Wie schmeckt rot...
Süßlicher Duft im ganzen Raum. Auf dem Tisch in einer ovalen Schale liegen frisch gepflückte Äpfel aus dem Garten. Knackig, die Schale fest und ohne Risse verweilen sie in einem Körbchen mit anderem Obst. In Tuchfühlung mit orangen, violetten Früchten stechen die roten geradezu heraus. Mit einer langen Tradition ist gerade der Landwirt im Herbst über und über mit Obst versorgt. Doch dieses Jahr wird es wohl weniger Äpfel geben. Mit Sorge auf die Verschiebung der Klimaerwärmung.
Selbst Schneewittchen konnte einst der roten Backe eines saftigen Apfels nicht widerstehen, den ihr die verkleidete Königin in böser Absicht anbot. Eine spannende Erfahrung für den Apfel. Wie er verführerisch als Waffe an sein Ziel gelangte. Bei näherer Betrachtung sieht die Haut saftig, rund und appetitlich aus. Als Schneewittchen in den Apfel beißt, wird er aktiv. Geimpft mit einer schaurigen Giftmixtur auf der rotbackigen Seite und harmlos auf der sonnenentwöhnten Seite.
Ein sattes Rot vor mir lacht mich an. Während ich entspannt nach dem Mittagessen das Obst auf den Tisch stelle, rollen die Früchte wie auf der Flucht im Kreis. Vor mir sind neben den verschiedenen Obstsorten drei leuchtende von der Sonne verwöhnten süße Früchte. Einer hat es mir angetan. Nimm mich! Iss mich, höre ich ihn rufen. Wie er wohl herangewachsen ist, in welcher Umgebung? Schießt es mir durch den Kopf. Noch fällt mir die Entscheidung schwer. Obwohl dieses Rot mich innerlich wachrüttelt. Einen kurzen Moment warte ich auf einen inneren Impuls. Tief im Bauch warte ich auf ein Glucken, Gurgeln oder Grummeln. So etwas wie Hunger. Vielleicht Gelüste, mich auf diesen einen roten Apfel zu stürzen. Doch der Heißhunger bleibt aus. Bei der wöchentlichen Einkaufstour fällt mir der griechische Obstverkäufer mit seinem Adamsapfel ein: die Männer tragen ihren Apfel für alle sichtbar in der Kehle. Die Auswölbung des Kehlkopfes ist allerdings weder rot noch weiß.
Neben der Obstschale steht eine Flasche Rotwein und ein handgeblasenes Kristallglas. Das Glas ist eine Errungenschaft von einem der vergangenen Urlaube. Mit dem letzten Geld der Währung, hatte ich mir dieses Mitbringsel ausgesucht und im Gepäck verstaut. Das Glas hat seinen langen Weg nach Hause durchgehalten. Nun steht es halb gefüllt mit einem fruchtig gegärten Getränkes vor mir. Meine Augen fixieren das Glas. Mit langsamer Armbewegung ziehe ich das Glas nach oben und
beobachte den Grund des Glasinhaltes. Eine rote Flüssigkeit schwimmt herum, als ich das Glas schwenke. Verführerischer Geruch steigt mir in die Nase und verlangt zum Kosten. Schon setze ich das Glas an meine Lippen. Der rote Lippenstift der Marke "Herzblut" klebt verbunden am oberen Rand. Vorsichtig genehmige ich mir einen Schluck. Schon rutscht das Getränk der Zunge entlang, dem Zäpfchen entgegen. Hinab in den Schlund. Dabei grüble ich, "was das wohl für ein Jahrgang sein mag". Vielleicht noch einen Schluck. Dann stelle ich die Flasche in die Küche, überlege ich.
Wie es wohl sein würde, am Mittag die ganze Flasche zu trinken? Im Geiste vernebelt, auf dem Boden sitzend. Irgendwo in der Wohnung herum hängend. Mich aufrichten, nach Kräften suchen, mobilisieren, bis mein Kind mich fände. Während meine Tochter mich betrunken, auf Knien durch die Wohnung ins Bett zöge. Mich beschimpfen. Unangemessene Schimpfwörter um die Ohren schmettern. Erklärungen einfordern. Ich nach Ausflüchten suchend alles von mir weisen. Warum es ausgerechnet jetzt Alkohol sein musste? Mein Mann würde später nach Hause kommen, verwundert ohne eines Blickes an mir vorbeilaufen. Verächtlich drehe ich die Flasche herum und lese das Ettiket. Aha, kein Burgunder sondern ein Muskatttrollinger Rosé. Er würde die Bestände prüfen, wie viele Flaschen noch im Regal lägen. Mir Empfehlungen anbieten, mich nicht mehr gehen zu lassen. Wer weiß, sogar aus der gemeinsamen Wohnung verweisen. So ein schöner Rotwein aus dem Jahr 2012. Ein durchwachsenes Weinjahr. Die Sonne mit sparsamen Strahlen doch mehr als in diesem Jahr. Eine angesehene Genossenschaft, ansässig hier um die Ecke. Auf der Rückseite steht noch Deutscher Qualitätswein Erzeugerabfüllung. Es ist ja auch gar kein Liter, nur 0,75 l, also viel weniger. Und 12,0% Alkohol baut ja schnell wieder ab. Noch beim letzten Schluck aus dem Glas, wird der Schlüssel in der Haustüre im Schloss herumgedreht. Mein Mann kommt ins Esszimmer und fragt: "Na, hast du den Wein endlich probiert, damit wir bestellen können!"