Wiedergeburt
„Mach nichts falsches“ und ähnlich intelligente Sätze schreien sie zu mir hinauf, „Sei doch nicht dumm“
Ich lache, lasse die Beine baumeln, von hier aus sehen sie aus wie Ameisen, klein und unbedeutend, ich schwebe über ihnen allen. Ein leichter Wind weht, bringt den Geruch des Meeres mit sich, sofort ziehen Erinnerungsfetzen vor meinen Augen auf: Ich als kleines Kind, den Sand zwischen den nackten Zehen, ein blaues Glas zwischen meinen Händen. Die Stimme der Frau, wie sie mich anschreit und mir das Glas wegnimmt. Denn ich könnte mich ja scheiden. Tränen laufen über meine Wangen, genauso salzig wie das unendliche Meer vor mir. Doch ich wische sie nicht weg, lasse sie einfach laufen und in den Sand tropfen. Von jetzt an werde ich immer Teil des Meeres sein. Sie schreit weiter, schmeißst das Glas zurück ins Meer. Ich schaue hinterher, irgendwie froh, denn jetzt ist es wieder sicher. Bis es wieder an Land getragen wird, abgeschleift durch all den Sand, und vielleicht noch schöner…
Jemand steht jetzt hinter mir. Ich drehe mich halb zu ihm um, blitz da Angst in seinen Augen auf? Wir kennen uns ja nicht mal. Er hat schönes Haar und braue Augen, wie Schokolade. Aber von der bekommt man Karies und andere unangenehme Dinge, und er bewirkt vermutlich auch so etwas in der Art.
Er wirkt so bedrückt, etwa wegen mir? Er sagt kein Wort, bleibt einfach da stehen. Ich drehe mich wieder um, nicht gegen ihm bin ich hier. Die Sonne wird bald aufgehen, ich warte nur auf sie. Auf den neuen Tag, neue Tränen. Und warte, achte nicht auf die Ameisen unter mir, die immer mehr werden, höre nicht auf die Stimmen, die der Wind zu mir hinaufträgt. Es ist nicht wichtig, denn sie verstehen mich eh nicht und vermutlich will ich von ihnen auch nicht verstanden werden.
„Vielleicht sollten wir heruntergehen …“, auch seine Stimme ist wie Schokolade, weich und dunkel, sie könnte einen süchtig machen.
„Vielleicht will ich das aber nicht …“
Ich weiß, dass das zweifellos schroff klingt, aber will ich allein sein. Ich warte doch.
Er kommt näher, ich höre seine Schritte auf dem Kies knirschen. Ich drehe mich nicht um, er ist mir egal.
Sanft legt er mir seine Jacke um die Schultern, wohl damit ich nicht friere in meinem dünnen Nachthemd. Nett von ihm, seine Hände berühren kurz meine Schultern und dann spüre ich die Schwere, sie richt nach Schweiß und Salz, ich mag den Geruch. Fast bin ich versucht danke zu sagen, aber ich will ja nicht reden. Do steht er nur wenige Zentimeter hinter mir und schweigt, aber ich weiß, dass er da ist. So will ich nicht warten, er soll gehen, denn mit ihm wird es nicht das Gleiche sein.
„Warum gehst du nicht einfach?“
„Weil du dann ganz allein hier bist und wenn Menschen allein sind, machen sie oft unüberlegte Dinge…“
Wieder drehe ich mich zu ihm herum und lache: „Du glaubst also, dass ich fliegen will…“
Er blickt mir stur in die Augen. „Du sitz am Abgrund, nur in einem Nachthemd bekleidet, das lässt nicht viele Möglichkeiten offen, oder?“
Ich schüttle den Kopf und meine Haare flattern im Wind. „Wenn ich gehen wollte, würde ich einfach ins Meer hinaus schwimmen. Immer weiter und weiter, bin ich nicht mehr kann und dann von den Wellen unter Wasser gezogen werden würde. Wie ein stürmischer Liebhaber …“
Meine Stimme hört sich sehnsüchtig an, ich kann nichts dagegen machen und will es eigentlich auch nicht. Es ist kann mir egal sein was er denkt.
„Dann können wir ja gehen“
„Ich will die Sonne aufgehen sehen. Mehr nicht oder eigentlich schon, aber das kann ich hier nicht…“
„Du siehst dir die Sonne an und dann gehen wir runter. Okay?“
„Ja“, sage ich, „aber nur wenn du dich neben mich setzt.“
Ich sehe sein zögern. Er hat Angst. Ich strecke ihm die Hand hin und er nimmt sie. Sie ist kalt, kälter als meine. Ich lächle und ziehe ihn zu mir. Dann sitz er neben mir, ich schlinge meinen Arm um seine Hüfte und lehne meinen Kopf an seine Schulter. Erst ist er wie erstart, doch dann entspannt er sich. Unsere Körper passen zueinander wie zwei Puzzlesteile. So sitzen wir da und sagen nichts. Ich warte und so wartet auch er.
Goldene Schatten am Horizont deuten auf die Ankunft der Sonne hin. Die ersten Strahlen bahnen sich ihren Weg durch die Dunkelheit, sie sind die blinden Vorboten des goldenen Himmelskörpers. Stück für Stück erscheint mehr von ihr. Fast kann ich ihre Wärme spüren, aber nur fast, denn sie ist noch nicht stark genug. Sie muss erst an Kraft gewinnen, wie jeden Tag von neuem.
Ich hebe den Kopf und betrachte sein Profil, er ist ganz vom Anblick des Kampfes gefangen.
Er bemerkt meinem Blick, erwidert ihn, fragt: „Warum der Sonnenaufgang?“
„Weil er nicht so traurig wie der Sonnenuntergang ist. Er ist wie eine Geburt, der Kampf um von neuem auf die Welt zu kommen, dass Ende ist genauso schön, aber immer zugleich ein wenig traurig, auch wenn dann die Sterne leuchten.“
„Ich verstehe …“
Und ich weiß, dass es sein ernst ist. Er versteht mich. Und das löst ein warmes Gefühl in mir aus, ein kribbeln überall in meinem Körper.
Ist es Liebe? Ich bin mir nicht sicher, aber es ist schön. Er steht auf, hat keine angst mehr vor dem Abgrund vor uns und zieht mich mit sich hoch. Arm in Arm gehen wir zur Tür, drehen uns im Stillen einvernehmen herum und werfen einen letzten Blick auf die Sonne, die jetzt stark ihren alten neuen Weg am Firmament vorsetzt. Dann steigen wir die Treppen herunter.
Und ich weiß, dass es nicht für ewig seien wird, aber in diesem Augenblick ist es alles was ich habe, alles was ich will, auch wenn mir das vor wenigen Minuten noch nicht bewusst war. Alles wird vergehen und möglicherweise wiedergeboren werden, verändert, anders, und vielleicht stärker und schöner.
Auch ich werde in diesem Augenblick neu geboren …