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Wiedergeburt

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20.10.2004
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Wiedergeburt

Ich war tot.
Ich war tot, doch befand ich mich nun kurz vor einer Wiedergeburt.
Erst dachte ich „O je, jetzt geht das wieder von vorn los, dieses verdammte Leben, dieses ewige Suchen nach dem Sinn im Ganzen, dieses...“ – doch mir fiel in dem Moment nichts weiter ein. Es war nur eine tiefe, uralte Enttäuschung in mir, unauslöschlicher Weltschmerz.
Ich wollte mich anschauen, eine Hand vors Gesicht halten, um wenigstens schon mal die Hautfarbe zu betrachten. Aber ich konnte keinen Knochen rühren, alles haftete eng aneinander, fast unbeweglich.
Einer plötzlichen Eingebung folgend, begann ich mit dem Gesicht gegen das Dunkel vor mir zu schlagen. Das heißt, eigentlich war es ein fleckiges dunkles Licht, nach dem ich schlug oder hackte.
Ich steigerte mich so sehr in diese Hin-und-Her-Bewegung, dass mich nach einer Weile erfolglosen Hackens Todesangst überkam. Mit aller mir zur Verfügung stehenden Kraft drängte ich aus dieser Hülle, die mich gefangen hielt.
Dann, endlich, machte es „klick!“, und die Wand bekam vor mir einen feinen Riss, durch den helles Licht drängte. „Geh ins Offene, ans Licht, befreie dich!“, schrie es in mir. Mit letzten Kraftreserven schlug ich ein Loch in die Hülle, das Fenster zum Leben öffnete sich.
Als meine verklebten Augen sich an die Helligkeit gewöhnt hatten, erkannte ich vor mir vier pechschwarze Gesichter, die mich frech angrinsten. „Na, auch schon da?“, krächzten sie.
„Ich bin ein Vogel!“, durchfuhr es mich. „Das kann ja heiter werden.“
Meine Erinnerung an früheres Wissen sagte mir, dass es für ein Küken zwar recht kraftzehrend ist, die Schale zu durchdringen, doch dass die meisten es auch schaffen, wenn die Umweltbedingungen halbwegs stimmen. Also holte ich erst mal tief Luft, die jetzt schon kühl und erfrischend in mein Ei wehte. Was hätte das Ganze denn auch für einen Sinn, wenn hier schon wieder Schluss wäre, schlussfolgerte ich aus der gebotenen Situation. Also frisch ans Werk und gehackt und geplustert und gezwängt und gedrängt, und schließlich durch die enge Öffnung hinausgelangt.
Da lag ich nun japsend auf der Seite, auf welche ich gerade gefallen war. „Hahaaa! Hahaaa!“ krächzte es höhnisch rings um mich.
„Ihr habt gut lachen“, versuchte ich in die Gegenoffensive zu kommen, „sicher habt ihr heute schon die zweite Mahlzeit hinter euch, so fett wie ihr da hockt!“
„Haa, wer zu spät kommt, den bestraft das Leben!“, sagte so ein hässlicher Bruder und ließ ungeschickt etwas aus dem Hinterteil über den Nestrand nach draußen fallen.
„Klugscheißer!“ fiel mir dazu nur ein.
Ein riesiger schwarzer Schatten fiel auf mich und begann zu zetern: „Hehe, zu spät kommen, und dann gleich seine Geschwister ärgern! Hier, friss und sei still!“
Das war Mutter.
Mh. Alles war wie immer. Ob Mensch oder Vogel, egal. Es liegt irgendeine rätselhafte Ordnung im Weltgeschehen, die mich wahnsinnig macht. Ich beschloss darum, künftig zu schweigen und mir so schnell wie möglich eine eigene Bleibe zu suchen. Eine Frage wagte ich noch zu stellen: „Wo ist eigentlich Vater?“ Konnte ja sein, dass der eine nettere Person abgab.
„Den habe ich rausgeschmissen! Hat ständig nach den Tauben geschielt und mit der Nachbarin gevögelt, wenn ich Futter holen war, der geile Hahn! Und du friss, sonst fliegst du gleich hinterher!“
Ich erschrak. Aus dem Nest geschmissen! Na ja, wenigstens kann er wohl fliegen. Ich beneidete ihn.
Die anderen Küken hatten mit offenen Schnäbeln dem kurzen Gespräch gelauscht. Ich würgte still meinen Brocken hinunter und schlief danach erst mal.
Mitten in der Nacht wachte ich auf. Vom Himmel grinste mich der leicht debil wirkende Mond an. Aber das kannte ich schon von früher. Ich seufzte zweimal tief, ganz tief.
Die nächsten Wochen würden hart werden. Aber lieber hart überleben, als hart gekocht werden, sagte ich mir, immer noch ein wenig wie ein Ei fühlend.

Eines Tages war es so weit. Mutter war mal wieder Futter holen, die anderen dösten schläfrig vor sich hin.
Ich schlich vorsichtig auf Krallenspitzen zum Nestrand, um ja keinen Zweig knacken zu lassen. Ich erklomm ungestört den Rand, und sah dann über die wundervoll weite Welt. Ich dachte nicht an Bussarde, Adler, Füchse oder wildgewordene Jäger mit Schrotflinten. Ich sah ringsum vereinzelt Bäume, nicht weit entfernt einen Fluß, und am Horizont etwas, das wie eine Stadt wirkte.
„Also, eh ich an Langeweile oder Boshaftigkeit meiner Familie sterbe, suche ich das Weite. Macht’s gut, ihr Vielfrasse und Klugscheißer, mich seht ihr vielleicht nie wieder,“ flüsterte ich. Ich stieß ab, breitete die Flügel aus, trudelte, schlug mit den Flügeln, schwankte, hielt kurz inne, segelte ein Stück, bekam ein Gefühl für mich selbst, für die Luft und für die Freiheit um mich herum, und ich begann vorsichtig meine ersten Flügelschläge in Richtung Selbständigkeit.
Natürlich konnte ich nicht sehen, dass vier schwarze Augenpaare mich sehnsüchtig verfolgten, bis ich ihnen entschwunden war.

 

Aber lieber hart überleben, als hart gekocht werden
:thumbsup:
einen Fluß
Fluss
nie wieder," flüsterte ich
Komma nach " und nicht davor
Hi Pavarotti,
deine Geschichte habe ich gelesen. Hab grad die Kategorie vergessen :Pfeif: aber ich denke, Philosophie wär angemessen (wenns net schon da is).
Dem Sohn "fällt" zuhause "das Dach auf den Kopf", er verlässt die Familie, um ein eigenes Leben anzufangen.
Schöne Geschichte.
:heilig:

 

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