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Wie sich der Kreis statt dessen schließen sollte
Es ist nie zu spät, aufzuhören.
Tanja, du wirst zwar nicht mehr erleben, wie ich mich bessere, aber verdammt nochmal, es ist noch nicht zu spät einen Schlusstrich zu ziehen.
Ich habe ihnen heute gesagt, dass ich gehen werde. Wann ich denn zurückkommen würde, wollten sie wissen.
Niemals mehr, antwortete ich mit einem Lächeln im Gesicht. Ich habe schon zu lange genug von allem.
Als ich das Gebäude verließ war mir, als hätte ich ein Gebirge hinter mich gebracht, das auf meiner Seele gestanden hat.
Krachend fielen seine Felsen zu Boden, und ich fühlte mich erleichtert. Nicht leer, nein, aber von dem ganzen unnützen Ballast befreit.
Ich fuhr mit der Bahn nach Hause, packte die wichtigsten Sachen in den alten Lederkoffer, und sah nicht zurück, als ich die Tür hinter mir schloss.
Ich nahm mir ein Taxi zum Flughafen. So kurzfristig bekam ich nur ein teures Ticket, aber Geld spielte ohnehin keine Rolle mehr.
Jetzt sitze ich hier in der Maschine und denke viel über uns nach. Mehr wahrscheinlich, als ich es in der Vergangenheit getan habe. Immer wieder flackern Bilder von dir auf, reglos, wie geistige Photographien, die ich vor langer Zeit einmal geknipst habe.
Auf einigen lächelst du, doch auf den meisten bist du ernst. Deine Resignation hat sich schleichend entwickelt, sie stand nicht einfach eines Tages vor der Tür.
Eigentlich ist es seltsam, wie ein Auseinanderleben stattfindet. Man schwört sich anfangs, dass einem so etwas nie passiert, und weiß im selben Augenblick um die Selbstlüge.
Die Stewardessen kommen mit ihren Wägelchen vorbei. Es gibt Tomatenschnitzel. Mit diesem Essen verbinde ich nichts. Lieber hätte ich etwas, was mich an dich erinnert.
Es ist kalt in Spanien, und es regnet. Die Buslinie ist noch die gleiche wie damals, nur der Fahrer ist ein anderer. Das Dorf selbst hat sich kaum verändert, wenn es im Winter auch düster und verlassen wirkt.
Hier stehe ich nun, den Griff des Koffers fest umschlossen, unsicher umherblickend, wie ein verloren gegangener Tourist.
Langsam schlendere ich die schmale Straße entlang. Das Geräusch des hinterher rollenden Koffers irritiert mich, also lasse ich ihn einfach los. Mitten auf dem staubigen Asphalt bleibt er stehen.
Ein Gewitter zieht auf, als ich an der kleinen Pension vorbeikomme. Mein Plan hat sich kurzfristig geändert. Ich werde hier nicht übernachten. Keine Albträume mehr.
Als ich mich der Schlucht nähere, stelle ich fest, dass viele Bäume gefällt wurden. Mein Herz macht einen Sprung. Hoffentlich steht unserer noch.
Ja, er ist noch da, viel größer inzwischen. Ich setze mich an den Rand der Schlucht, den Schatten unseres Baumes im Rücken, und lasse die Beine hinunterbaumeln. Ich schließe meine Augen, und diesesmal sehe ich nur die Bilder, auf denen du lächelst. Ein Donnern erschrickt mich. Als ich die Augen öffne merke ich, dass ich die Arme vor der Brust verschränkt habe. Aber sie greifen ins Leere. Da ist niemand mehr, den sie halten können, außer mir selbst.
Ich bin ich, noch immer. Es würde keinen Sinn machen zu springen. Dein Tod hat ebensowenig Sinn gemacht, warum sollte ich den Kreis nun auf diese Weise schließen?
Vorsichtig stehe ich auf, gehe auf den Baum zu, und berühre seine Rinde.
"Machs gut, Liebe meines Lebens."
Warum ich gerade jetzt nicht weine, gerade in diesem Moment keinen Schmerz empfinde; ich habe nicht die geringste Ahnung.
Du bist mir für einen Augenblick ganz nahe, und ich spüre, dass ich endlich loslassen muss. Das Leben geht weiter, immer.
Nach dem Rückflug nehme ich mir wieder ein Taxi. Erst in diesem Moment fällt mir auf, dass ich den Koffer in Spanien gelassen habe.
Zu Hause lege ich mich ins Bett und schlafe sofort ein. Zum ersten Mal seit drei Jahren habe ich keinen Albtraum.
Am nächsten Morgen melde ich mich arbeitslos. In der Stadt treffe ich Sandra, eine Kollegin, mit der ich letzte Woche noch im selben Büro gesessen habe.
Als sie mich erkennt, winkt sie übertrieben, und stolpert über einen herausragenden Bordstein. Ich muss wegen ihrer Tollpatschigkeit grinsen. In der Firma hat sie einmal das Notebook vom Chef fallen lassen.
"Na Sie, verschwinden einfach so, ohne einen Ausstand zu geben?"
"Hi Sandra, werde ich stark vermisst?"
"Also, was für eine Frage. Ohne dich ist es ganz anders. Es sind alle ziemlich ratlos, was dich betrifft. Martin hat gesagt, dass du nach Spanien fliegen willst."
"Da war ich. Aber ich bin ... zurückgekommen."
"Dann wirst du dich jetzt zum Kaffee einladen lassen und mir sagen, was los ist, und tust du es nicht, langweile ich dich mit lauter Bürokram."
Sie lächelt, und ich merke, dass ich in diesem Moment ein Photo von ihr schieße.
"Es ist gerade etwas ungünstig, ich wollte nachher noch Bewerbungen schreiben."
"Schade. Ich wollte dich auch nicht überrumpeln. Sorry."
Ihr Lächeln macht einem enttäuschten Gesichtsausdruck Platz. Ich will sie so nicht vor meinem geistigen Auge sehen. Du lebst nie im Jetzt, nur in der Zukunft, hat Tanja immer gesagt.
"Aber die kann ich auch morgen noch schreiben. Gehen wir."
Vorher ist mir nie aufgefallen, dass Sandra eine schöne Frau ist. Ich fand sie immer bloß hübsch.
Vielleicht ist es nötig, die Dämonen der Vergangenheit ruhen zu lassen.
Ich will mich bessern, mehr Zeit für die Menschen haben, die mir wichtig sind.
Das ist mein Vermächtnis an dich, Tanja.
Als wir losgehen, hakt Sandra sich bei mir ein. Sie erzählt aufgeregt von ihrem Tag.
Ich höre ihr zu.