Sterben kann man auf zahlreiche und wundersame Weise.
An dieser Stelle möchte ich auf Pastor Meier hinweisen, dem wir in diesem Zusammenhang anderer Orts in der Geschichte begegnen werden. Anhand seiner Person kann man sehr gut herausfinden, was ich tatsächlich meine.
Aber ich schweife ab…
Wie konnte ich also den Tod austricksen, wenn ich dabei selbst sterben sollte? Das möchte ich dir sehr wohl erklären.
In meiner Kindheit wurde ich oft von außergewöhnlichen Wesen besucht. Starrte ich nachts von meinem Bett aus zu lange in die Dunkelheit, dann löste sich aus den Schatten ein kleiner, haariger Kobold mit stets neckendem Grinsen.
Ging ich in den Keller, um für mich oder meine Eltern eines der dort gelagerten Getränke zu holen, dann begrüßte mich dort ein dürrer Troll mit freundlichen Augen und tollpatschigen Gemüt. Diese und noch viele andere Fabelwesen liefen mir ständig über den Weg.
Es gelang mir nie, einen von ihnen zu greifen oder gar nur zu berühren. Immer wussten sie was ich vorhatte, lange bevor es mir selbst in den Kopf gekommen war. Kein anderer in meiner Familie, weder meine Brüder, noch meine Mutter oder mein Vater, konnten sie sehen oder wollten mir auch nur Glauben schenken.
Daher kam es soweit, dass ich mir ihre Gegenwart ausredete und sie schließlich eines Tages verschwanden, als wären sie über meine Haltung enttäuscht. Bald darauf hatte ich sie vergessen.
Ich erinnere mich noch, dass meine Mutter irgendwann fragte: „Und Michael, siehst du noch die kleinen, grünen Monster mit denen du uns als kleiner Junge immer auf Trab gehalten hast?“
Da musste ich gestehen, dass ich sie schon lange nicht mehr gesehen hatte. Seit vielen Jahren schon nicht mehr und, dass ich auch nicht mehr an sie glaubte.
Doch tief in den dunklen Katakomben meines Gedächtnisses schlummerte noch die Erinnerung an sie. Bestenfalls war sie noch meinem Unterbewusstsein zugänglich, sonst jedoch niemandem. Aus diesem Grunde war es nicht weiter verwunderlich, dass ich nie mehr an sie dachte, bis ich dem kleinen Kobold aus meinem Kinderzimmer, mit seinen überdimensionalen Füßen mitten in der Innenstadt von Stuttgart wieder begegnete.
Inzwischen war ich ein ganzes Stück gealtert und verweilte nun in den Mitt-Vierzigern. Mit Fug und Recht vermag man mich als gemütlichen, und wie Herman Hesse bezeichnender Weise sagen würde, als bürgerlichen Mann zu charakterisieren.
Das Schicksal hatte es gut mit mir gemeint und so hatte ich eine Frau und einen Sohn, die mich auf dem beschwerlichen Weg des Lebens begleiteten. Dennoch war ich unglücklich, als ich durch die herbstlichen Straßen schritt.
Ich fühlte mich unwohl und uneins mit mir selbst. Es war nicht mit der unangenehmen Vorahnung einer nahenden Grippe oder Erkältung zu vergleichen, die hätte mich nicht gestört, sondern kam ich mir seltsam verschroben und unglücklich vor.
Bereits seit längerer Zeit litt ich an Beschwerden beider Nieren. Sie erfüllten ihre Funktion nicht mehr richtig, so dass mein Körper damit begann sich langsam selbst zu vergiften. Dies hatte es notwendig gemacht, dass ich starke Medikamente zu mir nehmen musste. Als unerbittliche Folge davon, war mein Körper aufgeschwemmt und meine Gedanken träge.
Und viel schlimmer noch: ich ekelte mich vor meinem eigenen Abbild. Nur mit Widerwillen schaute ich allmorgendlich in den Spiegel, um mir bei der Rasur des Kinns zuzuschauen.
Ich war nie eine Schönheit gewesen, andere Kinder hatten mich stets geärgert und als hässlich aufgezogen, aber am heutigen Tage fand ich mich derart abstoßend, dass ich am liebsten geweint hätte.
An eben diesem Tag begegnete ich ihm also. Er war zu weit weg, so dass ich das Platschen seiner riesigen Füße nicht hören, sondern mir nur vorstellen konnte; und da ich ihn nur von hinten sah, blieb mir auch sein ewiges, wie eingemeißeltes Grinsen verborgen; aber ich erkannte ihn wieder.
Der gedrungene, behaarte Körper und die unbeholfenen Bewegungen. Der dunkelgrüne Wollkragenpulli mit den viel zu langen Ärmeln und das zu kurz geratene rechte Bein, verbanden die Fülle von bisweilen merkwürdigen Details zu einem Bild, das nicht in diese Welt zu passen schien.
Genau dies gefiel mir. Im Gegensatz zu vergangenen Tagen, hatte ich inzwischen an Mut gewonnen und wollte meinem alten Gefährten folgen. Jegliche Konsequenzen, die sich daraus ergeben mochten verbannte ich aus meinem Kopf.
Ich meine: Was, wenn ich mir den Burschen tatsächlich nur einbildete und einer imaginären Figur folgte? Wie sollten die unzähligen Menschen um mich herum darauf reagieren?
Das alles war nur allzu bald bar jeglichem Interesse, denn der Kobold verschwand ebenso schnell, wie er gekommen war. Gerade stand er noch zwischen der neuesten Filiale von H&M und dem Bekleidungsriesen Leffers und im nächsten Moment war er wie vom Erdboden verschluckt.
Mit verrückt schlagendem Herzen eilte ich zu der Stelle, an der ich ihn das letzte Mal gesehen hatte. Ich schmeckte Galle auf der Zunge als ich endlich dort ankam und musste mich von dem kurzen Sprint erst noch erholen.
Meine Hände zitterten vor Aufregung, als ich auf dem gepflasterten Boden vor mir ein winziges Papierknöllchen entdeckte. Witzig, überlegte ich. Was war nun schlimmer: Das ich mir einen kleinen, grünen Kobold als imaginären Freund ausgemalt hatte oder das meine Einbildungskraft auch noch so weit ging, sich einen zerknüllten Papierfetzen vorzustellen?
Ich war zu neugierig, um mir weitere Gedanken über meinen derzeitigen geistigen Zustand zu machen. Da ich allerdings dem Glöckner von Notredam schon jetzt zum Verwechseln ähnlich aussah, machte es mir auch nichts weiter aus, als Hirni zu enden.
Tatsächlich wurde mir in diesem Moment schmerzhaft klar, dass es nichts mehr gab wofür es sich zu leben lohnte. Mein Sohn war bereits ausgezogen und meine Frau und ich hatten uns schon lange auseinander gelebt.
In meinem Alter war es unmöglich eine andere berufliche Laufbahn einzuschlagen und auch sonst gab es nichts mehr, was ich noch erreichen konnte. Ganz im Gegenteil: in meiner gesundheitlichen Verfassung konnte es nur noch bergab gehen, und das schneller als mir lieb sein mochte.
Egal. Langsam und erwartungsvoll faltete ich das weiße Papier auseinander.
Darauf stand: „Gucke bitte nach vorne.“
Überrascht starrte ich die blauen Buchstaben lange an und wagte nicht den Kopf zu heben. Mein Herz hatte sich gerade von dem Sprint erholt und ich wollte es nicht so schnell auf einen weiteren Schrecken ankommen lassen.
Nervös versuchte ich mir einen Reim darauf zu machen. Sollte ich etwa in meiner Zukunft nach vorne schauen und doch versuchen irgendwas auf die Beine zu stellen? Sollte ich in meiner Ehe nach vorne schauen und wieder nach Gemeinsamkeiten zu meiner Frau suchen? Oder was?
Als mir nichts mehr einfiel, worüber es sich weiter zu grübeln lohnte, blickte ich schließlich auf und direkt auf ein Gebäude vor mir.
Was ich dort fand, passte so gut in meine Situation, dass ich mich sofort dazu entschloss es mit der abstrusen Nachricht des Kobolds in Verbindung zu bringen.
Es war: eine Zahnarztpraxis.
Wie passt das jetzt in meine Situation, magst du zweifellos denken? Ganz einfach. Als ich näher an das Gebäude herantrat, ich tat dies ganz automatisch, da ich von einem Plakat in der breiten Fensterfront wie hypnotisiert angezogen wurde, entdeckte ich eine Zeichnung.
Es war das kindgerechte Bildnis eines kleinen und sehr dürren Trolls und direkt neben ihm, ein dicker, schwarzer Pfeil der nach links zeigte.
Genau wie du, musste auch ich sofort an den Troll aus dem Keller in meinem Elternhaus denken und sinnierte so nicht lange nach, was als nächstes zu tun sei. Ich folgte also der Richtungsanzeige und schritt das erste Mal seit langer Zeit beschwingt durch die weiteren Gassen.
Die darauf folgenden zwei Stunden verbrachte ich damit weiteren Hinweisen zu folgen. Hier und da tauchten immer wieder Fabelwesen aus meiner Kindheit auf. Oft neckten sie mich, und immer wenn ich dachte sie zu erwischen, lösten sie sich in Luft auf.
Es dämmerte bereits, als ich enttäuscht zu einem weitläufigen Platz gelangte. Ich glaubte nicht mehr daran den Hirngespinsten auf die Schliche zu kommen und war gleichzeitig sehr traurig darüber, dass ich wohl den Verstand verloren hatte.
Und so fiel mir auch nicht auf, dass der große Platz sich sehr stark von den modernen Straßenschluchten unterschied und mit einem herrlich altmodischen Sandstein gepflastert war. Die Luft war inzwischen sehr kalt und schnitt einem scharfen Messer gleich, durch meine Kleidung.
Ohne es zu bemerken war ich inmitten einer Metropole wie Stuttgart auf ein altes Herrenhaus gestoßen, denn ein solches zierte diesen Ort. Der Baustil erinnerte mich an das frühe zwanzigste Jahrhundert, und ich wagte es sogar, es dem Zeitraum zwischen neunzehnhundert bis spätestens neunzehnhundertzwanzig einzuordnen.
Eine ziemlich abenteuerliche Vermutung, da es andererseits sehr neu und gepflegt erschien.
Die Hände hatte ich, nicht zu letzt wegen der Kälte, jedoch mit Sicherheit auch wegen meiner anhaltenden Entrüstung, tief in die Hosentaschen gedrückt. Dort fummelten sie an den vielen Papierfetzen, die mir die Fabelwesen hatten zukommen lassen, da ich nicht wagte sie wegzuwerfen. Konnten andere Menschen sie auch sehen, so wäre ich schließlich nicht verrückt.
Vor meinem inneren Auge ging ich nochmals ihren Inhalt durch. „Mach bitte die Augen auf, Dummschädel.“ – „Noch ein bisschen geradeaus und dann im Kreis herum, bitte.“ – „Alles was ein Ende hat, hat auch einen Anfang, du Dussel.“
Aber so sehr ich mich auch bemühte, es war mir nicht vergolten, diese und etliche weitere kryptische Nachrichten zu entschlüsseln. Schließlich gab ich es auf und konzentrierte mich auf das Herrenhaus.
Ein bisschen verwirrt, da ich einen solchen Ort an dieser Stelle nie vermutet hätte, schlenderte ich gedankenverloren weiter. Ich fühlte mich wie in einem Traum, alles erschien seltsam verzerrt und unwirklich.
Es dauerte nicht lange und ich entdeckte eine Tür, die ich für den Haupteingang hielt und eilte unverdrossen darauf zu. Erst dort angekommen, bemerkte ich, dass ich inzwischen allein auf dem Platz war. Weit und breit gab es keine Menschenseele zu sehen. Dies überraschte mich zwar anfangs, doch wunderte ich mich in meiner derzeitigen Verfassung nicht lange darüber.
Stattdessen konzentrierte ich mich mit den kläglichen Überresten meines vor langer Zeit überstrapazierten Gehörs darauf, auch nur das leiseste Geräusch wahrzunehmen.
Stille. Ein lautloses Vakuum.
Selbst das Schlagen meines Herzens war für einen Moment verstummt, als wagte es nicht das ehrwürdige Schweigen zu brechen. Ich zögerte einen Moment, schaute mich nach einer Klingel um und zog schließlich an einer langen Kordel die neben mir von einem Säulengestützten Vorbau herunterhing.
Das mechanische Klingelsystem schepperte derart laut, dass ich auf der Stelle zusammenfuhr und mich ängstlich zu allen Seiten umschaute, als hätte ich einen Fehler gemacht.
Hätte ich an diesem Tag nicht sterben wollen, dann hätte ich spätestens in diesem Moment das Weite suchen müssen, doch das konnte ich zu dem Zeitpunkt ja noch nicht wissen. Also wartete ich so lange, bis hinter den Scheiben wackelige Schatten auftauchten, die sich verzerrt an dem altmodischen Glas der Fenster brachen.
Langsam wurde ich nervös, da ich außer den seltsamen Schatten nichts weiter erkennen konnte. Ein Blick über die Schulter verriet mir, dass es für eine unerkannte Flucht in die Sicherheit der Gassen jetzt auf jeden Fall zu spät war und so lauerte ich weiter.
Ich lauschte wie sich jemand an der Tür zu schaffen machte, ich hörte wie ein Riegel zur Seite geschoben wurde, und ich roch einen muffigen Gestank, wie man ihn eher in einem alten Museum erwartet hätte, als der Blick auf das Innere der Villa freigegeben wurde.
Es war seltsam steril und verbreitete den unterkühlten Charme eines Krankenhauses.
Ein eisiger Schreck packte mich an den Schultern und drückte auf ihnen wie die Last eines schweren Felsens. Ein alter Mann stand oder besser gesagt, er kroch viel mehr dort vor mir auf den Füßen.
Er schaute nicht in meine Richtung, aber ich wusste, er beobachtete mich. Wer weiß wie lange schon?
Verborgen vor seinem Blick bohrte ich meine Fingernägel in die Innenseite meiner Hände, nur um ganz sicher zu sein, nicht doch zu träumen. Aber die ganze Welt fühlte sich real an. Der Schmerz den ich mir selbst zufügte, der frische Wind, der einen Weg gefunden hatte, meinen empfindlichen Rücken doch noch zu berühren und, - ja selbst die muffige Wärme die aus der Villa heraus zu mir drang.
Ich lächelte, obwohl es keinen Grund dafür gab und ich hatte das fröhliche Gefühl, zur richtigen Zeit am richtigen Ort zu sein.
Wie oft in seinem Leben war man gesegnet genug, diesen Gedanken zu fassen?
Der Mann in der Tür versuchte sich aufzurichten. Er schaffte es nicht. Kalkweiße Hände suchten Halt an den Wänden und dürre Finger krabbelten wie die Beine einer Spinne aufgeregt in meine Richtung.
Ich verspürte keine Angst, obwohl ich sie hätte spüren sollen. Eine andere, unerwartete Empfindung machte es sich stattdessen in meinem Brustkorb gemütlich: Mitleid. Wie klein und unbedeutend fühlten sich meine Probleme in der direkten Gegenwart dieses Mannes plötzlich an?
Irgendwo hinter dem Alten huschte ein kindgroßer Schatten durch den Raum. Ich nahm ihn nur aus den Augenwinkeln wahr. Wieder der Kobold, fragte ich mich? Oder der Troll? Ein Plötzlicher Instinkt entflammte in meinem tiefsten Inneren und hieß mich, einfach in die Villa zu stürmen.
Aber das würde ich niemals tun. Ich war ein bürgerlicher Mann, mit bürgerlichen Zwängen. Und das gehörte sich nicht. Immer schon legte ich sehr viel Wert auf Gepflogenheiten. In diesem, vielleicht einzigen Punkt ähnelte ich meinem Großvater.
„Jaaa“, knurrte der Alte. Er zog das Wort dabei so sehr in die Länge, als wollte er ein Klagelied daraus formen.
Sein Haar war weiß, das Gesicht blass als hätte es schon seit Jahren nicht mehr die wärmenden Strahlen der Sonne auf der Haut gespürt. Ein weiterer Schatten huschte hinter ihm durch den Raum. Ich versuchte nicht darauf zu achten, in dem ich den Augenkontakt mit ihm suchte.
Krampfhaft überlegte ich was ich sagen sollte, denn eigentlich wusste ich das ja selbst nicht und von den Märchenwesen wollte ich ihm nicht erzählen.
„Ich habe mich verirrt“, purzelten mir die Worte schließlich von der Zunge, und sie waren nicht einmal gelogen. „Wie komme ich zur nächsten Straßenbahn?“
Der alte schaute mich aus blutunterlaufenen Augen verdutzt an, als wollte er sagen: „Ich verstehe kein Wort von dem was du sagst.“
Stattdessen aber erwiderte er. „Es ist mitten in der Nacht und bevor du nicht weißt, was du willst, kommst du nicht weiter.“ Die Stimme war zittrig, aber bestimmt.
Der Mann stand höchstens auf den Knien und selbst das erschien mir für ihn, wie eine Höchstleistung. Was quälte den Greis? Ein Rückenleiden, vielleicht ganz ähnlich meinen eigenen schmerzhaften Bandscheibenvorfällen?
Ich wagte nicht zu fragen. Es wäre ein leichtes für mich gewesen, den Mann zu überwältigen und mir den Eintritt gewaltsam zu verschaffen, aber ich war kein gewaltsamer Mensch und es mangelte mir an jeglicher krimineller Energie.
Als ich nichts antwortete, schlug der Greis doch tatsächlich die Tür direkt vor meiner Nase zu und krabbelte zurück in die Villa.
Grotesk.
Angst einflößend.
Mir schwebte noch der Geruch in der Nase, als ich käme ich von einem Besuch aus einem Altenpflegeheim, da drehte ich mich wortlos um, geneigt einfach wieder in den Gassen zu verschwinden.
Allerdings musste ich doch länger an Ort und Stelle verharrt hatten, als ich gedacht hatte, denn plötzlich wurde erneut der Riegel beiseite geschoben und jemand öffnete die Tür hinter mir.
„Pssssssst“, flüsterte dieser jemand.
Bei dem Versuch etwas zu sagen und mich gleichzeitig möglichst schnell umzudrehen, wäre ich fast über die eigenen Füße gestolpert. Ein kleines Mädchen, unmöglich älter als fünf oder sechs, mit lockigem Haar, das mich an den alten Kinderfilm Momo erinnerte, flüchtete zu einer gewundenen Treppe im inneren des Gemäuers.
Verflucht fix die Kleine, überlegte ich und machte mich daran ihr zu folgen. In der Eingangshalle nahm ich mir einen kurzen Augenblick Zeit, um mich nach dem seltsamen Greis umzuschauen, schließlich wollte ich keine böse Überraschung erleben.
Aber er war verschwunden. Vom Erdboden verschluckt, wie vormals Kobold und Troll.
Nun rannte ich die Treppe hinauf und eilte in die oberen Stockwerke. Da ich das Mädchen aus den Augen verloren hatte, irrte ich viel zu lange Zeit durch unzählige Korridore, bis ich sie endlich einholte.
Seltsamer Weise machte ich mir gar keine Sorgen, dass ich jemand anderem außer ihr über dem Weg laufen konnte.
Das Mädchen trug ein unglaublich hässliches Kleidchen, das in jedem modernen Menschen den Groll gegen eine Mutter die ihrer Tochter so etwas antun mochte weckte.
Ihr Blick traf sich mit meinem. „Schön, dass du endlich gekommen bist. – Wurde auch Zeit.“
Völlig fassungslos starrte ich sie an. „Ähm, du kennst mich?“
Sie kicherte und rollte mit haselnussbraunen Augen. „Michael, alle hier kennen dich.“
„Na“, belehrte ich sie, nicht weiter verdattert, dass sie auch meinen Namen wusste. „Der alte Mann am Eingang kannte mich nicht.“
Ihre nackten Füße (Wieso trug sie keine Schuhe?) spielten mit einer Art Veloursteppich auf dem Boden. „Pastor Meier?“ sie zögerte und lachte. „Doch, der auch.“
Jetzt konnte ich nicht mehr. Was sollte das alles? Erneut musste ich daran denken, dass die Situation alle Eigenschaften eines abnormen Traumes hatte, nur das ich eben immer noch hellwach war und alles so fühlte, schmeckte, roch, sah und hörte, wie wir alle die Wirklichkeit wahrnahmen.
Ich entschied, es mit diplomatischen Fragen zu versuchen. „Na gut. Wir kennen uns also. Dann weißt du sicher auch, was ich hier zu tun habe.“
Die Anspannung schien von dem Mädchen abzufallen. „Klaro!“
„Und mehr willst du dazu nicht sagen?“
„Muss ich?“
Ich musste schmunzeln, obwohl ich dabei war, die Geduld zu verlieren. Du musst verstehen, dass ich nie ein sehr geduldiger Mann war. „Versuchen wir es anders. Wie heißt du?“
Sie grinste, ihre braunen Augen leuchteten dabei, dass mir ganz warm ums Herz wurde. „Blöde Frage. Margrit. Ich bin Margrit.“
„Und wo ist deine Mutter?“ hakte ich nach.
„Mama?“ fragte sie ganz verblüfft. „Was willst du denn von Mama?“
Mir wurde klar, dass sich die Situation als nicht so einfach herausstellte, wie ich es mir vorgestellt hatte. „Sie wird doch hier in der Nähe sein. Du bist doch viel zu klein, hier alleine herumzulaufen.“
„Zu klein?“ wetterte sie. Offensichtlich war sie mit meiner Wortwahl nicht ganz einverstanden. „Wir sind hier nicht allein. Und außerdem bist du doch auch da.“
„Aber, hast du denn keine Angst vor mir?“
„Wieso denn?“
„Wir kennen uns doch gar nicht.“
Langsam schien Margrit das Gespräch zu langweilen. „Ich kenn´ dich“, hauchte sie, tänzelte zu einer nahen Holztür und öffnete diese. „Komm´ mit. Ich glaube, ich muss dich erst meinem Freund vorstellen.“
Bevor ich irgendetwas unternehmen oder erwidern konnte, war sie schon wieder verschwunden.
Ich gelangte in eine kleine Kammer. Sie war altmodisch und sehr spärlich eingerichtet, als hielte sich hier nie länger jemand auf. Einzig ein großer Spiegel, der bis zur Decke reichte, vermochte es meine Neugier zu wecken.
Langsam marschierte ich zu dem Spiegel, zumal auch die kleine Margrit direkt davor stand. Als mein Spiegelbild langsam auftauchte und ich mir selbst in das hässlichste aller Gesichter starren musste, piepste das Mädchen kleinlaut auf.
„Darf ich vorstellen“, sagte sie. „Michael. – Und Michael, das ist Michael.“
Dadurch, dass sie meinen Namen so häufig erwähnte kam ich ins Schleudern, doch sofort darauf erkannte ich, dass ich mir gerade selbst vorgestellt wurde.
„Das ist also dein Freund“, meinte ich schließlich pikiert.
„Ja.“ – „Ich glaub er mag dich.“
„Ist das jetzt ein Witz oder so?“ Man war ich wütend.
Margrit schaute mich mit engelsgleicher Unschuldmine an und ich bemerkte wie mein Ärger sich verflüchtigte. „Tut mir Leid. Er war nicht immer so still und griesgrämig.“
Mein Herz schlug unerwartet heftiger, ich hatte keine Lust auf Spielchen. Aber nun gut, spielte ich eben mit. „Wie war er denn – früher?“
Jetzt sagte sie etwas, das mich sehr verunsicherte. „Weißt du das nicht besser?“
Ok, dachte ich nach. Da stellt mich jemand auf die Probe. „Gut“, sagte ich. „Wenn ich das jetzt richtig aufgefasst habe, sollte ich das wohl besser wissen. Dein Freund hier“, betonte ich, „war sicher schon mal besser drauf. Aber in letzter Zeit, fühlt er sich nicht mehr sehr gut.“
„Warum?“ wollte die kleine wissen.
„Na weil er krank ist. Und du siehst doch auch, wie hässlich er ist. Diese Nase und erst das Doppelkinn. Sicher ist er deswegen so griesgrämig.“
Margrit hatte neugierig zugehört. „Kann man ihn nicht wieder gesund machen?“
„Nein“, schluckte ich, „Niemand kann das.“
Jetzt verschränkte sie die Arme vor der Brust. „Doch“, sprach sie. „Gott kann das.“
Bleib mir weg mit Gott, dachte ich. Wann hat der Bursche das letzte Mal jemandem geholfen? „Aber Gott tut es nicht“, versuchte ich sie zu beruhigen.
Der kindliche Ärger verschwand aus Ihren Gesichtszügen. „Na dann muss es ja wohl zu was gut sein. Gott macht nie etwas ohne wirklich guten Grund.“
Ich gab mich geschlagen. „Aber glücklich macht das deinen Freund nicht. Und sie doch mal wie hässlich er ist, nicht gerade nett von Gott, oder?“
„Wenn er lacht, dann ist er nicht hässlich. Nur lacht er so selten.“
Gut, dass mein Sohn schon lange kein kleines Kind mehr war. Derartige Gespräche setzten mir ganz schön zu. Ich wollte der kleinen Margrit einen Gefallen erweisen und hob die Mundwinkel, die sonst immer senkrecht hinab fielen ein wenig an. Kein Lachen, allenfalls ein angedeutetes Grinsen, nur um zu sehen, ob nicht doch etwas an ihrer Äußerung dran war.
Das erfreute sie dermaßen, dass sie auf und ab zu hüpfen begann und in die Hände klatschte. „Gut“, jauchzte sie. „Er mag dich.“
Ich musste gestehen, dass ich mit meinem angedeuteten Grinsen nicht ganz so Scheiße aussah wie sonst, aber ich war immer noch weit davon entfernt hübsch zu sein.
„Weißt du“, meinte Margrit. „Es gibt gar kein schön und hässlich. Meine Mama sagt: Menschen erfinden solche Worte nur, damit sie etwas haben worüber sie reden können.“
„Aha, und was will sie damit sagen?“
„Hm. Weiß nicht. Aber auch, wenn es schön nicht gibt, so glaube ich, ist nur der schön, der auch schön sein will. Es kommt vom Herzen.“
„Weise Frau“, grummelte ich. Gab es heute vielleicht noch mehr Weisheiten? „Magst du mir jetzt sagen, warum du mich hier her geholt hast?“
Margrit setzte sich auf ein nahes, schmales Bett. „Na gut. Pastor Meier sagt, dass du wegen deiner Besinnung hier bist?“
Meinte sie vielleicht Gesinnung? „Bist du sicher, dass er das meint?“
„Ja. Innere Besinnung“, beharrte sie stoisch und wirkte einmal mehr wie ein unreifes Kind.
„Vielleicht innere Bestimmung.“
Jetzt sprang sie auf. „Ja“, stimmte sie fröhlich zu. „Wegen deiner persönlichen, inneren Bestimmung. Er sagt, du hast viel falsch gemacht auf deinem Weg, und dass du ihm leid tust.“
„An der Tür hatte er nicht den Eindruck auf mich gemacht, dass ich ihm Leid tue.“
„Blöd nicht? – Ihm tut doch alles so weh, einfach alles. Und er macht nichts mehr, sitzt den ganzen Tag nur so rum und wartet.“
„Wartet worauf?“
„Auf dich.“
Ich hustete vor Überraschung. „Auf mich? Warum?“
„Wegen deiner inneren Besinnung“, flötete sie, „Hab´ ich doch gesagt.“
„Bestimmung.“
„Hm?“
„Wegen der inneren Bestimmung. Ach egal. – Warum hat er mich dann weggeschickt, wenn er die ganze Zeit nur auf mich gewartet hat?“
Margrit biss sich traurig auf die Lippe. „Er wartet doch schon so lange und hat nicht mehr geglaubt, dass du kommst. Jetzt glaubt er auch schon nicht mehr daran, wenn du direkt vor ihm stehst. Deswegen hab´ ich dich reingelassen.“
„Nett“, sagte ich trocken.
Und sie antwortete: „Keine Ursache.“
„Und weswegen bin ich jetzt hier?“
„Wegen deiner inneren…“
„Halt“, unterbrach ich, „Wir wiederholen uns jetzt. Also ganz ruhig.“ Ich atmete ein paar Sekunden hektisch ein, um das rasende Herz in meinem Brustkorb unter Kontrolle zu bringen: zwecklos. „Was – genau – ist – meine – Bestimmung?“
Sie grinste frech. „Solltest du das nicht besser wissen?“
Schon wieder eine Zwickmühle und einmal mehr stampfte ich wütend mit den Füßen auf. „Ja, ja, ja“, nörgelte ich und hatte fast vergessen, dass ich es mit einem kleinen Kind zu tun hatte. „Lassen wir das mal außer Acht. Was meinst du, ist meine innere Bestimmung?“
Ihr Blick wurde ernst und sieht lehnte sich gegen den Pfosten am Spiegel. „Du weißt auch wirklich nichts“, sprach sie.
Überrascht stellte ich fest, dass sie urplötzlich sogar richtig sauer geworden war. Was denn jetzt, fragte ich mich? Was habe ich jetzt wieder falsch gemacht?
Aber anstatt zu antworten verschwand das Mädchen hinter dem großen Spiegel und ich war dazu verdammt erneut in meine hässliche Fratze zu starren. Und wenn dort auch mein Abbild in aller Hässlichkeit auf mich wartete, mit den abgetragenen Schuhen und der zu alten Jeans, so war jetzt doch etwas anders.
Das war nicht ich im Spiegel.
Es war eher mit einem Gemälde zu vergleichen. Der Künstler hatte sich alle Mühe gegeben eine perfekte Kopie zu erstellen, aber einige, zugegeben wenige Punkte glichen bei näherer Betrachtung nicht dem Original. Ich fühlte mich einem perfiden Spiel auf dem Leim gegangen oder an die dämlichen Bilderrätsel „Finde die zehn Fehler auf dem Foto“ aus ebenso dämlichen Zeitschriften erinnert.
Gerade als ich mich beschweren wollte (bei wem eigentlich?), bewegte sich mein Spiegelbild hinter der glänzenden Glasfläche, ohne das ich mich selbst auch nur einen Millimeter geregt hätte.
„Willst du etwa so enden, wie der Alte am Eingang?“ fragte mein Doppelgänger.
Ich schüttelte den Kopf, nicht zur Verneinung, sondern um die lästige Halluzination zu verscheuchen. Dabei machte ich komische Geräusche, die mit einem „Ksch – Ksch“ zu vergleichen waren.
Die immer etwas zu feuchten Augen meines Gegenübers blickten mich erstaunt an. „Was soll das werden?“
„Du existierst nicht“, blaffte ich.
„Ich bin ein gottverdammtes Spiegelbild, natürlich existiere ich.“
Ich zuckte die Schultern. „Na dann führe ich bestenfalls Selbstgespräche. – Auch nicht gerade beruhigend.“ Langsam kehrte mein Verstand zu der Theorie mit dem Traum zurück. Wahrscheinlich schlummerte ich tief und fest in meinem warmen Bett und würde gleich aufwachen. Gleich klingelte der Wecker und ein weiterer Tag im Büro erwartete mich.
Aber es klingelte nicht.
Mein Spiegelbild bewies eine Engelsgeduld und wartete solange bis ich mich beruhigt hatte. Witziger Weise hatte ich mich keinen Schritt von dem dämlichen Spiegelbild wegbewegt. Hätte doch eigentlich das Erste sein müssen.
Der Doppelgänger schien die Gedanken zu erraten und grinste spöttisch. „Hast du dich beruhigt?“ fragte er, aber er wartete keine Antwort ab, sondern fuhr ungerührt fort. „Michael. Vergeude deine Zeit nicht, denn du errätst richtig: Sie ist tatsächlich begrenzt. Um nicht zu sagen: sehr begrenzt. Einen ganzen Nachmittag verfolgst du Trolle und Kobolde durch die Stadt und machst dir erst jetzt ernsthafte Sorgen um deinen Verstand?
Das ist wirklich erbärmlich.
Was ist aus dem kleinen Jungen geworden, der aufgeregt nach den Fabelwesen gesucht hat? Ist vielleicht doch noch ein kleines Stück von ihm in dir? Bist du denn noch zu retten?“
Ich stolperte zurück und damit aufs schmale Bett, auf dem sich vormals das Mädchen gesetzt hatte. Eigentlich hatte ich keine Lust auf eine Diskussion oder darauf mich zu rechtfertigen, aber die Situation war seltsam genug, um es doch zu wagen. Und so plapperte ich wild drauf los. Ich erzählte von meinen Nieren, den vielen Medikamenten die ich täglich nehmen musste und eine ganze Menge anderen, zusammenhangslosen Kram, bis er mich zurückhielt.
„Stopp, stopp“, ärgerte er sich. „Ich will nur eines wissen: an welchem Tag hast du aufgehört zu leben?“
Ich hatte das Gefühl, als hätte mir jemand einen Gürtel um den Hals gelegt und schnürte diesen gnadenlos zu. Ich konnte nicht atmen, konnte nicht denken.
An welchem Tag hatte ich aufgehört zu leben?
Der Doppelgänger kratzte sich das schwartige Kinn. „Eine ganz schöne Bombe, nicht? So einfache Worte, und doch …? Du hast keine Ziele, nichts wofür es sich zu atmen lohnt, nichts wofür ein Herz schlagen muss. Du vergeudest.“
„Was?“ fragte ich, „Was vergeude ich?“ Dabei war es mir längst klar.
„Alles muss man dir vorkauen, alter Freund, aber es geht wohl nicht anders. Du vergeudest Zeit. Jede einzelne Sekunde ist ein Geschenk, süßer als die süßeste Frucht, schmackhafter als der beste Wein, und du …, du hast nichts anderes zu tun, als dieses Geschenk achtlos zu verschwenden.“
„Aber wie?“
Jetzt wurde das Spiegelbild wütend. Noch wütender als das Mädchen zuvor. „Hör zu“, forderte es. „Hör einfach mal zu. Wenn jeder Antrieb versiegt ist, was erwartet dich dann noch? Willst auch du irgendwann die Tür öffnen und den Mann wegschicken, der alles ändern könnte? Alles verbessern könnte?
Du beklagst dich um deine Krankheit, doch kämpfst du nicht darum wieder Gesund zu werden?
Du beklagst dich über deinen Job, und hast doch nicht den Mut etwas Neues anzufangen.
Du beklagst dich über deine Frau, und hast doch zu viel Angst sie wieder zu lieben.
Du beklagst dich über deinen Körper, doch scheust du dich, ihn mit Schweiß zu formen.
Du beklagst dich über dein Alter, und hast doch nicht den Mumm jung zu sein.
Was hält dich auf? Was hält dich auf? – Was, sag es mir?“
Ich schluckte und wagte es nicht zu antworten. Ja was, fragte ich mich stumm selbst? „Weil es sicherer ist?“
Der Doppelgänger hatte einen hochroten Kopf. „Sicherer als was?“ wollte er wissen.
„Es ist zu riskant“, begann ich und stockte dann, als ich sah wie die Augen meines Gegenübers vor Zorn Feuer versprühten.
„Hast du es noch immer nicht verstanden? Ich zitiere Bertolt Brecht: >Wer kämpft kann verlieren. Wer nicht kämpft, hat schon verloren!< Du kannst nur dann erfüllt leben, wenn du deiner inneren Bestimmung folgst. Nur dann.“
„Und was ist meine Bestimmung?“ hakte ich nach, doch automatisch wusste ich es.
WEISST DU ES AUCH?
Mein Spiegelbild erstarrte und das Gemälde verschwand. Was zurückblieb war lediglich mein Spiegelbild. – Und es lächelte. Erst dachte ich, es wäre der Doppelgänger, doch dann bemerkte ich, dass es mein Lächeln war. Es gehörte mir.
Das freute mich.
Und wenn ich lächelte, verschwanden die dunklen Wolken über mein Gesicht und ich war nicht mehr ganz so hässlich. Das Doppelkinn wackelte beschwörend hin und her, doch es ärgerte mich in dem Moment nicht, denn ich wusste, ich würde kämpfen. Ich würde nicht aufgeben, auch wenn es so unendlich viel gemütlicher wäre.
Und mit diesem Gedanken starb mein altes Ich.
Als ich wieder erwachte, schmeckte die Luft so süß wie Honig, denn es erwachte ein neuer Michael. Ein Michael der am nächsten Tag seinen Fernseher verkaufte, um dem Leben einen Schritt näher zu sein. Denn er kaufte sich von dem Geld die Fotokamera, die er schon so lange haben wollte und widmete sich der Fotografie, wie ein Künstler sich seidenen Gemälden widmen würde.
Ein kleiner Schritt, aber ein Schritt in Richtung Selbstverwirklichung. Die Verwirklichung eines Traumes.
Der neue Michael, suchte sich eine andere berufliche Laufbahn. Dies war zugegeben nicht einfach, aber es sollte ihm gelingen. Nicht sofort und vielleicht auch nie in dem Maße wie er sich vielleicht erhofft hätte, allerdings würde es doch wesentlich mehr sein, als hätte er es nie versucht. Es beginnt immer im Kopf.
Der neue Michael sprach mit seiner Frau und es stellte sich tatsächlich heraus, dass sie nie wieder zueinander finden würden. Aber mit diesem schmerzhaften Ende, gab es auch einen neuen Anfang. Denn nur wenn etwas zu Ende geht, kann etwas anderes beginnen.
Ganz so wie mit dem Tode. Nur wo gestorben wird, kann auch geboren werden.
Und was soll ich sagen, so lebte ich noch viele Jahre lang, bis sich der Tag näherte, an dem ich dem Tod nicht ein zweites Mal von der Schippe springen konnte. Aber das brauchte ich auch nicht mehr. Ich hatte geschafft was ich wollte, meine persönlichen Ziele erreicht oder war zumindest bei dem Versuch sie zu erreichen gescheitert.
Was mehr kann man von einem Menschen verlangen?
Jetzt liege ich im stolzen Alter von zweiundachtzig Jahren im Bett und warte auf das Unausweichliche. Es wird kommen, dass weiß ich. Jedoch bin ich froh, dass ich damals nicht aufgegeben hatte.
Meine Nieren hatten viel länger ausgehalten als ich erwartet hatte.
Viel länger.
Alles hat einen Sinn, das weißt du, es ist an dir ihn auch zu finden.
Ende