Mitglied
- Beitritt
- 26.09.2006
- Beiträge
- 355
- Zuletzt bearbeitet:
- Kommentare: 23
Wie Spaghetti aus der Dose auch blutige Eingeweide sein können
Der Bahnsteig quillt über vor müden Menschen. Kaum einer lächelt und ein paar ausgelassene Teenager gehen den Leuten gehörig auf die Nerven. Sie sprechen eine Mischung aus Deutsch und Türkisch, oder dem, was ich dafür halte, und ernten giftige Blicke von den Umstehenden. Plötzlich wendet sich ein angegrauter Mittdreißiger an mich.
»Ich schwör, Alter, dieses Pack kann doch nicht mal reden«, imitiert er die Jugendlichen.
»Na ja«, sage ich, »sind doch Kinder. Wir haben in dem Alter immer schärft sich gesagt, oder wetten und sind den Alten damit auf den Keks gegangen.«
»Die können ja machen, was sie wollen, aber in der Öffentlichkeit sollen sie gefälligst diesen Scheiß bleiben lassen, kommen zu uns, wollen hier leben und können nicht einmal unsere Sprache, wo sind wir denn?«
»Kommen zu uns, ist gut. Die wurden doch hier geboren.«
Ich habe keine Lust, diesen Blödsinn länger anzuhören und stimme ihm um meiner Ruhe willen zu, dass ihr Geschrei nervt.
Endlich kommt die U-Bahn. Alle schieben sich auf die Türen zu, lassen die herausströmenden Fahrgäste nur widerwillig an sich vorbei. Der Kerl, der mich angesprochen hatte, steht im Hintergrund, mischt sich nicht in das Gedränge, fängt aber plötzlich an, die Jugendlichen zu beschimpfen.
Die Türen schließen sich. Ein kleiner Junge, der neben seiner Kopftuch tragenden Mutter sitzt, steht auf und berührt mich an der Hand.
»Sitzen Sie«, sagt er und macht mir Platz.
»Das ist lieb von Dir, aber die paar Stationen kann ich auch stehen«, sage ich.
Der Junge ist darüber wohl nicht glücklich und schaut grimmig vor sich hin, setzt sich aber nicht wieder. Er will doch nur freundlich sein, denke ich dann und nehme doch Platz. Er lächelt.
Meine Gedanken springen, finden nirgends Halt. Erlebnisse aus meiner Schulzeit formen unscharfe Bilder vor meinem inneren Auge. Langsam werden die Bilder schärfer, als ob jemand am Fokus gedreht hätte und nach ein paar Sekunden erinnere ich mich an eine Episode, die ich damals als sehr unangenehm empfunden habe. Sie läuft wie ein Film vor mir ab.
Unsere Internatsgruppe war in zwei Lager aufgeteilt: Wir, ein eingeschworenes Team, das wie Pech und Schwefel zusammenhielt und ... die anderen, die Außenseiter. Wir waren beinahe mit dem Abendessen fertig, rissen Witze über unsere Lehrer, unterhielten uns über die neue Scheibe von Guns 'n' Roses und deren ekelhaftes Coverbild, dessen Ähnlichkeit mit dem heutigen Abendessen erstaunlich war. Blutige Innereien, die in Wahrheit Spaghetti aus der Dose waren.
Krachend flog die Tür auf. Robert. Wie so oft war er spät dran. Etwas stimmte nicht, das wussten wir alle auf Anhieb. Als hätte Robert einen Dimmer betätigt, stahlen sich gleichzeitig die Reste des Sonnenlichts vom Himmel, verkroch sich die Gemütlichkeit des wohlverdienten Feierabends in das Waldstück unweit des Internats.
Alle waren verstummt. Alle hatten darauf gewartet, was Robert tun würde, starrten ihn an. Was es da zu glotzen gäbe, hatte er gefragt, warum alle so still seien, wollte er wissen. Keiner gab eine Antwort.
Robert setzte sich seinem Zimmergenossen Thomas gegenüber und schaufelte umständlich Spaghetti auf seinen Teller. Scheiße, hatte Robert gesagt, denn wir hatten ihm von der Fleischsoße nichts übrig gelassen, und er warf den Schöpflöffel in den Topf zurück. Dabei spritzte ein kleiner Rest auf sein Hemd. Alle hatten es gesehen, nur ihm selbst war es nicht aufgefallen. Das war so typisch für ihn und ich bekam Mitleid und fühlte mich schuldig, weil ich zwei Portionen gegessen hatte. Er war harmlos, immer freundlich, hatte ein irgendwie kindliches Lachen, für das ihn die Mädchen immer so süß fanden. Das reichte natürlich nicht aus, um mit ihm gehen zu wollen oder darauf scharf zu sein, von ihm geküsst zu werden. Die Mädchen wollten aufmüpfige Draufgänger. Dafür verhielt er sich zu angepasst, ließ sich alles gefallen, auch von Lehrern, die ihn damit aufzogen, dass er oft langsam war. Die Klassenkameraden schwiegen dann immer und wenn die Lehrer nach einer Weile bemerkten, dass sie etwas Falsches getan hatten, verstummten sie, standen peinlich berührt in der Gegend herum, um nach endlosen Minuten, als wäre nichts gewesen, mit dem Unterricht weiterzumachen. Man musste Robert beschützen, fand ich. Er war einer von denen, für die man die Schuld für seine vergessenen Hausaufgaben auf sich nehmen würde, hätte man mehr Mut, aber er vergaß sie ja nie, die Hausaufgaben. Er war ein Streber, fanden wir. Trotzdem schrieb er schlechte Noten.
Als wolle er ihnen Schmerzen zufügen, stocherte Robert in seinen trockenen Spaghetti herum. Immer stärker hieb er darauf ein, zelebrierte ein immer wütenderes Gemetzel und knallte schließlich die Gabel quer über den Tisch. Wir, die Schaulustigen, zuckten zusammen. Roberts Gesicht war rot geworden. Er öffnete seinen Mund und ließ einen Tsunami angestauter Aggressionen über Thomas hinwegschwappen. Thomas' rechte Hand lag auf dem Tisch. Nach und nach ballte sie sich zu einer Faust. Schuldbewusst und mit gesenktem Kopf nahm er den Ausbruch hin, als hätte er seit langem damit gerechnet. Er wäre ein Dreckschwein, hatte Robert gesagt, ein vulgäres Arschloch, eine stinkende Sau, die sich in ihrer eigenen Scheiße suhle. Thomas rührte sich nicht, er sagte nichts. Niemand sagte etwas, auch nicht die Erzieherin.
Ich glaube, daran gedacht zu haben, etwas tun zu müssen. Minutenlang steigerte sich Roberts Wutausbruch. Auf jedes schlimme Schimpfwort folgte ein neues, noch schlimmeres und jedes ließ Thomas ein wenig kleiner werden. Immer mehr unangenehme Details spie Robert über Thomas in unsere Runde. Er sei ein vulgäres Schwein, röche wie ein Krokodil, das noch nie davon gehört hätte, dass man sich zu waschen hat. Das Trommelfeuer wollte kein Ende nehmen. Robert wurde lauter und lauter, schrie bald wie ein Verrückter. Robert, unser Strahlemann, dem sonst nie ein böses Wort über die Lippen gekommen war.
Schließlich hatte ich genug. Keiner hatte etwas gesagt, keiner hatte eingegriffen. Es war doch nur Thomas, der Einzelgänger, der sich vor dem Fernseher immer die Hand unter den Pullover steckte und in seinem Bauchnabel pulte. Das hatte mir einer von den anderen gesagt. Eklig! Thomas, der immer treudoof alles gemacht hat, was man ihm gesagt hatte. Heute wäre er mal dran mit Bezahlen, hatte damals unsere Erzieherin gewitzelt und er hatte dann tatsächlich die Zeche für zehn Leute bezahlt, damals, im Biergarten. Wie blöd muss man sein? Viel wichtiger aber war mir die Frage, wie man diese Naivität so hatte ausnutzen können? Vielleicht, nein, mit Sicherheit wollte Thomas nur dazugehören und cool sein, sich aus der Einsamkeit freikaufen, mit seinem gesparten Taschengeld, das er ansonsten nur für billige Romanheftchen verschleuderte.
Diese Geschichte verfolgt mich. Nicht ununterbrochen, alle paar Monate mal, zum Beispiel wenn ich in der U-Bahn Leute sehe, die andere beschimpfen. In solchen Situationen frage ich mich, ob mich meine Erinnerung trügt. Nachts, wenn ich im Bett liege und darüber nachdenke, ob meine heutigen Überzeugungen damals schon funktioniert haben, drehe ich mich von einer Seite zur anderen, zerwühle meine Decke, bis mir kalt wird, und überlege dabei, was wohl aus Thomas geworden ist. Je länger meine Gedanken darum kreisen, desto mehr habe ich das Bedürfnis, ihn anzurufen. Ich weiß nicht, ob ich etwas mit ihm zu reden wüsste, aber so gerne würde ich ihn fragen, ob meine Erinnerung der Wahrheit entspricht und ich Partei für ihn ergriffen habe. Für Thomas, mit dem ich nichts zu tun hatte und das auch nicht unbedingt wollte. Eigentlich konnte ich mir schon denken, warum Robert so ausgerastet war. Thomas hatte es mit der Körperpflege nie sonderlich genau genommen, sowas ist schwer zu ertragen, daran gibt es nichts zu rütteln. Aber musste man ihn dafür vor allen anderen zur Schnecke machen? Und immer wenn ich über die Sache nachdenke, wünsche ich mir, dass er mir meine Zweifel nimmt und bestätigt, dass ich auf seiner Seite, sein Retter gewesen bin, sein Held. Das würde mir helfen, denn dann müsste ich beim Gedanken an die Situation nicht mehr zusammenzucken, sondern könnte sie hinter mir lassen.
Nach einer Weile schweifen meine Gedanken ab. Thomas und Robert verblassen in meinen Gedanken und der Wunsch, Thomas' Telefonnummer herauszufinden, verlässt mich wieder. Ich lasse es dann dabei bewenden. Bestimmt hatte er es längst vergessen und ich bin mir sicher, damit nur bittere Erinnerungen in ihm zu wecken. Es ist wohl besser, das Vergangene Vergangenheit sein zu lassen. Wenn nur diese Ungewissheit nicht wäre.
© 2008 by Georg Niedermeier, München.