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Wie lange sind zwei Jahre?
Wie lange sind zwei Jahre?
1948 – Sommer, zweigeschossiges Stallgebäude, langgezogen mit wuchtigem, steilen Satteldach. Tei der feudalen Schlossanlage aus dem sechzehnten Jahrhundert.
Die Feudalherren, seit den Bauernkriegen ihre Ländereien vermissend, verarmt, längst ausgezogen.
Zur Zeit beherbergt das Schloss immer noch siegestrunkene Polen und Russen. Alles, was den Anschein von Alkohol erweckt, steht hoch im Kurs. Frauen, junge Frauen, ihre Männer tot, in Gefangenschaft oder kleinlaut gedemütigt, haben es unter dem Druck der Umstände unendlich schwer.
Sechs Mietparteien im ehemaligen Rossstall des Schlosses.
Kriegswitwe mit drei halbwüchsigen Töchtern, Flüchtlingsfamilie mit Großeltern, Urgroßmutter und zwei Kindern, Reifenvulkaniseur mit Lebensgefährtin, Batteriefabrikant mit seinem Vater, Ehefrau, eine Tochter und sein Kompanion mit Ehefrau.
Im Erdgeschoss zischt und dampft es, neue Laufflächen auf alte Reifenkarkassen – ein gutes Geschäft in diesen Tagen.
Nebenan entstehen die ersten bezahlten Arbeitsplätze für eine handvoll Frauen aus dem Ort und – neue Batterien.
Vater aus Not selbstständig, seine Arbeit als Lehrer an der im Schloss untergebrachten und mit Kriegsende aufgelösten Bauschule, hatte er verloren.
Stimmung, zerschossen wie das Schloss an der schweren Holzeingangstüre des Mietshauses. Betrunkene Russen suchten den Zugang zu den jungen Müttern- mit der Kalaschnikow! Scheinbar hat das Schloss gehalten!
Vater verschwindet frühmorgens, das Fahrrad bepackt mit Werkzeug. Gegen Geld und / oder Lebensmittel repariert er Schäden an Häusern. Die Nachkriegs – ICH AG.
Zur Wohnung gehört ein gemauerter, gewölbter Keller mit eigenem Treppenabgang.
Ein riesiger LKW mit Anhänger zwängt sich durch die gekieste Schlosseinfahrt, beladen mit Tonnen von kopfgroßen, weißlich grauen Steinen. „Gebrannter Kalk“! Vater hat ihn bestellt! Bezahlt gegen Vorkasse, auch unter Einsatz des „Kopfgeldes“, was besonders schmerzte.
Fünfzehn Tonnen gebrannter Kalk vor dem kleinen Kellerlichtschacht, dazwischen eine zerbeult Mörtelwanne, etwa zwei Meter breit, drei Meter lang und maximal dreißig Zentimeter hoch.
Stirnseitig zum Keller zeigend, eine Öffnung, zwanzig auf zwanzig Zentimeter groß, verschlossen mit einem Schieber aus Stahlblech.
Mutter in der ältesten Wickelschürze, die Haare unter einem turbanartig gewickelten Kopftuch versteckt, ist nervös, barsch, nicht ansprechbar.
Über einen Schlauch läuft Wasser in die Wanne, gut zur Hälfte.
Sie beginnt, die mehrer Kilo wiegenden Steinbrocken vorsichtig in die Wanne zu schichten.
„Verschwinde jetzt endlich, das wir gefährlich!“
Wirsch und böse, ja gehetzt klingt ihre Stimme. Ich gehe zurück, eingeschüchtert, die Handlung nicht aus den Augen lassend.
Es dauert nicht lange. Dumpfes Knallen, Brodeln und nach oben platzende kleine und große Blasen des inzwischen gänzlich weiß gefärbten Wassers, kündigen den Löschvorgang an.
Die dumpfen Knaller werden heftiger und häufiger, Kalkbrocken zerbersten mit Getöse, zerfallen im Wasser. Kalkspritzer und Fontänen reichen mehrere Meter weit.
Es wird mir unheimlich. Längst stehe ich mindestens zehn Meter hinter der Wanne, ängstlich das Stakkato von zerplatzenden, zerberstenden Gesteinsbrocken verfolgend, unwissend wohin und wie lange sich dieses Inferno steigern würde.
Mutter steht dicht an der Mörtelwanne, das Gesicht halb abgewendet, Mund und Augen zugekniffen, hält die Mörtelhaue in den Händen und versucht die sich auflösenden Gesteinsbrocken gleichmäßig im Wasser zu verteilen.
„Es darf nicht verbrennen, es darf nicht verbrennen, sonst ist alles umsonst“ Sie spricht mit sich selbst, rührt den Kalkteig, über und über mit Kalkspritzern bedeckt. „Die Augen, ja auf die muss man aufpassen. „Ein kleiner Spritzer in das Auge und es ist kaputt, verätzt durch den Kalk“ höre ich sie sagen.
Entsetzt gehe ich nochmals einige Schritte zurück.
Das ist Arbeit – das ist gefährliche Arbeit
Die Dinge beruhigen sich. Mutters hektisches Arbeiten löst sich auf in gleichmäßige Rührvorgänge des nun sehr heißen Kalkteiges. Hier und dort ein leises Blubbern, die Gesteinsbrocken, hart und kantig – sie waren weg! Die Wanne war fast randvoll mit zähem, weißen Kalkteig, der meterweit Hitze abstrahlte.
Ein Wunder! Keiner der Steine, die ich je in Händen hatte, war zu einer solchen Verwandlung fähig.
Mutter zieht den Blechschieber am hinteren Ende der Wanne. Der Schwerkraft folgend, ergießt sich der Kalkbrei schlabbernd in den Lichtschacht, von dort auf den Boden des Gewölbes, verteilt sich, leuchtend wie Alabaster.
Viele solcher Wannen, deren Inhalt, finden in den nächsten Tagen den Weg in den Gewölbekeller. Pro Tag erobert der Kalk etwa zwei Stufen der Kellertreppe. Ein Frösteln im Rücken warnt mich, dem Kalkteig zu nahe zu kommen.
Die Löscharbeiten werden pausenlos vorangetrieben, abends verstärkt durch meinen Vater.
Sollte es regnen, würde der Kalk, im Freien gelagert auf der Wiese ablöschen, unkontrolliert, was ein großer Verlust wäre.
Die Anspannung meiner Eltern ist groß, auch die Hoffnung, den eingelagerten Kalk in zwei Jahren mit ordentlichem Gewinn als „Sumpfkalk“ verkaufen zu können.
Sehr früh beginne ich, das zu verstehen.
In zwei Jahren, erst dann hat der Löschkalk die richtige Qualität. Die Bauern werden damit ihre Ställe weißeln, die Stallhygiene verbessern. Sie werden ordentliches Geld bezahlen für den Eimer des abgelagerten Sumpfkalkes.
Uns wird es dann besser gehen!
Wie lange sind – zwei Jahre?
© Griffel