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Wie jeden Morgen
Wie jeden Morgen saß Herr Adams um halb acht in der Küche am Frühstückstisch. Er aß ein Brot mit Schinken und eines mit Käse. Er saß alleine da; er hatte keine Frau und auch keine Kinder. Nach dem Essen stand er auf, räumte das Brot in den Brotkasten, stellte den Käse, den Schinken und die Butter in den Kühlschrank und wusch seinen Teller ab. Er ging in den Flur, zog sich seine Jacke an und setzte den Hut auf. Alles war wie immer. Er verließ das Haus, zog die Haustür hinter sich ins Schloss und machte sich auf den Weg zur Arbeit. Er ging immer zu Fuß, denn er hatte gar kein Auto. Wenn er einkaufen musste, fuhr er mit dem Bus. Aber bis zum Büro konnte er gut laufen, es waren kaum mehr als 10 Minuten. Er ging am linken Straßenrand entlang und pfiff leise vor sich hin, denn er hatte gute Laune. Die Sonne schien und der Himmel war strahlend blau. Für einen Tag im Oktober war es erstaunlich warm. Herr Adams dachte darüber nach, was er nach der Arbeit machen würde. Vielleicht konnte er im Park spazieren gehen? Oder er konnte im Gart… Erstaunt blickte er auf, ein Auto hupte, hupte noch einmal. Die Straße war schmal, aber es passten zwei Autos nebeneinander. Herr Adams blickte sich irritiert um und sah, dass am rechten Straßenrand eine junge Frau auf einem Fahrrad fuhr. Dahinter fuhr ein Auto, ein silberner VW Golf, der jetzt noch einmal hupte. Es saß ein Mann mit braunen Haaren darin, Herr Adams schätzte ihn auf etwa 35 Jahre, vielleicht auch schon 40. Mit dem Hupen meinte er wohl die Fahrradfahrerin. Sie schaute sich um, hilflos; wohin sollte sie ausweichen? Konnte der Autofahrer nicht ein wenig warten? Herr Adams schüttelte den Kopf über so viel Ungeduld. Außerdem, wieso überholte er nicht einfach? Aber im selben Augenblick wurde Herrn Adams klar, dass das gar nicht ging, denn es kamen immer wieder Autos entgegen. Dann war die Straße frei, bis auf die Fahrradfahrerin und das Auto dahinter. Allerdings war etwa 500 Meter weiter eine Kurve. Ob aus der Gegenrichtung dort jemand kam, konnte man nicht sehen, denn einige Häuser standen davor. Der Golf blinkte links. Herr Adams sah es mit Schrecken. Er hatte zwar kein Auto und war auch noch nie selber Auto gefahren, – alles was er brauchte war in der Nähe – aber er konnte sich ausrechnen, wie gefährlich es wäre das Fahrrad jetzt zu überholen. Das Auto zog nach links rüber. Es wollte also tatsächlich überholen. Wenn das mal gut geht, dachte sich Herr Adams. Er atmete erleichtert auf; das Auto war fast vorbei, es fehlten nur noch wenige Meter. Plötzlich tauchte ein roter Ford hinter den Häusern auf. Er fuhr schnell, viel zu schnell, als dass das noch gut gehen konnte. Er war noch knappe 300 Meter von dem Auto, der Fahrradfahrerin und Herrn Adams entfernt. Die Fahrradfahrerin erschrak und schrie auf. Herr Adams schaute zu dem jungen Mann im Golf. Er fuhr mit seinem Auto mitten auf der Straße, sah aber nicht ganz so erschrocken aus, was Herrn Adams ein wenig wunderte. Allerdings war man in einem Auto bestimmt auch geschützter, als nur auf einem Fahrrad. Der Ford war noch fast 200 Meter entfernt. Erst jetzt konnte Herr Adams den Fahrer erkennen. Es war ein Mann, etwa in Herr Adams Alter. Er war sehr rot im Gesicht, auch er musste sich mächtig erschrocken haben. Panisch schaute er sich nach einem Ausweg um. Der junge Mann im Golf sah immer noch relativ gelassen aus. Er würde doch nicht die Fahrradfahrerin zur Seite drängen? Sie konnte auch nicht auf den Bürgersteig fahren, es gab nur auf der linken Seite, wo Herr Adams ging, einen. Es waren noch 100 Meter. Die Fahrradfahrerin hatte gebremst und war stehen geblieben. Auch Herr Adams hielt es für eine bessere Idee stehen zu bleiben. Sollte er vielleicht weglaufen? Der Golffahrer bremste, die Reifen quietschten. Als der Mann im Ford jetzt Herrn Adams sah wechselte seine Gesichtsfarbe von dunkelrot zu kreidebleich. Noch 50 Meter. Der Golf war zum Stehen gekommen, hatte das Fahrrad nur knapp verfehlt. Auch der Ford-Fahrer trat mit aller Kraft auf die Bremse. Er rutschte weiter. Noch 40 Meter, 30 Meter, 20 Meter. Der Mann im Ford riss das Lenkrad herum, schleuderte nach rechts, streifte Herrn Adams mit dem hinteren Teil des Autos und blieb im Graben stecken. Herr Adams taumelte nach hinten, fühlte einen stechenden Schmerz in der rechten Hüfte, dann sackte er bewusstlos zusammen.
Herr Adams schlug seine Augen auf. Er sah sich um, aber außer ihm war niemand da. Er lag in einem Bett und um ihn herum war alles weiß. Die Bettdecke war weiß, das Kopfkissen auch. Der Boden war schmutzig grau, die Wände waren weiß und leer, mit Ausnahme von zwei mittelgroßen Bildern. Das erste zeigte eine grüne Topfpflanze, auf dem zweiten war ein Teddybär mit einem Pflaster am Kopf zu sehen. Das fand Herr Adams ein wenig deprimierend. Warum standen keine echten Pflanzen da? Er fragte sich, wo er war, doch nach einem Blick zur Seite – dort standen Geräte mit Schläuchen und irgendwelchen Instrumenten – war ihm klar, dass er im Krankenhaus sein musste. Aber warum? Er rief: „Hallo! Ist hier jemand? Hallo?“ Niemand antwortete. Was war passiert? Verschwommen sah er einige Bilder. Ein rotes Auto, eine Fahrradfahrerin. Er erinnerte sich nicht genau. Da kam eine Frau ins Zimmer. Sie hatte ihre langen, braunen Haare zu einem Pferdeschwanz gebunden. Ihre Augen waren graugrün wie das Wasser des Flusses an einem wolkigen Tag. „Guten Tag Herr Adams. Sie sind wieder wach, das freut mich. Ich bin Schwester Josie.“, stellte sie sich vor, „Wie geht es Ihnen? Erinnern Sie sich, was passiert ist?“ Herr Adams dachte nach. Erinnerte er sich? Ja, da war dieses Auto. Herr Adams war sich sicher, dass es etwas mit allem zu tun hatte. Bloß was? Er überlegte, überlegte und kam doch nicht drauf. „Soll ich es Ihnen sagen?“, unterbrach die Krankenschwester Herrn Adams Gedanken. „Nein, bitte nicht. Ich möchte selber darauf kommen.“ Josie wandte sich dem offenen Fenster zu um es zu schließen, aber eine Frage hatte Herr Adams doch noch: „Das rote Auto. Das Auto war dabei, oder?“ Jetzt lächelte Josie. War er also auf dem richtigen Weg? „Ja, es war ein Ford.“ Plötzlich fiel es Herr Adams wieder ein. Ja, das Auto war dabei, es hatte ihn an der Hüfte gestreift. Trotzdem, der andere Autofahrer ist schuld gewesen! „Er ist nicht schuld, es war nicht der Fahrer von dem Ford. Der andere war es, er fuhr einen silbernen Wagen.“ Da seufzte Josie und sah gar nicht mehr fröhlich aus. „Ja, das hat uns der Ford-Fahrer auch schon erzählt. Er hat ein Fahrrad überholt, nicht wahr? Leider hat er Fahrerflucht begangen. Der Fahrer des Fords hat den Notarzt gerufen. Er ist nur leicht verletzt, ein geprelltes Handgelenk und bestimmt einige blaue Flecke. Sie hat es da schon schlimmer getroffen. Ihre Hüfte ist gebrochen und ein paar Rippen auch, sie haben eine Menge an Blut verloren. Es wird sicher noch einige Wochen und Monate schmerzen. Momentan bekommen Sie noch sehr starke Schmerzmittel, die werden wir jedoch nach und nach reduzieren müssen. Aber Sie hatten Glück, dass wir so schnell operieren konnten. Das hätte auch ganz anders ausgehen können.“ Erst jetzt fiel Herrn Adams der Verband um seinen Hüften auf. Er hatte tatsächlich keinen Schmerz gespürt. Jetzt richtete Herr Adams sich wieder an die Krankenschwester: „Ist der Mann noch hier? Ich würde gern mit ihm sprechen…“ „Er wartet gleich vorne in der Cafeteria. Alle fünf Minuten hat er nach Ihnen gefragt. Er wird erleichtert sein, Sie zu sehen. Soll ich ihn holen?“ Herr Adams nickte dankbar. „Ja, bitte.“ Josie ging aus dem Zimmer und schloss die Tür hinter sich. Unwillkürlich musste Herr Adams an den Morgen denken. Er selbst war aus dem Haus gegangen und hatte die Tür hinter sich ins Schloss gezogen, wie jeden Morgen. Er war auf dem Weg zur Arbeit gewesen, dann kam der schreckliche Unfall. Alles konnte sich von einem auf den anderen Moment verändern. Dabei hatte er doch gar nichts getan. Er hatte keine Fahrradfahrerin in einer Kurve überholen wollen, und er war auch nicht zu schnell gefahren. Das war doch eigentlich nicht fair! Da fiel ihm ein, dass er gleich am nächsten Morgen in der Firma anrufen musste, nicht dass sein Chef sich wunderte.
Herr Adams war so in seine Gedanken vertieft, dass er gar nicht merkte, wie Josie wieder in das Zimmer kam. Erst als sie erklärte: „Das ist Herr Williams.“, schreckte er auf. Herr Adams begutachtete den Mann, der hinter Josie hereingekommen war an. Er war tatsächlich schon ein wenig älter, vielleicht 60 oder 65 Jahre, schätzte Herr Adams. Er hatte weiße Haare, vielleicht auch eher grau, seine Augen jedoch waren strahlend blau, allerdings sah er traurig aus. Ein wenig bedrückt und beinahe schüchtern starrte er den hellgelben Krankenhausboden an. „Hallo!“, begrüßte Herr Adams Herrn Williams freundlich. Doch dieser antwortete nicht, er reagierte nicht einmal. Er schaute Herrn Adams nur stumm an. Dann gab er sich einen Ruck, streckte Herrn Adams seine Hand entgegen und sah ihm in die Augen. „Ich muss mich bei Ihnen bedanken.“, fing Herr Adams ein Gespräch an, „Sie haben mir das Leben gerettet.“ Herr Williams schaute ihn an und schüttelte den Kopf. „Nein, das stimmt nicht. Wäre ich nicht gewesen, wären Sie gar nicht hier. Es tut mir so schrecklich leid. Sie wissen nicht, wie sehr ich mich freue, dass Sie nicht allzu schwer verletzt sind. Wie soll ich das nur jemals wieder gut machen?“ Herr Adams lächelte. Herr Williams tat ihm leid. Er musste schreckliche Schuldgefühle haben. Also versuchte Herr Adams ihn zu trösten: „Unsinn! Sie können doch überhaupt nichts dafür. Sie hätten ja nicht ahnen können, dass dieser Mann einfach so kurz vor einer Kurve ein Fahrrad überholt. Machen Sie sich keine Vorwürfe. Es geht mir ja gut.“ Herr Williams nickte, nun lächelte er auch ein wenig. Josie warf ein: „Ich will Sie ja nur ungern unterbrechen, aber Sie müssen jetzt gehen, Herr Williams. Die Besuchszeiten sind schon längst vorbei, aber Herr Adams wollte Sie doch so gerne einmal sehen. Und ich nehme an, Sie können jetzt auch beruhigter schlafen.“ Herr Williams verabschiedete sich und verließ das Zimmer. Josie erkundigte sich noch nach Herrn Adams Essenswünschen, aber der hatte keinen Hunger. Also wünschte die Krankenschwester ihm eine gute Nacht, versicherte ihm, dass sofort jemand käme, wenn etwas wäre, knipste das Licht aus und ging aus dem Raum
Herr Adams wachte davon auf, dass Josie das Zimmer betrat und die Vorhänge öffnete. Die Sonne schien und der Himmel war hellblau mit weißen Wattewölkchen. Er erinnerte sich, dass er eigentlich in den Park hatte gehen wollen. Daraus würde jetzt wohl nichts mehr werden, dachte er und war ein wenig traurig. „Soll ich Ihnen ein Frühstück holen?“ Sie war schon wieder an der Tür. „Ja, gerne“, antwortete Herr Adams. Ein leckeres Frühstück würde ihn jetzt bestimmt stärken. „Sie essen doch Brot?“, versicherte sich die Krankenschwester und eilte – nachdem Herr Adams ihre Frage bejaht hatte – aus dem Zimmer. Wenige Minuten später klopfte es. „Herein?“, Herr Adams fragte sich wer das wohl sein könnte, die Schwester war doch gerade erst gegangen? Die Tür öffnete sich und Herr Williams kam ins Zimmer. „Guten Morgen, Herr Adams!“, Herr Williams begrüßte ihn und trat ans Bett, „Hatten Sie noch kein Frühstück? Soll ich Ihnen eines holen?“ Herr Adams bedankte sich für das Angebot, erklärte aber, dass Josie bereits unterwegs war. Da kam sie auch schon herein, in der Hand ein Tablett mit Brot, Butter, Belag und Tee. „Oh, hallo Herr Williams. Soll ich für Sie auch eine Tasse holen?“ Josie stellte das Tablett auf dem Nachtisch ab. „Das wäre sehr freundlich.“, antwortete Herr Adams an seiner Stelle, „Sie wollen sich doch sicher ein bisschen zu mir setzten, Herr Williams?“ Herr Williams holte einen Stuhl und stellte ihn neben das Bett. Josie holte eine Tasse und stellte sie auf den Tisch. Dann schenkte sie den beiden Herren Tee ein. Sie ging nach draußen und ließ Herrn Adams und Herrn Williams allein. Die beiden unterhielten sich über dies und das und fanden dabei heraus, dass beide begeisterte Skat-Spieler waren. Während sie so plauderten tranken sie ihren Tee. Sie aßen auch etwas. Herr Adams aß ein Brot mit Schinken und eines mit Käse.
Wie jeden Morgen.